Christiane Florin: Michael Seewald ist Professor für katholische Theologie in Münster, und er ist der jüngste seines Fachs. 30 Jahre. Der alterwürdige Name seiner Spezialdisziplin lässt einen entweder vor Ehrfurcht oder vor Schreck erstarren. Es ist die Dogmatik, also das festgefügte Glaubensgut, das verbindlich zu Glaubende. In der katholischen Kirche ist manch Felsenfestes eine Wanderdüne. Aber manche Wanderdüne verhärtet sich auch zum Felsblock, wie der Vatikan in den vergangenen Tagen klar gemacht hat.
Dogma im Wandel hat Michael Seewald sein Buch genannt. Obwohl er sich schwerpunktmäßig weder mit Ökumene noch mit der Frauenweihe befasst, passt es perfekt zu den aktuellen Kontroversen. Wir haben vor dieser Sendung miteinander gesprochen. Zunächst konnte ich mir die Frage nicht verkneifen: Was reizt einen jungen Professor am verknöcherten Dogmatismus?
Michael Seewald: Ich würde ja nicht sagen, dass ich ein Dogmatist bin, sondern ein dogmatischer Theologe. Das heißt, Dogmatik oder Dogmen, das ist der Gegenstand, mit dem ich mich beschäftige. Und das ist einfach nur ein Allgemeinbegriff für verbindliche Strukturen. Religionen bilden in der Regel verbindliche Strukturen aus und die Dogmatik ist die Disziplin, die sich mit diesen Strukturen beschäftigt.
Florin: Ist das Attribut verknöchert gerechtfertigt?
Seewald: Gelegentlich schon. Das kommt auf die Struktur an. Also, Religion kommt nicht ohne Verbindlichkeiten aus. Das ist auch Teil der Rechenschaft und der Gesprächsfähigkeit, die Religionen bewahren müssen, dass sie sagen können, was sie eigentlich glauben. Aber diese Verbindlichkeiten können natürlich fossilieren, also die können steinhart werden. Und das ist dann das, was Sie verknöchert nennen.
Florin: Sprechen wir mal über den Inhalt. Was ist denn das, was unbedingt zu glauben ist?
Seewald: Das, was unbedingt zu glauben ist, wird zu verschiedenen Zeiten unterschiedlich ausbuchstabiert. Man kann sagen, normative Strukturen gibt es schon in der Bibel. Der Glaube, dass Jesus Christus eine Person ist, die Gott in unüberbietbarer Weise zum Vorschein gebracht hat, das ist schon eine Überzeugung, die sich in den biblischen Schriften spiegelt. Aber da ist im Laufe der Zeit natürlich noch einiges hinzugekommen. Und Aufgabe der Theologie oder der Dogmen-Geschichte ist es, eben genau das zu untersuchen. Was ist wann und warum hinzugekommen?
Florin: Welche Rolle spielt die Vorstellung, dass es geoffenbartes Glaubensgut gibt?
Seewald: Die Vorstellung von Offenbarung ist natürlich dem Christentum eigen oder … also nicht nur dem Christentum, natürlich anderen Offenbarungsreligionen auch. Aber das Christentum hat einen ganz spezifischen Offenbarungsbegriff, und zwar geht es davon aus, dass Offenbarung zunächst mal das ist, was sich in Jesus Christus ereignet hat. Also, Gott, der nicht irgendwelche Sätze vom Himmel wirft, sondern Gott, der menschlich als Mensch unter Menschen verkehrt und etwas von sich selber zeigt. Das ist die Grundbedeutung des christlichen Offenbarungsbegriffs und der wurde natürlich auch zu verschiedenen Zeiten unterschiedlich gefasst. Nun ist die Frage: Wo schlägt sich eigentlich diese Offenbarung positiv in Quellen nieder, sodass wir als Wissenschaftler das auch irgendwie analysieren können. Da gibt es natürlich die Bibel. Dann gibt es das, was man Tradition nennt. Das ist ein sehr vielschichtiger Begriff, den man gar nicht so genau eingrenzen kann.
Florin: Und welche Menschen sind besonders dazu berufen, zu sagen: "Das ist jetzt wirklich Offenbarung und das ist einfach nur menschengemacht"?
Seewald: Ja, das ist ein Problem natürlich in der katholischen Kirche, weil es immer darum geht: Wer darf eigentlich was sagen? Und da haben sich lehramtliche Strukturen im Laufe der Zeit herausgebildet, die natürlich die richterliche Entscheidung, was jetzt verbindlich und mit welcher Verbindlichkeit zu glauben ist, ganz stark auf das Lehramt fokussieren. Und der höchste Inhaber dieses Lehramtes ist natürlich der Papst.
