Katastrophenschutz und Barrierefreiheit
Wie Menschen mit Beeinträchtigungen besser gewarnt werden können

Warnungen vor Unwetter, Großbränden oder anderen Gefahrenlagen müssen möglichst viele Betroffene erreichen - auch Menschen mit Beeinträchtigungen. Gerade sie kritisieren immer wieder, dass Warn-Apps nicht barrierefrei sind. Das soll sich ändern.

26.08.2021
    Unwetter- und Katastrophen-Warnapps NINA, KATWARN, WarnWetter auf einem Smartphone
    Apps können warnen und Hilfe herbeiholen - aber an der Barrierefreiheit mangelt es noch (Imago / Friedrich Stark)

    Was versteht man unter Barrierefreiheit?
    Warn-Apps sollen "barrierefrei" sein. Aber was heißt das eigentlich? Unter Barrierefreiheit versteht man den umfassenden und uneingeschränkten Zugang aller Menschen zu allen von Menschen gestalteten Bereichen des öffentlichen Lebens und somit die uneingeschränkte Teilhabe aller an der Gesellschaft. Laut §4 BGG ist Barrierefreiheit gegeben, wenn "bauliche und sonstige Anlagen, Verkehrsmittel, technische Gebrauchsgegenstände, Systeme der Informationsverarbeitung, akustische und visuelle Informationsquellen und Kommunikationseinrichtungen sowie andere gestaltete Lebensbereiche" für Menschen mit Beeinträchtigungen ohne besondere Erschwernis und "grundsätzlich ohne fremde Hilfe auffindbar, zugänglich und nutzbar sind".
    Ist der Katastrophenschutz in Deutschland barrierefrei?
    NINA (Notfall-Informations- und Nachrichten-App) und KATWARN: So heißen die beiden Bundesnotruf-Apps, die über drohende Gefahren wie Überflutungen, Unwetter, Brände, Bombenfunde oder die Ausbreitung von Gefahrstoffen informieren. Für Menschen mit Beeinträchtigungen können Warn-Apps, die auf einem Smartphone installiert werden müssen, allerdings zu einer echten Herausforderung werden. Denn schon das Auffinden des Buttons zum Akzeptieren der Cookies auf der App-Startseite ist für blinde und schlecht sehende Menschen sehr schwierig.
    Die Gebärdendolmetscherin Kathrin-Maren Enders zeigt am 25.01.2017 in Frankfurt am Main (Hessen) mit ihren Fingern das Wort "beraten" in Gebärdensprache
    Gebärdendolmetscherin zeigt mit ihren Fingern das Wort "beraten" in Gebärdensprache. (dpa / picture alliance / Arne Dedert)
    Verbände beeinträchtigter Menschen kritisieren mit Blick auf die Warn-Apps schon länger die mangelnde Barrierefreiheit. Daniel Büter, Referent beim Deutschen Gehörlosen-Bund e. V., erklärte im Deutschlandfunk, dass viele gehörlose Menschen aus diesem Grund NINA und KATWARN gar nicht erst nutzten und sie Informationen zu Katastrophen deshalb kaum oder nur verspätet erreichten.
    Büter ist Mitverfasser einer Stellungnahme, die den Katastrophenschutz in Deutschland als mangelhaft bezeichnet. Artikel 11 der Behindertenrechtskonvention (BRK) der Vereinten Nationen werde verletzt. Dieser Artikel verpflichtet Deutschland, alles zu tun, um in Gefahrensituationen den Schutz und die Sicherheit von Menschen mit Beeinträchtigungen zu gewährleisten. Die Warn-Apps müssten besser an die Bedürfnisse der Betroffenen angepasst und barrierefreier gestaltet werden.
    Neben Verbänden für gehörlose Menschen kritisieren auch Blinden- und Sehbeeinträchtigten-Verbände die mangelnde Barrierefreiheit von Apps. So stand vor allem die im Rahmen der Coronakrise zur Kontaktnachverfolgung entwickelte Luca-App nicht nur wegen Datenschutzmängeln, sondern auch wegen Nicht-Bedienbarkeit für blinde und seheinbeeinträchtigte Menschen in der Kritik. Mittlerweile hat der Entwickler nachgebessert, sodass die Luca-App nun auch für Menschen mit Sehbeeinträchtigung laut Betroffenenverbänden nutzbar sein soll.
