Etliche Gutachten belegen inzwischen systematischen Machtmissbrauch in der katholischen Kirche. Trotzdem entsteht der Eindruck, dass es sich um eine kircheninterne Angelegenheit handelt – mit kaum spürbaren Konsequenzen vor Gericht. Warum findet die Aufarbeitung der Missbrauchsskandale primär durch die Kirche selbst statt? Und warum war in der Öffentlichkeit bisher kaum etwas über Strafverfahren zu hören?
- Was passiert beim Verdacht auf sexuellen Missbrauch in der Kirche aktuell?
- Welche Strafen gibt es im kirchlichen Recht?
- Warum greift das weltliche Rechtssystem bei sexuellem Missbrauch in der Kirche oft nicht?
- Was ist das Ziel der laufenden Aufarbeitung innerhalb der Kirche?
- Was könnte die Politik für die Aufarbeitung der kirchlichen Missbrauchsskandale tun?
Was passiert beim Verdacht auf sexuellen Missbrauch in der Kirche aktuell?
Sexueller Missbrauch ist eine Straftat, sowohl im römisch-katholischen Kirchenrecht als auch im weltlichen Recht. Wenn Anhaltspunkte für eine solche Straftat vorliegen, beginnt hier wie dort ein Verfahren.
Wichtig zu wissen ist aber: Es gibt im weltlichen Recht keine Anzeigepflicht für sexuellen Missbrauch. Wer von einer möglichen Straftat weiß, muss sie also nicht melden. Zu einem Verfahren nach weltlichem Recht kommt es aber nur, wenn die Behörden auch davon erfahren.
Ansprechpartner für Opfer sexueller Gewalt
In den Bistümern gibt es Ansprechpersonen, an die sich mutmaßliche Opfer sexualisierter Gewalt wenden können. Wenn dies geschieht, wird die Plausibilität der Beschuldigungen überprüft, das heißt, die mutmaßlichen Betroffenen werden angehört, das Gespräch wird protokolliert.
Der Beschuldigte wird mit den Vorwürfen konfrontiert. Zudem muss seit 2002 jeder Missbrauchsverdacht an die Glaubenskongregation im Vatikan gemeldet werden. Diese Pflicht wurde aber nicht konsequent beachtet.
Erweisen sich die Beschuldigungen als plausibel, gibt laut Leinlinien der Deutschen Bischofskonferenz „ein Vertreter des Bischofs die Informationen an die staatliche Strafverfolgungsbehörde und – soweit rechtlich geboten – an andere zuständige Behörden (z. B. Jugendamt, Schulaufsicht) weiter“.
Nur wenn das mutmaßliche Opfer dieser Weiterleitung ausdrücklich widerspricht, entfällt diese Pflicht. Doch auch diese Pflicht wurde oft missachtet – und weltliche Strafverfolgung damit teilweise unmöglich gemacht.
Welche Strafen gibt es im kirchlichen Recht?
Kirchenrecht ist kein Ersatz für staatliches Recht, sondern ein Zusatz. Die weltliche Justiz kann Haftstrafen verhängen, wenn die Schuld nachgewiesen wird. Die Höchststrafe im Kirchenrecht für Priester ist eine Entlassung aus dem Klerikerstand. Haftstrafen gibt es nicht.
Kirchliche Verfahren unterscheiden sich auch in anderer Hinsicht stark von weltlichen Gerichtsprozessen. Sie sind nicht öffentlich, das Opfer der mutmaßlichen Straftaten ist nicht der/die Betroffene sexualisierter Gewalt, sondern die Kirche. Betroffene haben nicht das Recht, als Nebenkläger aufzutreten.
Warum greift das weltliche Rechtssystem bei sexuellem Missbrauch in der Kirche oft nicht?