"Wer meint, dass Dogma etwas Abgeschlossenes ist, geht fehl"
Florin: Seit wann gibt es das Lehramt überhaupt?
Seewald: Das Lehramt in dem Sinne, dass Episkopen, Gemeindevorsteher, später dann Bischöfe sich Gedanken über Verbindlichkeiten machen, das gibt es natürlich schon von Anfang an. Aber in der Form, in der wir das heute kennen, also, dass wir einen Papst an der Spitze haben, der nach katholischer Überzeugung ja unfehlbar bestimmte Dinge festschreiben kann, das ist eigentlich eine sehr junge Angelegenheit, die letztlich erst auf das 19. Jahrhundert verbindlich zurückgeht und an der natürlich immer noch weiter sozusagen gebastelt und gefeilt wird. Also, wer meint, dass Dogma in der katholischen Kirche etwas ist, das abgeschlossen ist, der geht fehl.
Florin: Wer meint denn, dass das Dogma was Abgeschlossenes ist?
Seewald: Das ist eine Meinung, die man häufig antrifft, …
Florin: In Rom – oder wo?
Seewald: Na ja, Rom, würde ich sagen, ist da von einer gewissen Ambivalenz geprägt. Gerhard Ebeling, ein evangelischer Theologe, hat das ganz wunderbar auf den Punkt gebracht, als er gesagt hat: Der Katholizismus ist von einer doppelten Tendenz geprägt, nämlich von einem radikalen Konservatismus auf der einen Seite und von einem radikalen Evolutionismus auf der anderen Seite. Auf der einen Seite wird gesagt, Dogma ist das, was feststeht, was abgeschlossen ist, das unbedingt bewahrt werden muss. Das ist das konservative Moment. Auf der anderen Seite gibt es aber natürlich auch das evolutive Moment, das davon ausgeht, dass die Kirche sich über Verbindlichkeitsstrukturen immer weiter Gedanken machen kann und natürlich auch Dinge als verbindlich festschreiben kann, die vorher entweder gar nicht oder mit einer anderen Verbindlichkeit gelehrt wurden.
Florin: Wer Ihr Buch liest, der wird merken: Theologen haben über Dogmen nachgedacht, über Lehrsätze nachgedacht, so lange es diese Lehrsätze gibt. Und sie haben darüber gestritten, wie viel Veränderung möglich ist. Welche waren die Hauptstreitpunkte?
"Tradition ist eine innovative Angelegenheit - bis sie steinhart wird"
Seewald: Die Hauptstreitpunkte waren natürlich die großen Fragen in der Gotteslehre, in der Christologie, also die Frage, wer Jesus Christus ist. Mein Buch fokussiert sich eher auf die Frage: Wie wurde eigentlich Veränderung zu verschiedenen Zeiten gedacht? Über die meisten Epochen der Christentumsgeschichte hinweg war man sich in der einen oder anderen Weise mal schärfer, mal weniger scharf durchaus bewusst, dass es so was wie Veränderung und ein Anwachsen der Verbindlichkeiten letztlich gibt. Und was mich interessiert hat, auch gerade, um diese ungeschichtlichen Absolutheitsansprüche ein Stück weit zu dekonstruieren, was mich da interessiert hat, ist die Frage: Wie hat sich das Denken von Verbindlichkeiten verändert?
Florin: Sie haben jetzt eben von Absolutheitsansprüchen gesprochen und davor vom 19. Jahrhundert. Heißt das, das, was jetzt als Tradition deklariert wird, ist eigentlich gar keine oder eine sehr junge?
Seewald: Tradition ist das, was eine Gegenwart an der Vergangenheit als bewahrenswert und wichtig für sich selber erachtet. Und was das genau ist, das ist zu unterschiedlichen Zeiten anderes. Und das wird auch anders gesehen. Insofern ist Tradition immer eine innovative Angelegenheit, bis sie steinhart wird. Und im Moment sind wir in der Situation, dass das, was als Tradition bezeichnet wird, zu guten Teilen – zumindest in der Art und Weise, wie es lehramtlich gefasst wird, auf das 19. Jahrhundert zurückgeht und schwierig ist, in dieser Richtung Veränderung zu bewirken.
