Warn-Apps sollen "barrierefrei" sein. Aber was heißt das eigentlich? Unter Barrierefreiheit versteht man den umfassenden und uneingeschränkten Zugang aller Menschen zu allen von Menschen gestalteten Bereichen des öffentlichen Lebens und somit die uneingeschränkte Teilhabe aller an der Gesellschaft. Laut §4 BGG ist Barrierefreiheit gegeben, wenn "bauliche und sonstige Anlagen, Verkehrsmittel, technische Gebrauchsgegenstände, Systeme der Informationsverarbeitung, akustische und visuelle Informationsquellen und Kommunikationseinrichtungen sowie andere gestaltete Lebensbereiche" für Menschen mit Beeinträchtigungen ohne besondere Erschwernis und "grundsätzlich ohne fremde Hilfe auffindbar, zugänglich und nutzbar sind".
NINA (Notfall-Informations- und Nachrichten-App) und KATWARN: So heißen die beiden Bundesnotruf-Apps, die über drohende Gefahren wie Überflutungen, Unwetter, Brände, Bombenfunde oder die Ausbreitung von Gefahrstoffen informieren. Für Menschen mit Beeinträchtigungen können Warn-Apps, die auf einem Smartphone installiert werden müssen, allerdings zu einer echten Herausforderung werden. Denn schon das Auffinden des Buttons zum Akzeptieren der Cookies auf der App-Startseite ist für blinde und schlecht sehende Menschen sehr schwierig.
Verbände beeinträchtigter Menschen kritisieren mit Blick auf die Warn-Apps schon länger die mangelnde Barrierefreiheit. Daniel Büter, Referent beim Deutschen Gehörlosen-Bund e. V., erklärte im Deutschlandfunk, dass viele gehörlose Menschen aus diesem Grund NINA und KATWARN gar nicht erst nutzten und sie Informationen zu Katastrophen deshalb kaum oder nur verspätet erreichten.
Büter ist Mitverfasser einer Stellungnahme, die den Katastrophenschutz in Deutschland als mangelhaft bezeichnet. Artikel 11 der Behindertenrechtskonvention (BRK) der Vereinten Nationen werde verletzt. Dieser Artikel verpflichtet Deutschland, alles zu tun, um in Gefahrensituationen den Schutz und die Sicherheit von Menschen mit Beeinträchtigungen zu gewährleisten. Die Warn-Apps müssten besser an die Bedürfnisse der Betroffenen angepasst und barrierefreier gestaltet werden.
Neben Verbänden für gehörlose Menschen kritisieren auch Blinden- und Sehbeeinträchtigten-Verbände die mangelnde Barrierefreiheit von Apps. So stand vor allem die im Rahmen der Coronakrise zur Kontaktnachverfolgung entwickelte Luca-App nicht nur wegen Datenschutzmängeln, sondern auch wegen Nicht-Bedienbarkeit für blinde und seheinbeeinträchtigte Menschen in der Kritik. Mittlerweile hat der Entwickler nachgebessert, sodass die Luca-App nun auch für Menschen mit Sehbeeinträchtigung laut Betroffenenverbänden nutzbar sein soll.
Auch die WarnWetter-App des Deutschen Wetterdienstes (DWD) ist bisher nicht offiziell auf Barrierefreiheit getestet worden. Der DWD schreibt dazu auf seiner Webseite www.warnwetterapp.de: "Die mobile Anwendung WarnWetter-App wurde bisher keinem Barrierefreiheitstest unterzogen. Sie wurden aber mehrmals intern mit der Funktion VoiceOver getestet. Daher basieren die nachfolgend aufgeführten Punkte auf einer Selbsteinschätzung."
Nachfolgend begründet der DWD, warum es zur Einschränkung der Barrierefreiheit kommen kann. Aus Sicht von Betroffenen ist diese Art von Barrierefreiheit-Test und die dazu geführte Argumentationslinie allerdings unzureichend.