    Auch die WarnWetter-App des Deutschen Wetterdienstes (DWD) ist bisher nicht offiziell auf Barrierefreiheit getestet worden. Der DWD schreibt dazu auf seiner Webseite www.warnwetterapp.de: "Die mobile Anwendung WarnWetter-App wurde bisher keinem Barrierefreiheitstest unterzogen. Sie wurden aber mehrmals intern mit der Funktion VoiceOver getestet. Daher basieren die nachfolgend aufgeführten Punkte auf einer Selbsteinschätzung."
    Nachfolgend begründet der DWD, warum es zur Einschränkung der Barrierefreiheit kommen kann. Aus Sicht von Betroffenen ist diese Art von Barrierefreiheit-Test und die dazu geführte Argumentationslinie allerdings unzureichend.
    "Lasst mich selbstbestimmt leben" steht am 07.11.2016 in Berlin auf dem Plakat eines Demonstranten vor dem Brandenburger Tor. Die Bundesvereinigung "Lebenshilfe" hatte zu einer Demonstration aufgerufen, um ein besseres Bundesteilhabegesetz (BTHG) für Menschen mit Behinderung zu fordern. Derzeit befassen sich bundespolitische Gremien mit der künftigen Gestaltung des neuen BTHG. Foto: Paul Zinken/dpa ++
    Kritik am Teilhabestärkungsgesetz - Zu wenig drin für Menschen mit Behinderung
    Von Chancengleichheit im Arbeitsleben sind Menschen mit Behinderung weit entfernt. Folglich ist die Arbeitslosenquote hoch. Nur jeder Dritte findet überhaupt einen Job. Zugleich entziehen sich 60 Prozent der Betriebe ganz oder teilweise der Beschäftigungsverpflichtung.
    Wann sind Warnsysteme barrierefrei?
    Katastrophenwarnsysteme müssen so niedrigschwellig wie möglich sein. Das bedeutet, sie müssen so gestaltet werden, dass sie Menschen mit den unterschiedlichsten Beeinträchtigungen und Bedürfnissen erreichen und warnen. Manche Menschen haben überhaupt kein Smartphone oder können es aufgrund bestimmter Einschränkungen nicht bedienen, mahnt die Interessenvertretung Selbstbestimmt Leben Deutschland (ISL e. V.). ISL-Referentin Jessica Schröder forderte deshalb im Deutschlandfunk, dass es für diese Menschen die Möglichkeit gibt, Warnungen per SMS zu erhalten und auf anderen ganz unterschiedlichen Zugängen.
    Auch das ab Januar 2022 in Kraft tretende Teilhabestärkungsgesetz soll künftig dafür sorgen, dass digitale Inhalte und somit auch Apps barrierefrei gestaltet werden.
    ILLUSTRATION - Eine Frau haelt am 21.03.2018 in Berlin ein Smartphone in der Hand, das eine Unwetter-Warnungs-App zeigt (gestellte Szene). Foto: Robert Guenther
    Wetter-Apps auf dem Smartphone (dpa Themendienst)
    Wann sind Warn-Apps barrierefrei?
    Warn-Apps für Smartphoness müssen so gestaltet werden, dass sie niedrigschwellig installiert und genutzt werden können. Das bedeutet zum Beispiel, dass auch Menschen mit einer Sehbeeinträchtigung oder komplett blinde Menschen Warn-Apps mit einem sogenannten Screenreader bedienen können. Inhalte und Texte in der App werden dabei mit einer Texterkennungssoftware in Sprache und vorgelesen.
    Die Warn-App muss außerdem akustisch und visuell ausgeprägt sein, damit gehörlose Menschen oder Menschen mit kognitiven Beeinträchtigungen eine Gefahrenlage schnellstmöglich wahrnehmen können, beispielsweise durch eindeutige Symbole oder Bilder, die das Ereignis benennen.