Florin: Die aktuellen Neins, die da in den vergangenen Tagen aus Rom gekommen sind: ein Nein zur Priesterweihe für Frauen – das ist jetzt nicht neu, aber trotzdem noch mal neu gesagt worden - und eines zur Kommunion für protestantische Ehepartner. Zunächst mal zur Priesterweihe. Da bezieht man sich auf ein Schreiben von Papst Johannes Paul II. von 1994. Formal kein Dogma, das aber rückwirkend zu einem gemacht wird. Wenn wir uns jetzt mal die drei Dogmen anschauen, die auch Dogma heißen: das ist zum einen die Lehre von der unbefleckten Empfängnis Mariens, die Lehre von der Unfehlbarkeit des Papstes und die Lehre von der leiblichen Aufnahme Mariens in den Himmel. Das ist doch eine andere Kategorie, als darüber zu befinden, wer nun zu einem Amt zugelassen wird oder nicht.
Wo steht das Verbot der Frauenweihe in der Hierarchie der Wahrheiten?
Seewald: Ja, das sollte man meinen. Papst Johannes Paul II. und jetzt auch der Präfekt der Glaubenskongregation sehen das anders. Aber eigentlich müsste man sagen, es gibt eine Hierarchie der Wahrheiten, wie das Zweite Vatikanische Konzil sagt. Und die Anfrage ist schon berechtigt, ob die päpstliche Position zur Frauenordination in dieser Hierarchie der Wahrheiten an der richtigen Stelle angeordnet ist.
Florin: Warum wurde der Geltungsbereich eines Dogmas derart ausgeweitet in den 90er Jahren des 20. Jahrhunderts?
Seewald: Ja, die jüngste Entwicklung sozusagen oder die letzte, wenn Sie so wollen, Konstruktion am Dogmenbegriff geht natürlich auf den sogenannten Katechismus der katholischen Kirche von 1992 zurück, wo man den Dogmenbegriff noch mal weiter fasst, als er schon im 19. Jahrhundert gefasst wurde. Im 19. Jahrhundert hat man gesagt, ein Dogma besteht aus zwei Bestandteilen. Es ist einmal von Gott geoffenbart und es ist zweitens von der Kirche verbindlich vorgelegt. Der Katechismus von 1992 fasst nun auch die Lehren aus dem sogenannten Sekundärbereich unter dem Begriff des Dogmas. Das sind Lehren, die nach Überzeugung der Kirche selber nicht geoffenbart sind, aber aus irgendeinem Grund als notwendig erachtet werden, um Geoffenbartes zu schützen.
Florin: Was an Geoffenbartem wird durch dieses Verbot der Priesterinnenweihe geschützt?
Seewald: Das ist eine Frage, die der Präfekt der Glaubenskongregation genauer beantworten kann.
Florin: Macht er er aber nicht.
Der geschützte Mann
Seewald: Ja. Ich vermute, dass er die Amtstheologie dort als geschützt ansieht, also die Vorstellung, dass der Priester, vor allem, wenn er Eucharistie feiert, in persona Christi, also in der Person Jesu Christi handelt und diese Darstellung Jesu an das Mannsein des Priesters gebunden ist. Also, das wäre wohl die Hilfskonstruktion, dass man sagt, um diese Repräsentation Christi hinzubekommen, muss man auf das Geschlecht des Amtsträgers achten.
Florin: Wie nützen Dogmen den Gläubigen? Dass die ein erfüllteres Leben haben? Oder nützen sie der Autorität?
Seewald: Das ist die Frage, aus welcher Perspektive Sie das betrachten. Die Autorität würde natürlich sagen, es nützt den Gläubigen, damit die Gläubigen sichere Orientierung haben und nicht verwirrt werden. Das ist immer so ein Begriff, der genannt wird: Es gilt darauf zu achten, dass die Gläubigen "nicht verwirrt" werden. Nun sehen das die Gläubigen, die ja durchaus mündig sind und sich Urteile in diesen Fragen bilden können, teilweise anders und fragen natürlich an, ob die Dogmen wirklich ihnen nützen, oder ob sie Mechanismen einer Hierarchie sind, die dadurch natürlich auch eine gewisse Kontrolle bewahren will.
Florin: Das heißt, das Lehramt weiß, was für die Gläubigen gut ist. Das heißt aber ja auch in der Folge, dass alle Bemühungen etwas zu verändern, zu reformieren, am Lehramt scheitern werden.
Seewald: Das Lehramt ist sozusagen ein harter Kern, der sich bestimmten Reformen und Dialogdiskussionen auch verweigert.
Florin: Nehmen wir ein anderes aktuelles Beispiel. Die Ökumene – welches Dogma ist da berührt?
