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Katholische Kirche
Mein Vater, der Priester

1967 wird Günther Götz in Mainz zum Priester geweiht. Er liebt seinen Beruf und findet sich damit ab, auf Partnerschaft und Sexualität zu verzichten. Dann verliebt er sich in Elisabeth. Die beiden werden ein Paar, zunächst heimlich. Als Elisabeth schwanger ist, steht eine Entscheidung an.

Von Sören Götz |
    Sören und Günther Götz sitzen an einem Tischen nebeneinander
    Sören Götz mit seinem Vater Günther. (Sören Götz)
    "Ich war von zuhause aus religiös geprägt. Die Kirche gehörte zu meinem Leben dazu. Der Gottesdienst war mir wichtig und lieb. Ich war Messdiener. Und da hat sich von daher eine Möglichkeit abgezeichnet. Die zweite wäre gewesen, Lehrer zu werden für Mathematik und Physik, aber letztlich hat dann das Interesse am Priesterberuf überwogen, weil ich dachte, da kann ich unmittelbar mit den Menschen zusammenleben und arbeiten und ihnen etwas vermitteln, was ihnen zum Leben hilft."
    Das ist mein Vater – Günther Götz. Der Glaube war ihm schon immer sehr wichtig, das wird hier sehr gut klar, finde ich. Aber eine Geschichte macht vielleicht noch deutlicher, wie unbedingt er Priester werden wollte. Das war damals in der Ausbildung zum Priester. Mein Vater ist dafür nach dem Abitur nach Mainz gezogen. Und ein Jahr seines Theologiestudiums verbringt er in Würzburg.
    Günther Götz hält ein Mikrofon
    Günther Götz (privat /Sören Götz)
    "Da habe ich eine Frau kennengelernt, mit der ich mir vorstellen konnte, dass daraus eine Beziehung wird. Das war für mich noch mal ein Anlass, meine Entscheidung in Bezug auf Ehelosigkeit zu überprüfen. Nachdem ich gemerkt habe, der Drang, Priester zu werden, ist größer, hat das den Ausschlag gegeben."
    Die WG im Pfarrhaus
    Mein Vater hat mir erzählt, dass er in dem Alter natürlich Frauen schön fand und dass er sich als junger Mann auch mal verliebt hat. Aber er sagt auch ganz klar: Seine Beziehung zu Gott war ihm wichtiger. Er zieht damals seine Ausbildung durch, obwohl die Hälfte seiner Kommilitonen im Priesterseminar es sich anders überlegen und abbrechen.
    1967 weiht der Mainzer Bischof meinen Vater zum Priester. Und mit der Weihe bekennt sich mein Vater endgültig zum Zölibat. Wenn ich heute mit meinem Vater spreche, sagt er, dass er den Zölibat schon damals unnötig fand. Er war nämlich schon immer überzeugt, dass ein Priester gleichzeitig Gott und eine Frau lieben kann. Dass er gleichzeitig für seine Kinder und die Gemeinde da sein kann.
    Aber er wollte diesen Beruf eben unbedingt ergreifen. Also unterwarf er sich den Regeln. Da war er gerade mal 25 Jahre alt. Mein Vater hat mir erzählt, dass es ihm lange sehr gut damit ging. Er war Priester aus Leidenschaft. Er liebte das Beten, die Gottesdienste, er liebte es, für die Menschen da zu sein. Er erzählt, dass er bei Kindern und Jugendlichen besonders beliebt war. Aber auch, dass nicht alle in der Kirche ihn mochten.
    Er engagierte sich als Priester nämlich auch politisch, etwa in der Friedensbewegung. Manche nannten ihn deshalb den "roten Pfarrer". Normalerweise leben Priester alleine. Das wollte er nicht. Also lebte er in verschiedenen Wohngemeinschaften – auch mit Frauen. Sogar in seinem Pfarrhaus gründete er eine WG. Da kam er doch bestimmt mal in Versuchung, sich Frauen zu nähern, denke ich mir.
