"Ich möchte einige Worte zu den Vorwürfen sagen, die sich seit einiger Zeit gegen mich richten. Seit zwei Jahren werden diese Vorwürfe von den Behörden untersucht. Ich kann es nicht abwarten, mich endlich vor Gericht verteidigen zu können."
Mit diesen Worten stellte sich Kardinal George Pell im vergangenen Sommer im vatikanischen Pressesaal den Medienvertretern. Inzwischen ist Pell nicht mehr in Rom und nicht mehr oberster Chef der vatikanischen Finanzen. Offiziell heißt es, dass er von seinen Aufgaben freigestellt sei. Der Australier Pell ist seit einiger Zeit in seiner Heimat.
Der australische Erzbischof Philip Wilson wurde vor wenigen Tagen für schuldig befunden, die Taten eines Geistlichen vertuscht zu haben. Dem ranghöheren Pell wird vorgeworfen, sich als Pfarrer und als Erzbischof von Melbourne an mehreren Jungen vergangen zu haben. In seiner Heimat Australien wurde vor kurzem der Prozess gegen ihn eröffnet. Er beteuerte noch kürzlich:
"Ich bin unschuldig. Die Vorwürfe gegen mich sind falsch. Die ganze Geschichte mit sexuellem Missbrauch widert mich an."
Kurienkardinal vor Gericht
Als der 76-jährige Kurienkardinal Mitte Mai das Gerichtsgebäude in Melbourne verließ, mussten ihn rund 20 Polizisten vor einer aufgebrachten Menge schützen. Der australischen Richterin Belinda Wallington zufolge gebe es genügend Anhaltspunkte für die Eröffnung eines Hauptverfahrens gegen Pell wegen des Missbrauchs minderjähriger Jungen.
Wegen sexueller Gewalt gegenüber Kindern steht damit der bisher ranghöchste Vertreter der katholischen Kirche vor Gericht. Ein Einzelfall, denn in der Regel unternehme die katholische Kirche viel zu wenig, um Fälle von Pädophilie aufzudecken und die Schuldigen zur Verantwortung zu ziehen, klagt der Enthüllungsjournalist Emiliano Fittipaldi, der im vergangenen Jahr ein Buch zum Kindesmissbrauch innerhalb der Kirche vorlegte:
"Die italienische Bischofskonferenz hält es immer noch für nicht notwendig, dass ihre Mitglieder Kindesmissbrauch anzeigen. Ich fragte einen Bischof aus Malta, der am vatikanischen Gerichtshof als Ankläger im Fall von Priesterpädophilie tätig ist, warum in Italien, im Vergleich zu den USA, Irland und Deutschland, wo es große Missbrauchsskandale gab, nichts dergleichen stattfand. Seine Antwort: Überall dominiert ein Verschweigen dieser Realität, eine Art Schweigepflicht."
"Zwei bis vier Prozent des Klerus neigen zur Pädophilie"
Ein Unter-den-Teppich-Kehren, das nicht nur das kirchliche Umfeld betrifft. Im Unterschied zu Deutschland haben sich in Italien erst in jüngster Zeit Vereinigungen von Opfern und von Eltern gebildet, deren minderjährige Kinder von katholischen Geistlichen und Ordensleuten missbraucht wurden. "Rete L' Abuso" ist die größte italienische Vereinigung von Missbrauchsopfern. Ihr Sprecher ist Francesco Zanardi:
"In Italien werden Fälle von Priesterpädophilie immer noch nur am Rande erwähnt. Hier bei uns fehlt das Problembewusstsein. Auch seitens der staatlichen Behörden, der Medien und der Öffentlichkeit. Ich habe den Eindruck, als ob alle die Kirche in Schutz nehmen wollen. Dabei handelt es sich um ein erschreckendes Phänomen. Spitzengeistliche wie der ehemalige Kardinalstaatssekretär Bertone erklärten, dass zwischen zwei bis vier Prozent des Klerus zur Pädophilie neigen."
In Italien wird derzeit gegen mehr als 1.000 katholische Geistliche und Ordensleute wegen des Vorwurfs des sexuellen Missbrauchs Minderjähriger ermittelt. Und doch findet man so gut wie nichts dazu in den Medien.
Verschwiegenheit - "wie vor zwanzig Jahren"
Mit der Schaffung einer Kommission zur Aufklärung der Pädophilie 2014 sollte innerhalb der Kirche eine Wende eingeleitet werden. Dieser Kommission gehörte auch Marie Collins an. Die Irin wurde mit 13 Jahren von einem katholischen Priester missbraucht. Es war Papst Franziskus, der sie persönlich darum bat, Mitglied der von ihm geschaffenen Kommission zu werden. Im vergangenen Herbst warf Collins das Handtuch.
Sie erklärte: "Mit wurde klar, es gibt keinen Grund mehr weiterzumachen. Die Leute im Vatikan legen das gleiche Verhalten an den Tag wie unsere irische Kirche vor zwanzig Jahren, als fast allen nur daran gelegen war, Missbrauchsfälle zu verschweigen. Es tut mir weh, dass es immer noch Kirchenmänner mit so einem Verhalten gibt."
Videospots zum Wachrütteln
Francesco Zanardi und seine Vereinigung "Rete L’Abuso" haben, um mehr Aufmerksamkeit zu erregen, kürzlich ihren Kurs geändert: Sie treten nun aggressiver als früher auf, um Italiens Öffentlichkeit, die Kirche, die Medien und Behörden wachzurütteln. Etwa mit diesem Videospot, in dem Missbrauchsopfer Papst Franziskus eindringlich dazu auffordern, endlich entschieden etwas zu unternehmen. Zanardi überreicht vor kurzem im Vatikan eine Liste mit Namen von Geistlichen und Ordensleuten, die beschuldigt sind, sich an Minderjährigen vergangen zu haben. Er fordert den Papst auf, ihn zu empfangen, und damit ein Zeichen zu setzen:
"Ich würde den Papst gern persönlich daran erinnern, dass offizielle Dokumente seiner Kirche davon sprechen, den Opfern zur Seite zu stehen. Doch in Wirklichkeit verhält sich seine Kirche so, dass sie nur den Tätern zur Seite steht."
Francesco Zanardi, Marie Collins und andere Missbrauchsopfer haben nur wenig Hoffnung auf einen entscheidenden Wandel innerhalb der italienischen Kirche. Doch sie hoffen, dass es bald auch in Italien, wie zuvor in anderen Staaten, so handfeste Skandale geben wird, dass die Öffentlichkeit und die Medien endlich aufbegehren. Nur durch Druck von außen, meinen sie, können sich zu diesem Problem in der Kirche etwas ändern.
Doch der Fall von Kurienkardinal George Pell zeigt, jedenfalls was Italien angeht, dass auch ein so handfester Skandal nur wenige Italiener tief zu erschüttern scheint. Erschreckende Details zu den Missbrauchsvorwürfen gegen Pell provozieren nur ein kurzes Medieninteresse - und im Vatikan tiefes Schweigen.