"Die Kirche könnte reformfreudiger sein"
Seewald: Da ist die Vorstellung berührt, dass die Teilnahme an der Eucharistie, in der sich der Leib Christi sakramental manifestiert, zur vollen Zugehörigkeit zum Leib Christi im Sinne der Kirche gehört. Und einige Theologen, auch sehr hochrangige Leute in Rom, bezeichnen das als eine geoffenbarte Wahrheit. Dann frage ich jetzt als Dogmen-Historiker natürlich wieder: Ja, wo und wie und wo steht das und wie kommt man darauf? Das sind dann Dinge, auf die man keine so genaue Antwort bekommt. Aber dem Selbstverständnis des Lehramtes nach wird hier die Verbindung von sakramentaler Kirchengemeinschaft und sakramentaler Kirchenkonstitutionen in der Eucharistie bewahrt.
Florin: Ihr Schlusskapitel heißt "Mehr Spielraum als gedacht". Was heißt das, was Sie herausgefunden haben - also, Dogma im Wandel - Was heißt das praktisch?
Seewald: Mir ist aufgefallen, dass wir unter einem doktrinal verengten Gespräch in der Kirche leiden. Also, wenn es darum geht, Kontinuität zu sichern, Kontinuität zur Tradition der Kirche – was auch immer das ist – Kontinuität zu Jesus Christus, die für die Kirche wirklich konstitutiv ist, dann verhandeln wir diese Kontinuitätsfragen immer nur auf einem doktrinalen Aspekt. Also, die Frage, welche Lehre muss wie verbindlich festgehalten werden, damit diese Kontinuität gewahrt wird? Das ist sicher eine wichtige Frage. Aber es ist eben nicht die einzige Form von Kontinuität, sondern die Kirche ist eine dynamische Gemeinschaft, die sich auch geschichtlich entfaltet und die durchaus reformfreudiger sein könnte, auch mit Blick auf ihre eigene Geschichte, als sie sich heute darstellt.
Florin: Fällt Ihnen ein Beispiel dafür ein, dass die Kirche sich einmal offiziell korrigiert hätte und gesagt hätte: So, wir haben das mal früher gelehrt, aber das gilt jetzt nicht mehr?
Ein Teil der Hölle wurde abgeschafft
Seewald: Das kommt vor, aber das kommt sehr, sehr selten vor. Also, ein jüngeres Beispiel ist der sogenannte Limbus, also die Idee eines Zwischenbereiches, in den ungetaufte Kinder kommen. Das war natürlich so eine Zwickmühle, die man hatte: auf der einen Seite ging man davon aus, dass die Taufe unbedingt heilsnotwendig ist. Jetzt ist die Frage: Was passiert mit ungetauft gestorbenen Säuglingen? Die konnten dann nach dieser Vorstellung nicht in den Himmel kommen, weil sie nicht getauft waren. In die Hölle wollte man sie aber auch nicht schicken, also hat man so einen Zwischenbereich, den sogenannten Limbus eingeführt. Und da gab es vor einigen Jahren noch unter Benedikt XVI. tatsächlich eine Notifikation, in der gesagt wurde, dass diese Limbus-Vorstellung nun nicht mehr weiter tradiert werden soll. Das ist aber ein sehr, sehr seltenes Beispiel einer Selbstkorrektur des kirchlichen Lehramtes. In der Regel wählt man eher den Weg, dass man bestimmte Dinge einfach unter den Teppich kehrt oder nicht mehr erwähnt. Ein Beispiel ist zum Beispiel Pius XII., der noch gelehrt hat, dass die Evolutionstheorie im katholischen Kontext nur dann anwendbar wird, wenn man an der Vorstellung festhält, dass alle Menschen von einem Menschenpaar, nämlich von Adam und Eva im biologischen Sinne abstammen. Das hat Pius XII. noch mit höchster Verbindlichkeit gelehrt. Und das hat man später einfach nicht mehr weiterverfolgt und sozusagen dann auslaufen lassen. Ich würde sagen, das ist mit Abstand die häufigste Form der Lehrentwicklung, also nicht Selbstkorrektur, sondern einfach auslaufen lassen, nicht mehr erwähnen, vergessen.
Florin: Schweigen ist also Gold in dem Fall. Aber trotzdem stellt sich ja die Frage: Was bedeutet das überhaupt für die Gläubigen? Mein Eindruck ist, dass sich die Gläubigen eigentlich dieser dogmatischen Verhärtung entziehen, indem sie es einfach ignorieren oder erst gar nicht kennen.
"Die Gläubigen bringen für die hochdogmatisierte, verknöcherte Welt kein Verständnis mehr auf"
Seewald: Natürlich. Wir haben es hier mit völlig verschiedenen Welten zu tun. Das zeigt sich jetzt ja auch wieder im Kommunion-Streit der Bischöfe, der ja wirklich jetzt Formen annimmt, die nur noch bizarr sind. Wir haben es hier mit getrennten Wirklichkeitswahrnehmungen und Welten zu tun. Auf der einen Seite eine hoch dogmatisierte, verknöcherte – wie Sie eingangs gesagt haben – Welt. Auf der anderen Seite natürlich eine Welt von Menschen, die versuchen ihren Glauben glaubwürdig zu leben, aber für solche Dinge einfach kein Verständnis mehr aufbringen.