    "Es war eine permanente Herausforderung, wenn ich mit Menschen zusammengelebt habe. Da war die Sehnsucht: Könnte da nicht mehr draus werden? Da waren auch sexuelle Empfindungen. Das gehörte mit dazu. Ich habe mich damit bewusst auseinandergesetzt und dann die Entscheidung getroffen: Nein, ich gehe meinen Weg als eheloser Priester weiter."
    Da spricht mein Vater, der Pragmatiker. Er findet sich also damit ab, nie Sex zu haben, nie eine Freundin zu haben und nie Vater zu werden. Bis …
    "Günther hat viel Veränderung gebracht"
    Bis er Elisabeth kennenlernt, meine Mutter. Mein Vater unterrichtet damals neben seinem Priesteramt an einem Abendgymnasium Religion. Er ist 42 Jahre alt, also seit 17 Jahren Priester. Als er zu Beginn des Schuljahres vor eine neue Klasse tritt, fällt ihm meine Mutter auf.
    "Ich habe Elisabeth zum ersten Mal gesehen als Schülerin von mir auf dem Kettler-Kolleg. Mir hat sie von Anfang an gut gefallen. Sie hatte eine schöne Ausstrahlung und war sehr interessiert an dem, was ich mache. Sie hat eine Hausarbeit geschrieben, die sehr umfangreich war und wo ich gemerkt habe, da ist ein großes Engagement dahinter. Das hat mir imponiert. Ich denke schon, dass es ein besonderes Verhältnis war, dass eine Aufmerksamkeit füreinander da war. Es war so ein Gefühl von angezogen sein, von schön finden, von sympathisch finden."
    Mein Vater sagt aber, dass es nicht gleich Liebe auf den ersten Blick war. Die erste Verbindung zwischen den beiden sind die Kinder von Elisabeth. Sie ist damals 29 Jahre alt, hat sich gerade von ihrem Mann getrennt. Sie muss sich nun alleine um ihre fünfjährige Tochter Agnes und ihren sechsjährigen Sohn Benjamin kümmern.
    Trotzdem hat sie große Pläne. Sie will das Abitur nachholen und Medizin studieren. Sie sucht Betreuung für die Kinder und mein Vater sorgt dafür, dass sie im Kindergarten seiner Gemeinde aufgenommen werden. Außerdem bietet er ihr an, gelegentlich auf die Kinder aufzupassen. Mein Vater konnte schon immer gut mit Kindern. Auch Benjamin und Agnes mögen ihn sofort, wie mein Halbbruder Benjamin mir erzählt hat:
    "Günther hat viel Veränderung gebracht. Er war, heute würde ich sagen: ziemlich cool. Er hat uns nie enttäuscht. Er war immer für uns da, hat total viel Stabilität ins Leben gebracht. Er war wie ein Anker, an dem wir uns festhalten konnten. Wir waren mit ihm wandern, wir waren mit ihm in einem Selbstversorgerjugendhaus, er war mit uns im Urlaub. Er hat, was er besonders gut kann, uns Gruselgeschichten erzählt. Lauter so Dinge, die einem als Kind Spaß machen, aber die auch so eine Normalität in die Familie gebracht haben."
    Meine Mutter ist damals noch evangelisch, will aber katholisch werden. Sie schließt sich der Gemeinde an, in der mein Vater Pfarrer ist. Mein Vater sagt, dass er sich zunächst als ihr Seelsorger fühlt. Aber bald freunden sie sich an. Und als meine Mutter sieht, wie rührend er sich um die Kinder kümmert, verliebt sie sich in ihn.
    Liebesbeziehung mit Schuldgefühlen
    Sie glaubte damals, dass sowieso alle Priester eine heimliche Freundin haben, hat sie mir erzählt. Aber sie weiß zunächst nicht, ob mein Vater ihre Liebe erwidert. Bis sie einmal ein Wochenende in einer alten Mühle im Odenwald verbringen.
