Martin Stuflesser ist Theologe und Professor für Liturgiewissenschaft an der Katholisch-Theologischen Fakultät der Universität Würzburg.
Christiane Florin: Herr Stuflesser, ist Franziskus ein Frauenversteher?
Martin Stuflesser: Ich glaube, es geht mehr darum, dass er schon als Erzbischof von Buenos Aires eine liturgische Praxis übernommen hat, dass er die Fußwaschung zu einem Ritual gemacht, das er als missionarische Praxis nach außen verstanden hat und dabei auch Frauen die Füße gewaschen hat, auch Kindern. Die Regieanweisungen und Vorschriften in den liturgischen Büchern reden nur von Männern, da heißt es im Lateinischen "Viri selecti". Also "ausgewählte Männer" soll man dafür nehmen. Im Grunde genommen setzt der Papst erst einmal das, was er auch schon vor Ort in Buenos Aires gemacht hat, als Bischof von Rom fort. Das hat er 2013 das erste Mal gemacht, als er in einem Gefängnis auch Frauen die Füße gewaschen hat, darunter auch zwei Nicht-Christinnen, zwei Muslima. Hinterher hat der vatikanische Pressesprecher, Pater Lombardi, versucht, das wieder etwas einzufangen und zu sagen, die Fußwaschung sei ja kein Sakrament. Es sei ja nur ein minderes Ritual. Man hat damals schon etwas verwundert die Ohren gespitzt und sich gefragt: Was läuft hier gerade? Macht der Papst Dinge, mit denen er sich über die liturgischen Regeln hinwegsetzt? Er hat jetzt, nachdem er über mehrere Jahre diese liturgischen Regeln sehr kreativ ausgelegt hat, die Gesetzgebung angepasst und diese Regel anders formuliert. Ob das etwas mit Frauenverstehen zu tun hat, weiß ich nicht.
Florin: Was ändert sich durch das Dekret, wenn Franziskus nur das amtlich erlaubt, was er vorher ohnehin schon gemacht hat und was schon in den Gemeinden Praxis war?
Stuflesser: Das ist der springende Punkt: Es ist schon in vielen Gemeinden die Praxis gewesen, es ist auch in Kathedralkirchen die Praxis gewesen. Es ist durchaus auch sinnvoll, weil es bei dieser Fußwaschung nicht darum geht, à la Passionsspiele Oberammergau die Szenen beim letzten Abendmahl theatermäßig nachzuspielen. Es geht um das Evangelium, in der Gründonnerstagsmesse das Johannesevangelium, Joh. 13, also der Herr wäscht den Jüngern die Füße, also "Ich habe euch ein Beispiel gegeben, damit ihr so handelt." Die Gemeinde antwortet unmittelbar darauf, indem sie diesen Ritus nachvollzieht und damit im Zeichen, im Ritual zeigt: Ja, wir haben verstanden, Herr, was du uns als Testament mit aufgegeben hast. Ich denke auch, dass das ein Ritus ist, der auch vielmehr über das Amtsverständnis aussagt. "Wer mir dienen will, folge mir nach", ist der Spitzensatz. Es geht darum, dass wer ein Amt, wer eine Aufgabe in der Kirche hat, Diener aller sein soll. Das Spannende ist für mich an der Sache, dass es eine Liturgiereform Top-Down ist. Hier ist ein Papst sozusagen das Role Model und sagt: "Ich mache das jetzt einfach mal so." Und irgendwann schreibt er dann dem zuständigen Kardinal der Gottesdienstkongregation einen Brief und sagt: "Ändern Sie doch bitte einfach die Regieanweisung." Er begründet es ja auch theologisch. Er sagt, dass es ihm wirklich darum geht, dass das, was diese Geste ausdrücken soll, eigentlich deutlicher zutage treten soll. Franziskus hat schon ein Programm dahinter.
"Die Mühlen der Vatikan-Behörden mahlen sehr langsam"
Florin: Aber es hat eine Weile gedauert, bis die Gottesdienstkongregation in Rom sein Schreiben positiv zur Kenntnis genommen hat. Sie haben vorhin angedeutet, Franziskus sei durchaus autoritär – Top-Down. Aber schaut man sich jetzt diesen Verlauf an, könnte man auf den Gedanken kommen, dass er in Rom nicht so ganz ernstgenommen wird. Dass man gern mal Papiere und Wünsche für längere Zeit liegen lässt.
Stuflesser: Es ist zumindest verwunderlich, dass dieses Schreiben, das zusammen mit dem Dekret veröffentlicht wurde, schon ein Jahr alt ist. Man fragt sich: Was ist in dem Jahr passiert? Es geht um eine minimale Änderung. Es geht um eine minimale Änderung. Aus dem "viri selecti", den ausgewählten Männern, werden "ex populo dei", also "ausgewählt aus dem Volk Gottes" zu machen, das kann so viel Arbeit nicht sein. Die Frage ist, ob Liturgie diesem Papst überhaupt ein wichtiges Anliegen ist.
Florin: Offenbar wird er doch ausgebremst.
Stuflesser: Es wundert einen, dass hier die Behörden sehr langsam mahlen. Aber man kann sich auch vorstellen, dass das, was hier passiert, nicht in die theologische Richtung derer passt, die in der Leitung der Gottesdienstkongregation sind.
