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Katastrophe auf dem Rummelplatz

Seit seinem ersten großen Triumph im Theater in der Josefstadt 1913 ist "Liliom" eines der meistgespielten Stücke der Theaterliteratur überhaupt. Bei Barbara Freys aktueller Inszenierung in Wien ist Nicholas Ofczarek als Liliom ein Ereignis. Doch nicht nur er beeindruckte das Publikum.

Von Günter Kaindlstorfer |
    Es eine stille, poetische Inszenierung, die Barbara Frey da am Burgtheater realisiert hat. Keine Spur von lärmender "Komm-auf-die-Schaukel-Luise"-Romantik, wie man sie noch von Hans Albers selig kennt, einem der legendärsten "Lilioms" aller Zeiten. In Alfred Polgars deutschsprachiger Bearbeitung des Stücks, an die man sich im Burgtheater hält, agiert Liliom als öliger Ringelspiel-Animateur nicht in Budapest, wie bei Molnar, sondern im Wiener Prater. Nicholas Ofczarek, einer der Superstars der Burg, gibt den Liliom, wie es sich gehört, als schmierig-grobschlächtigen Vorstadt-Hallodri:

    LILIOM: "Darf ich die Mädeln nicht mehr um die Taille nehmen? Soll ich vielleicht jedes Mal um Erlaubnis bitten, wenn ich eine anrühren will?"
    FRAU MUSKAT: "Sie können anrühren, wen Sie wollen, so viele sie wollen, von mir aus können Sie auch mit jeder machen, was Sie wollen. Aber DIE DA darf gar nichts!"

    "Die da", das ist das Dienstmädchen Julie, das sein Herz unglücklicherweise an den Prater-Strizzi Liliom verliert. Katharina Lorenz spielt diese Julie grandios – als zartes und zerbrechliches, zugleich aber auch als unglaublich starkes Geschöpf: ein Inbild weiblicher Co-Abhängigkeit, das vom geliebten Misshandler einfach nicht loskommt.

    Szenen-OT:
    LILIOM: "Schrei nicht!"
    JULIE: "Ich schrei ja gar nicht."
    LILIOM: "Na also."

    Dass Molnars märchenhaftes Sozialdrama am Burgtheater zum intensiv akklamierten Ereignis wird, daran hat auch Bettina Meyers poetisches Bühnenbild seinen Anteil. Meyer hat eine stimmungsvolle Jahrmarktslandschaft mit vielen brennenden Glühbirnen auf die Bühne gezaubert, mit "Wilder Maus" und Todesrutsche und allem, was man sich an kleinbürgerlich-sentimentalem Glamour nur so wünschen kann.

    Seit seinem ersten großen Triumph im "Theater in der Josefstadt" 1913 ist "Liliom" eines der meistgespielten Stücke der Theaterliteratur überhaupt, weiß Gott nicht nur im deutschen Sprachraum. Worin liegt das Geheimnis dieses Stücks? Nicholas Oczarek hat so seine Vermutung:

    ""Dass es einfach ein Geheimnis hat, und zwar eines, das definitiv nicht zu lüften ist. Man geht ja aus diesem Abend nicht raus und ist erlöst, denn das Stück bietet keine Lösungen, bietet auch keine Katharsis, zeigt nur ein Stück Menschsein, und das ist nun einmal, auch für die Wissenschaft, nicht lösbar, so wie auch die Liebe nicht erklärbar ist."

    LILIOM: "Machst ein G‘sicht, als ob der Liliom jetzt betteln gehen müsst, nur weil die gnädige Frau Muskat ihn hinausgeworfen hat. (BRÜLLT.) Wie du den Liliom da so anschaust, ist er schon vor vorneherein aus dem Etablissement hinausgeworfen worden. Ich wird’ eine Frau Muskat nicht imponieren, die ist mir viel zu gering."

    JULIE: "Was werden Sie denn jetzt anfangen, Herr Liliom?"

    LILIOM: "Jetzt werd’ ich vor allem einmal a Bier trinken. Merk dir das: auf jeden Schrecken ein Bier!"

    Nicholas Ofczarek als Liliom ist ein Ereignis. Er gibt den legendären Rummelplatz-Rekommandeur als riesenbabyhaften Prater-Rambo, als selbstmitleidig-aggressiven Malefizkerl, der binnen einer Sekunde von öligstem Aufreißer-Schmäh auf vorstadtschlägerhafte Brutalität umschalten kann.

    Überhaupt, die Schauspieler. Beeindruckend auch Barbara Petritsch als verblühte Ringelspielbesitzerin Frau Muskat: eine lüsterne Megäre, die dem Kiezbrutalo Liliom rettungslos verfallen ist. Eine Klasse für sich auch Peter Matic als himmlischer Beamter, der den Selbstmörder Liliom nach einem gescheiterten Geldbotenüberfall verhört und ihn, nach 16-jährigem Fegefeuer, noch einmal für einen Tag auf die Erde zurückschickt, auf dass er an seiner Liebsten und der gemeinsamen Tochter gutmache, was er als Krimineller und Misshandler an ihnen verbrochen hat. Leider, leider: Auch diese Chance kann Liliom, der tollpatschige Hooligan, nicht nutzen. Wieder rutscht ihm die Hand aus, diesmal gegen die eigene Tochter. Es hilft nichts: Der Mann bleibt ein Idiot, auch hundert Jahre, nachdem Franz Molnar ihn erfunden hat. Trotzdem, man schaut ihm gern beim Scheitern zu, vor allem, wenn eine Regisseurin ihn so einfühlsam in Szene setzt, wie Barbara Frey es in Wien getan hat.