    "Als die Kinder im Bett lagen, hat er mich eingeladen, noch einen Schneespaziergang zu machen. Dann hat er mich das erste Mal geküsst in der Dunkelheit im Schnee. Ohne etwas dazu zu sagen. Dann sind wir nach Hause gegangen und das ganze Wochenende lief, als wäre nichts gewesen. Das hat mich ziemlich gekränkt. Ich wusste nichts damit anzufangen, weil er sich immer mit den Kindern beschäftigt hat. Als wir dann wieder in Mainz waren, bin ich zu ihm gegangen und habe ihm gesagt, dass das so nicht geht, dass er die ganze Zeit und Aufmerksamkeit den Kindern widmet."
    Dieses Gespräch bringt meinen Vater völlig durcheinander.
    "Es war mir klar, wenn ich mich auf diese Beziehung einlasse, stellt das meinen Beruf in Frage. Ich kann auf Dauer nicht Pfarrer sein und habe gleichzeitig eine Freundin und ihre Kinder als Familie. Das war eine ganz schwierige Zeit für mich. Ich habe gemerkt, es steht eine Entscheidung an. Ich kann nicht beides auf Dauer leben. Da mache ich mir was vor, da mache ich der Gemeinde etwas vor und da mache ich Elisabeth und den Kindern etwas vor."
    Mein Vater ist total gewissenhaft und pflichtbewusst. Wer ihn kennt, kann sich vorstellen, wie hart die Situation für ihn gewesen sein muss. Er wusste, dass viele Priester das Zölibat brechen. Von sich hat er aber immer gedacht: Ich zieh das durch. Er wollte auch auf keinen Fall den Beruf aufgeben, den er so liebte. Wer aber meine Mutter kennt, weiß: Sie kann ganz schön hartnäckig sein. Wenn sie etwas will, dann bleibt sie dran. Sonst hätte sie auch nicht mit zwei kleinen Kindern das Medizinstudium durchgezogen. Und genauso unnachgiebig zeigt sie sich damals bei meinem Vater.
    "Und die ersten sexuellen Annäherungen gingen von mir aus, da er überhaupt nicht in Gang kam. Das hat sich dann so entwickelt, dass wir sehr viel darüber gesprochen haben und ich den Eindruck hatte, dass ich ihn auch ein Stückweit überzeugen konnte."
    Ich finde, man hört, wie schwierig es für sie war, meinen Vater dazu zu bringen, zu seinen Gefühlen zu stehen. Aber er war eben hin- und hergerissen.
    "Es war aufregend, es war erregend, es für mich etwas Neues, es war verunsichernd, es war eine Mischung von Gefühlen. Ich war in einem Zwiespalt drin. Ich habe gedacht, das ist etwas, was ich nicht tun darf, weil ich Ehelosigkeit versprochen habe und gleichzeitig war ein Bedürfnis da oder eine Offenheit für die Begegnung."
    Sofort fühlt sich mein Vater schuldig. Er weiß: Er hat die Regeln gebrochen. Es quält ihn, der Kirche und seiner Gemeinde etwas zu verheimlichen.
    "Es geht einmal darum, dass ich für mich selbst eine Lebensentscheidung für die Ehelosigkeit getroffen hatte. Ich hatte diese Lebensform gewählt. Dann war es ein Versprechen der Kirche gegenüber. Ich habe dieses Versprechen ja auch dem Bischof gegenüber abgelegt. Und ich habe mich auch in meinem Gewissen vor Gott gebunden gefühlt. In dieser Zeit ging es in mir manchmal drunter und drüber."
    Zunächst bekommen nur seine Mitbewohner etwas von der Beziehung mit. Aber es ist natürlich nur eine Frage der Zeit, bis auch andere davon erfahren. Und wie der Zufall will bietet die Kirche meinem Vater an, Priester einer Hochschulgemeinde in Darmstadt zu werden. Er nimmt dankend an – auch weil er sich denkt:
    Dort muss ich nicht im Pfarrhaus neben der Kirche wohnen, sondern kann in eine Mietwohnung ziehen. Und dort kennen mich nicht so viele Leute. So kann ich meine Beziehung besser geheim halten. 1987 zieht er nach Darmstadt. Elisabeth und die Kinder besuchen ihn regelmäßig.