Florin: Das Abendmahl spielt auch eine wichtige Rolle bei der Begründung der Priesterweihe. Sehr vereinfacht gesagt: Weil damals nur Männer mit Jesus bei Tisch saßen, dürfen auch nur Männer Priester werden. Haben jetzt nicht doch die Frauen im wahrsten Sinne des Wortes einen Fuß in der Tür, wenn es um die Frauenweihe geht, um Priesterinnen, um Diakoninnen? Ist das die Angst der Traditionalisten?
Stuflesser: Ich glaube, dass der Papst, was diese Frage angeht, auf der Linie der Tradition liegt. Er wurde da schon mehrfach gefragt, in Interviews, die er immer wieder macht bei irgendwelchen Auslandsreisen. Da hat er sehr deutlich gesagt, dass die Entscheidung Johannes Pauls II. feststeht, da ist nicht dran zu rütteln. Dass er auch nicht dran denkt, das in irgendeiner Weise aufzuweichen. Das Spannende finde ich an der Sache – und das ist etwas, das mich irritiert und das in den theologischen Kommentaren überhaupt nicht beleuchtet wurde –, dass er ja noch einen Schritt weitergeht. Ich habe es eben schon angedeutet: Er hat mindestens einmal auch einer Muslima die Füße gewaschen. Das heißt, ein Ritus der vom Ursprung her an den engsten Jüngerkreis gerichtet war, an die Zwölf – Jesus wäscht ja nicht irgendwem Beliebigen die Füße, er geht nicht durch die Straßen von Jerusalem und praktiziert wilde Fußwaschung, dieses Ritual ist wirklich im Johannesevangelium an den Inner Circle gerichtet - wird vom Papst jetzt umgedeutet und wird geweitet. Die spannende Frage ist: Was macht er damit, wenn dieser Ritus jetzt nach außen gedeutet wird, also an alle Menschen guten Willens? Das klingt banal, ist es aber nicht. Die Fußwaschung hing in der frühen Kirche sehr hoch von ihrer Bedeutung her. Ich weiß nicht, ob das so klar ist, was hier jetzt gerade passiert. Und ob das theologisch so sinnvoll ist.
"Nach dem Konzil waren wir schon mal weiter"
Florin: Jesus wäscht den Jüngern die Füße, nachdem die sich darüber gestritten haben, wer der Ranghöchste von ihnen ist. Kann es sein, dass Franziskus von einer offenen und vor allem hierarchiefreien Kirche träumt?
Stuflesser: Hierarchiefrei weiß ich nicht, weil ich schon denke, Stichwort Top-Down, dass er, wenn es drauf ankommt, durchaus sehr deutlich Position bezieht und auch sehr deutlich sagt, wo er steht und wo er sich verortet. Was ich schon glaube ist, dass ihm der Aspekt einer dienenden Kirche sehr am Herzen liegt.
Florin: Was will dieser Papst eigentlich?
Stuflesser: Gute Frage. Wenn wir das wüssten, wären wir alle ein Stück weiter. Wenn Sie die Exerzitien des Ignatius sich anschauen, dann ist das ein Prozess, auf den Sie sich einlassen. Also etwa 30-tägige Exerzitien, bei denen keineswegs klar ist, was am Ende herauskommt. Ich habe manchmal das Gefühl, wir befinden uns in einem Exerzitienprozess für die gesamte römisch-katholische Weltkirche. Ich weiß nur nicht, ob das funktioniert. Ich glaube, man kann durch nichts so – das sehen Sie auch in der Politik - Reformen umsetzen wie durch Personalentscheidungen. Indem man die richtigen Leute an die richtige Stelle setzt.
Florin: Wer sitzt denn da falsch in der Liturgiekommission?
Stuflesser: Der jetzige Präfekt hat sich auf eine gewisse Art und Weise positioniert - und das ist sicher eher dem konservativeren Spektrum zuzuordnen. Nun kann man sagen, dass Franziskus vielleicht einen gewissen Ausgleich der Meinungen schaffen will. Es ist trotzdem so, dass wenn man jetzt sieht, wie er selber Liturgie feiert, es dann schon wundert, dass er nicht etwa andere Leute an die entsprechenden Schaltstellen setzt. Ich war selbst zuletzt unter Papst Benedikt XVI. in Rom bei einer Papstliturgie zugegen, als damals Hildegard von Bingen zur Kirchenlehrerin erhoben wurde. Da saß der Papst völlig entrückt weit weg. Wenn man nicht die Videoprojektionsleinwände gesehen hätte, hätte man eigentlich gar nichts wahrgenommen. Neben mir kniete eine über 80-Jährige ganz einfache Gläubige aus dem Bistum Trier, die nachher die Liturgie mit dem Satz kommentiert: "Das hätte ich mir besser am Fernsehen angeschaut." Da fragt man sich bei Papst Franziskus: Warum ändert er solche Dinge nicht?
Florin: Sie würden sagen, er wirkt immer noch wie ein entrückter Papst, rein liturgisch betrachtet?
Stuflesser: Ich würde sagen, die Unterschiede in der Liturgie zwischen ihm und Papst Benedikt XVI. sind nicht so auffallend, dass man daran irgendeine Form von Reformprogramm ablesen könnte. Da würde ich aus der Sicht meines Faches sagen: Da waren wir nach dem Konzil schon mal weiter.
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