Florin: Umfragen zeigen auch, dass es nicht nur um diese Fragen der Reform geht, Ökumene, Frauenpriestertum zum Beispiel. Auch wenn zum Beispiel die Frage gestellt wird: Glauben Sie, Jesus Christus ist Gottes Sohn? Oder Fragen nach der Dreifaltigkeit, dann antworten ja auch nicht mehr alle registrieren Katholiken: "Ja, das glaube ich." Sondern die Antworten gehen eher in die Richtung: "Ich glaube, dass Jesus gelebt hat, und dass die Idee mit der Nächstenliebe sehr gut war."
Seewald: Das ist aus Sicht der Kirche natürlich ein Problem. Aber anstatt sich darum zu bemühen, in der Hierarchie der Wahrheiten, wie das zweite vatikanische Konzil sagt, die Dinge, die wichtiger sind, stärker zu vermitteln, kapriziert man sich auf Dinge, die von untergeordneter Wichtigkeit sind und fordert die ganz massiv ein.
Florin: Wenn Sie sagen, die Diskursbreite ist zu schmal geworden, das Wort Breite ist eigentlich schon falsch in diesem Zusammenhang, dann heißt das, es kann nicht frei diskutiert werden, auch nicht frei unter Theologen diskutiert werden. Wie sehen da die Strafen aus?
"Die Kirche beschäftigt sich mit Fragen, die für die meisten Menschen keine religiöse Relevanz mehr haben"
Seewald: Also, wie die Strafen genau aussehen, das weiß ich gar nicht, weil gegen mich noch keine Strafe in dem Sinne verhängt wurde. Aber was man sagen kann, ist, dass es natürlich immer wieder Versuche des Lehramtes gibt, freie Diskussionen auch in der Theologenschaft zu unterbinden, dass es aber gleichzeitig gerade in der deutschen Theologenschaft auch Versuche gibt, sich diesen Dingen zu entziehen. Also: Man lässt sich seine Freiheit nicht nehmen und diskutiert über die Dinge, die man für angemessen und für wichtig hält.
Florin: Ihre Prognose, um noch mal auf das Alter zu sprechen zu kommen, wann wird das, was Sie fordern, das Lehramt beeinflussen? Wie alt werden Sie dann sein?
Seewald: Ich weiß gar nicht, ob ich jetzt konkrete Forderungen an das Lehramt habe. Ich verstehe mich eher als jemand, der gewisse eindeutige Forderungen, wie sie von dieser Seite erhoben werden, sozusagen dekonstruiert und aufzeigt, wie historisch bedingt das letztlich doch ist. Das heißt nicht unbedingt, dass es falsch ist, aber man muss sich der historischen Bedingtheit des eigenen Standpunktes bewusst sein. Wie sich die Kirche entwickelt, das kann ich nicht sagen. Insgesamt weckt sie eher den Eindruck, als ob sie sich in eine Diskursnische zurückzieht, sich mit Fragen beschäftigt, die für die meisten Menschen überhaupt keine auch religiöse Relevanz mehr haben und dadurch natürlich zu einer kleinen Gemeinschaft wird, die sich auf ihre Eigenes zurückzieht, aber eine gewisse Strahlkraft in die Gesellschaft immer mehr verliert.
"Kritische Theologen werden als Kirchenfeinde abgebügelt"
Florin: Und was hält Sie dann noch in der katholischen Kirche? Sie sind ja auch Priester.
Seewald: Mich hält in der katholischen Kirche natürlich mein Glaube, der ja nicht ein Glaube der Hierarchie oder irgendwelcher amtlicher Strukturen zuliebe ist, sondern eine Identifikation mit der Kirche, die natürlich aus einem ganz starken intellektuellen Interesse, aus einer intellektuellen Faszination an der Kirche resultiert und gerade deshalb ja kritisch ist. Das wird in Rom immer wieder missverstanden, dass kritische Theologen abgebügelt werden als Kirchenfeinde oder Gegner. Das ist ja überhaupt nicht der Fall, sondern man kritisiert Dinge, weil sie einem wichtig sind, und weil man gerne hätte, dass sie anders werden.
Michael Seewald: Dogma im Wandel. Wie Glaubenslehren sich entwickeln. Herder Verlag 2018. 336 Seiten, 25 Euro.