    Zunächst kann er so beides verbinden: seinen Traumberuf ausüben und relativ unbeobachtet mit Elisabeth und den Kindern zusammen sein. Aber: Die Schuldgefühle wird mein Vater nicht los. Er hadert damit, dass er nicht offen eine Familie haben und trotzdem Priester bleiben kann.
    "Ich war zunächst einmal traurig, innerlich fast verzweifelt, dass das nicht geht. Wütend war ich nicht, ich bin von meiner Struktur rational. Ich habe mich auf die Bedingungen eingelassen. Ich weiß, dass es nur als Zölibatär geht, Priester in einer Gemeinde zu sein. Es war eher die Frage, wie geht es mir damit, wenn ich das Versprechen nicht mehr halte. Das war auch ein Teil meiner Identität."
    Offenbarung am Palmsonntag
    Zwei Jahre lang geht in Darmstadt alles gut. Doch dann passiert etwas, was meinem Vater zur Entscheidung zwingt. Elisabeth ruft ihn an. Sie ist schwanger. Ich bin unterwegs.
    "Das war ein Erschrecken. Gleichzeitig verbunden mit einem Erstaunen, mit einem Gefühl von: Da ist etwas geschehen, das größer ist als ich."
    Mein Vater sucht das Gespräch mit seinem geistlichen Begleiter, einer Art Mentor. Der ist enttäuscht und wütend. Er rät meinem Vater, trotzdem Priester zu bleiben. Das hätte bedeutet: Mein Vater bekennt sich nicht zu dem Kind, zahlt Unterhalt und sieht mich nur heimlich. Aber das kommt für ihn nicht in Frage. Mein Vater hat genug von der Heimlichtuerei.
    In so einem Fall konvertieren katholischen Priester manchmal und machen als evangelische Pfarrer weiter. So können sie heiraten, Kinder bekommen und ihren Beruf trotzdem weiter ausüben. Mein Vater sagt, dass das für ihn nie Option war. Er fühlt sich katholisch. Evangelisch zu werden, hätte sich wie ein Verrat an seiner Identität angefühlt.
    Es gibt nur eine Lösung: Um als Vater für mich da sein zu können, muss er seinen Traumberuf aufgeben. Er geht zu seinem Chef, dem Mainzer Bischof Karl Lehmann. Und Lehmann sagt: Überleg es dir noch mal gut.
    Lehmann lächelt in die schief gehaltene Kamera, hinter ihm sieht man unscharf die Statue einer Bischofsfigur. 
    Der Mainzer Kardinal Karl Lehmann (*1936 †2018) (Boris Roessler / dpa)
    Er schickt meinen Vater für vier Wochen in ein Meditationszentrum in der Schweiz, oberhalb vom Zuger See. Dort soll er nachdenken, beten und mit einem Pater über seine Pläne sprechen. An einem der letzten Tage dort erlebt mein Vater etwas, was er noch heute bildlich vor Augen hat:
    "Ich hatte die Entscheidung schon getroffen: Ich gehe zurück und sage, dass ich heiraten will. Ich bin dann einen Weg gegangen zum Kloster Einsiedeln. Es geht übers Gebirge und ich kam in Schnee rein, damit habe ich nicht gerechnet. Es waren keine Wegmarkierungen mehr zu erkennen. Ich habe mich durchgekämpft, meinem Orientierungssinn vertrauend. Und bin dann ziemlich durchnässt angekommen. Ich habe dort gebetet, was gegessen und bin auf einem anderen Weg zurück. Dort war das Schöne: Ich bin durch blühende Landschaften gegangen. Es war auf einmal Frühling. Ich habe das als einen inneren Prozess erlebt. Ich habe mich durch etwas Schweres durchgekämpft. Aber mein Weg endete nicht im Schneegestöber, sondern führt in das neue Leben im Frühling."