    Im Landkreis Ahrweiler liegt eine Zerstörte Brücke in der Ahr. Extremer Starkregen hatte am 14. und 15. Juli an der Ahr im Norden von Rheinland-Pfalz eine Flutwelle ausgelöst und weite Teile des Tals unter Wasser gesetzt.
    Studie zeigt Zusammenhang - Klimawandel, Flut an Ahr und Erft - und die Frage nach dem Verschulden
    Durch den Klimawandel haben sich die Wahrscheinlichkeit und die Intensität extremer Regenfälle in Westeuropa erhöht. Das ist das Ergebnis einer Studie, die die Rolle des Klimawandels bei den verheerenden Überschwemmungen im Juli an Ahr und Erft in Deutschland sowie in Belgien untersucht hat.
    Wie können Menschen mit Behinderung im Notfall Hilfe anfordern?
    Beim Katastrophenschutz geht es um mehr als nur um die schnellstmögliche Unterrichtung der Bevölkerung über Gefahrenlagen. Verbände von Menschen mit Beeinträchtigungen weisen darauf hin, dass es für Betroffene ebenso möglich sein muss, barrierefrei schnellstmöglich Hilfe anzufordern. Es müsse daher nicht nur per Notruf, sondern auch per App, Mail oder SMS möglich sein, einen Hilferuf abzusetzen.
    Erste Ansätze hierzu gibt es bereits: Seit dem Frühjahr 2021 wird die Bundesnotruf-App nora getestet. Über die Standortfunktion des Mobiltelefons können Polizei, Rettungsdienst oder Feuerwehr erkennen, wo sich die Person befindet, die den Notruf gewählt hat und die vielleicht selber gar nicht mehr feststellen kann, wo sie gerade ist.
    Ein Notruf lässt sich per App absetzen, ohne dabei sprechen zu müssen, sodass beispielsweise auch gehörlose Menschen oder Menschen mit kognitiven Beeinträchtigungen Unterstützung anfordern können. Im Notfall bedeutet das dann zum Beispiel, dass Betroffene direkt per App mitteilen können, welche Beeinträchtigung sie haben und welche Hilfsmittel sie benötigen, um sich selbst in Sicherheit zu bringen oder um möglichst risikolos evakuiert werden zu können.
    Die für Juli 2021 geplante Markteinführung der App wurde allerdings verschoben.
    Dunkle Wolken über Berlin: Wer Apps wie Katwarn nutzt, bekommt meistens rechtzeitig vor dem dicken Wolkenbruch eine schnelle Warnung.
    Cell Broadcasting soll für mehr Barrierefreiheit im Katastrophenschutz sorgen (picture alliance / dpa / Lino Mirgeler)
    Was steckt hinter Cell-Broadcast?
    Als Ergänzung zu Sirenen, Apps und dem Rundfunk soll im Herbst 2022 in Deutschland das Handy-Warnsystem Cell Broadcasting eingeführt werden. Darüber können an alle Mobiltelefone aus festgelegten Funkzellen Textnachrichten verschickt werden. Und zwar ohne dass vorher eine App heruntergeladen wird. Das klappt auch, wenn das Gerät im Ruhemodus ist und sich Handys aus dem Ausland in der Funkzelle befinden.
    Verbände beeinträchtigter Menschen wie die Interessenvertretung Selbstbestimmt Leben e. V. (ISL) und der Deutsche Gehörlosen-Bund halten Cell Broadcasting für die optimale Lösung, um Betroffene vor Gefahren zu warnen, weisen aber darauf hin, dass der Nachrichten-Inhalt "so präzise sein und so gut verständlich, wenn möglich in leichter oder wenigstens einfacher Sprache" sein müsse. Nur so könnten alle Menschen Inhalte verstehen und Anweisungen Folge leisten, um sich in Sicherheit zu bringen.
    Quellen: Susanne Kuhlmann, UN-Behindertenrechtskonvention, Bundesbeauftragter für die Belange der Menschen mit Behinderungen, Kobinet, BBSB e. V., Deutscher Gehörlosen-Bund, Deutscher Wetterdienst (DWD), Interessenvertretung Selbstbestimmt Leben Deutschland e. V., Saskia von der Burg