Katastrophenwarnsysteme müssen so niedrigschwellig wie möglich sein. Das bedeutet, sie müssen so gestaltet werden, dass sie Menschen mit den unterschiedlichsten Beeinträchtigungen und Bedürfnissen erreichen und warnen. Manche Menschen haben überhaupt kein Smartphone oder können es aufgrund bestimmter Einschränkungen nicht bedienen, mahnt die Interessenvertretung Selbstbestimmt Leben Deutschland (ISL e. V.). ISL-Referentin Jessica Schröder forderte deshalb im Deutschlandfunk, dass es für diese Menschen die Möglichkeit gibt, Warnungen per SMS zu erhalten und auf anderen ganz unterschiedlichen Zugängen.
Auch das ab Januar 2022 in Kraft tretende Teilhabestärkungsgesetz soll künftig dafür sorgen, dass digitale Inhalte und somit auch Apps barrierefrei gestaltet werden.
Warn-Apps für Smartphoness müssen so gestaltet werden, dass sie niedrigschwellig installiert und genutzt werden können. Das bedeutet zum Beispiel, dass auch Menschen mit einer Sehbeeinträchtigung oder komplett blinde Menschen Warn-Apps mit einem sogenannten Screenreader bedienen können. Inhalte und Texte in der App werden dabei mit einer Texterkennungssoftware in Sprache und vorgelesen.
Die Warn-App muss außerdem akustisch und visuell ausgeprägt sein, damit gehörlose Menschen oder Menschen mit kognitiven Beeinträchtigungen eine Gefahrenlage schnellstmöglich wahrnehmen können, beispielsweise durch eindeutige Symbole oder Bilder, die das Ereignis benennen.
Beim Katastrophenschutz geht es um mehr als nur um die schnellstmögliche Unterrichtung der Bevölkerung über Gefahrenlagen. Verbände von Menschen mit Beeinträchtigungen weisen darauf hin, dass es für Betroffene ebenso möglich sein muss, barrierefrei schnellstmöglich Hilfe anzufordern. Es müsse daher nicht nur per Notruf, sondern auch per App, Mail oder SMS möglich sein, einen Hilferuf abzusetzen.
Erste Ansätze hierzu gibt es bereits: Seit dem Frühjahr 2021 wird die Bundesnotruf-App nora getestet. Über die Standortfunktion des Mobiltelefons können Polizei, Rettungsdienst oder Feuerwehr erkennen, wo sich die Person befindet, die den Notruf gewählt hat und die vielleicht selber gar nicht mehr feststellen kann, wo sie gerade ist.
Ein Notruf lässt sich per App absetzen, ohne dabei sprechen zu müssen, sodass beispielsweise auch gehörlose Menschen oder Menschen mit kognitiven Beeinträchtigungen Unterstützung anfordern können. Im Notfall bedeutet das dann zum Beispiel, dass Betroffene direkt per App mitteilen können, welche Beeinträchtigung sie haben und welche Hilfsmittel sie benötigen, um sich selbst in Sicherheit zu bringen oder um möglichst risikolos evakuiert werden zu können.
Die für Juli 2021 geplante Markteinführung der App wurde allerdings verschoben.
Als Ergänzung zu Sirenen, Apps und dem Rundfunk soll im Herbst 2022 in Deutschland das Handy-Warnsystem Cell Broadcasting eingeführt werden. Darüber können an alle Mobiltelefone aus festgelegten Funkzellen Textnachrichten verschickt werden. Und zwar ohne dass vorher eine App heruntergeladen wird. Das klappt auch, wenn das Gerät im Ruhemodus ist und sich Handys aus dem Ausland in der Funkzelle befinden.
Verbände beeinträchtigter Menschen wie die Interessenvertretung Selbstbestimmt Leben e. V. (ISL) und der Deutsche Gehörlosen-Bund halten Cell Broadcasting für die optimale Lösung, um Betroffene vor Gefahren zu warnen, weisen aber darauf hin, dass der Nachrichten-Inhalt "so präzise sein und so gut verständlich, wenn möglich in leichter oder wenigstens einfacher Sprache" sein müsse. Nur so könnten alle Menschen Inhalte verstehen und Anweisungen Folge leisten, um sich in Sicherheit zu bringen.
Quellen: Susanne Kuhlmann, UN-Behindertenrechtskonvention, Bundesbeauftragter für die Belange der Menschen mit Behinderungen, Kobinet, BBSB e. V., Deutscher Gehörlosen-Bund, Deutscher Wetterdienst (DWD), Interessenvertretung Selbstbestimmt Leben Deutschland e. V., Saskia von der Burg