    Eine innere Entscheidung zu treffen ist die eine Sache. Der schwerste Gang steht meinem Vater aber noch bevor:
    Er will vor seine Gemeinde treten und ihr mitteilen, dass er heiraten wird und deshalb seinen Beruf aufgeben muss. Normalerweise schickt die Kirche jemanden, der das macht. Der Priester ist dann von einem auf den anderen Tag verschwunden. Das will mein Vater nicht.
    "Das war ein Gottesdienst am Palmsonntag. Ich war vorher aufgeregt wie noch vor keinem anderen Gottesdienst. Nicht nur aufgeregt, auch bewegt, weil damit die Öffentlichkeit hergestellt wird und ich der Gemeinde, der gegenüber ich mich auch verantwortlich gefühlt habe, erklären muss, dass ich einen neuen Weg gehe. Dann habe ich am Anfang gesagt, dass es keine Predigt gibt, sondern ich am Ende etwas sagen möchte.
    Am Ende des Gottesdienstes habe ich das der Gemeinde mitgeteilt. Ich habe mit den Tränen gekämpft, konnte die nicht ganz unterdrücken, war sehr bewegt und hab gespürt, dass auch in der Gemeinde eine große Betroffenheit und Bewegung da ist. Und dann kamen auch gleich eine ganze Reihe von Reaktionen, dass die Leute auf mich zukamen, haben mich umarmt, haben mir alles Gute gewünscht und haben gesagt, toll, dass ich das so offen und ehrlich sage. Es war sehr viel Nähe zu spüren auch von der Gemeinde. Sie haben an den Bischof einen Brief geschrieben, dass sie mich auch als Pfarrer mit Kind gerne behalten würden, wobei es den meisten klar war, dass das zwar eine kirchenpolitisch wichtige Aussage ist, aber die keine Chance hat, umgesetzt zu werden."
    Die Hilfe kam aus der Gemeinde
    Ein paar Monate später, im Juli, ist die Hochzeit. Meine Eltern heiraten standesamtlich, sie feiern für wenig Geld in einer alten Mühle in Rheinhessen.
    Im Oktober komme ich auf die Welt. Zuhause und ausgerechnet an einem Sonntag, wenn mein Vater sonst hinterm Altar gestanden hätte. Morgens holt er Sonnenblumen vom Feld. Die stehen bei meiner Geburt neben dem Bett.
    "Dann auf einmal kam das Kind. Das war ein wunderbarer Moment. Dann lag dieses kleine Kind bei der Mutter zunächst mal auf dem Leib und ich – war glücklich."
    Doch damit beginnen die Herausforderungen erst so richtig. Meine Mutter studiert Medizin. Mein Vater ist arbeitslos. Nicht mal Arbeitslosengeld bekommt er. Er geht zum Arbeitsamt, um sich beraten zu lassen:
    "Das war sehr ernüchternd. Ich habe mir einen Termin geben lassen. Berufsberatung für arbeitslose Akademiker. Der Herr hat mir dann gesagt: "Mit Ihrer Vorbildung und in Ihrem Alter sind Sie nicht vermittelbar." Wie ein Tritt gegen das Schienbein."
    Mein Vater hätte weiter für die Kirche arbeiten können, zum Beispiel als Religionslehrer. Dafür hätte er erklären müssen, dass es eine Fehlentscheidung war, Priester zu werden. Aber mein Vater war nicht bereit, so zu tun, als wäre das alles ein Versehen gewesen. Als wäre er eigentlich ungeeignet für den Beruf. Sie mussten einen anderen Weg finden, an Geld zu kommen.
    Nicht mal ihre Familien wollten ihnen helfen. Die Familie meiner Mutter hatte sich nach der Scheidung von ihr abgewandt. Der Vater meines Vaters war schon gestorben. Die einzige, die helfen könnte, ist damals seine Mutter, meine Oma. Doch die ist entsetzt, dass ihr Sohn sein Priesteramt für eine Frau aufgegeben hat. Sie ist so enttäuscht, dass sie weder mich noch meine Mutter kennenlernen will. Geschweige denn, dass sie uns Geld geben will.
    Was meine Familie rettet, sind die vielen Freunde, die mein Vater sich als Pfarrer gemacht hat. Er ist in seinen Gemeinden immer beliebt gewesen. Die Menschen vertrauen ihm – auch jetzt, da er kein Priester mehr ist. Sie leihen ihm Geld. Ein Bankdirektor gibt meinem Vater einen Kredit mit den Worten: "Sie sind für mich immer noch kreditwürdig, Herr Pfarrer." Damit kommt meine Familie erst mal über die Runden.
    Günther Götz hält seinen Sohn Sören als Baby auf dem Arm
    Günther Götz mit seinem Sohn Sören (Sören Götz)
    Der Glauben bleibt
    Einige Monate nach meiner Geburt hat sich meine Oma von dem Schock erholt und besucht uns doch noch. Als meine Großmutter mich auf dem Arm hat, ist sie nicht mehr böse. Sondern eine stolze Oma, erzählt meine Mutter. Zu meinem Vater sagt meine Oma dann sogar:
    "Ich schmeiß jetzt nichts mehr in den Klingelbeutel. Wenn die Kirche dir nichts gibt, kriegt sie auch nichts mehr von mir."
    Ein wenig Hilfe bekommt mein Vater aber doch noch von der Kirche. Als er sich für eine Ausbildung zum Supervisor entscheidet, unterstützt ihn die Kirche finanziell dabei. Als Supervisor reflektiert er bis heute zum Beispiel mit Mitarbeitern von Kindergärten oder Hospizen über ihre Erlebnisse. Es geht darum, wie es ihnen in ihrem Beruf geht und wie sie zufriedener werden können.
    Meine Mutter hat irgendwann ihr Medizinstudium abgeschlossen und sich zur Fachärztin für Psychiatrie und Psychotherapie ausbilden lassen. Dafür musste sie an verschiedenen Kliniken arbeiten, in verschiedenen Städten. Teilweise ist sie nur am Wochenende nach Hause gekommen. Deshalb hat sich vor allem mein Vater um mich gekümmert. Es war für mich immer selbstverständlich, dass mein Papa die meiste Zeit zuhause ist, für mich kocht und mich ins Bett bringt. Von seiner Vergangenheit habe ich nur etwas mitbekommen, wenn ihn wieder mal jemand mit "Herr Pfarrer" angesprochen hat.
    Bis heute betet mein Vater mehrmals am Tag und geht jeden Sonntag in den Gottesdienst. Über die Jahre hat er sich damit abgefunden, kein Priester mehr sein zu können. Und auch wenn er hofft, dass das Zölibat endlich abgeschafft wird, ist er nicht wütend auf die Kirche. Er hat andere Wege gefunden, seinen Glauben und seine Identität zu leben. Vergangenes Jahr war der 50. Jahrestag seiner Priesterweihe. Offiziell ist er immer noch Priester, nur eben suspendiert.
    "Ich habe das nicht als Jubiläum gefeiert, denn zum Feiern war es mir nicht zumute. Aber es war wichtig für mich, diesen Tag bewusst zu begehen. Ich habe mich für ein Wochenende in ein Bildungshaus zurückgezogen. Ich habe viel Zeit gehabt zum Nachdenken und Beten. Es war eine schöne Erfahrung, dass das Grundgefühl an diesen zwei Tagen Dankbarkeit war. Dankbar dafür, dass ich Priester war und dankbar auch für die Zeit danach, als mein Weg in eine andere Richtung ging."
    Sein Leben mit meiner Mutter und mir zu verbringen, hat ihn genauso erfüllt wie Priester zu sein, glaube ich. Er hätte am liebsten beides gleichzeitig gehabt. Aber so hatte er eben zwei Leben nacheinander.