Für Priester gilt das weltliche Recht genauso wie für andere Menschen auch – eigentlich. Es gelang den Bistümern aber in vielen Fällen, die Strafverfolgungsbehörden herauszuhalten. Hausdurchsuchungen in bischöflichen Räumen hat es bis 2023 nicht gegeben. Betroffene und ihre Familien wurden systematisch davon abgehalten, Anzeige zu erstatten, unter anderem mit Drohungen und Schweigegeld. Verfahren wurden so lange verschleppt, bis Verjährung geltend gemacht werden konnte.
Umso größere Aufmerksamkeit erhielt am 27. Juni 2023 eine Razzia in Köln: Die Staatsanwaltschaft ließ mehrere Räumlichkeiten unter anderem im dortigen Erzbistum durchsuchen. Sie ermittelt gegen Kardinal Rainer Maria Woelki wegen des Verdachts des Meineides und der falschen Versicherung an Eides Statt. Es geht um die Frage, wann Woelki von bestimmten Missbrauchsvorwürfen wusste. Ihm würden weder Vertuschung noch eine Beteiligung an Missbrauchstaten vorgeworfen, betonte die Staatsanwaltschaft.
Verstöße gegen das Kirchenrecht ohne Konsequenzen
Wie die Gutachten zeigen, haben sich Bischöfe nicht an ihre eigenen Leitlinien gehalten, also weder ein kirchenrechtliches Verfahren eingeleitet noch die weltlichen Strafverfolgungsbehörden informiert, obwohl sie sich dazu 2010 verpflichtet hatten. Auch die Meldung an die Glaubenskongregation in Rom erfolgte nicht konsequent. Erst seit 2019 können Bischöfe nach Kirchenrecht dafür bestraft werden, vorher hatten die Verstöße gegen kirchliches Recht für sie keine Konsequenzen.
Bekamen die Strafverfolgungsbehörden doch Kenntnis von Fällen sexuellen Missbrauchs, wurde Klerikern oft besondere Milde zuteil. Ermittlungen wurden zum Beispiel eingestellt, weil die Bistumsleitung direkt bei der Staatsanwaltschaft intervenierte oder weil man auf „gut katholische“ Juristen traf, für die Priester eben doch keine normalen Straftäter waren. Manchmal genügte es auch, dass Beschuldigte bei Vernehmungen Besserung gelobten oder auf ihre Pfarrerstelle verzichteten und anderswo eingesetzt wurden.
Systematische Vertuschung von Straftaten
Trotz der systematischen Vertuschung gab es durchaus Gerichturteile gegen Priester. Wie die Gutachten zeigen, haben Bischöfe allerdings auch rechtskräftig verurteilte Täter wieder in der Seelsorge eingesetzt, ohne die Gemeinde über die Strafe zu informieren. Die Versetzung in andere Gemeinden war eine lange übliche Praxis.
Was ist das Ziel der laufenden Aufarbeitung innerhalb der Kirche?
Die Begriff Aufarbeitung bezieht sich auf Unrecht, das strafrechtlich meist verjährt ist, das aber nicht vergessen werden sollte, weil es gesellschaftlich relevant ist und viele Menschen betrifft. Das heißt, es geht bei der Aufarbeitung nicht vordringlich darum, Täter zu bestrafen, sondern um die Erforschung dessen, was geschehen ist.
Die Deutsche Bischofskonferenz hat 2018 zum ersten Mal eine große Missbrauchsstudie veröffentlicht, die sogenannte MHG-Studie, die das Ausmaß sexualisierter Gewalt durch Kleriker in Deutschland erfasst. Sie basiert allein auf der Auswertung von Akten, zeigt also nur das absolute Hellfeld. Diese Studie kommt auf 3677 Betroffene und 1690 beschuldigte Kleriker seit 1945. Jeder 20. Priester gilt als Beschuldigter.
Weitere Missbrauchsgutachten der Bistümer
Nach 2018 haben einzelne Bistümer weitere Studien in Auftrag gegeben, die sich allerdings in Methodik und Untersuchungszeitraum deutlich unterscheiden. Für manche wurden nur Akten ausgewertet, für andere auch Zeitzeugen befragt.
Die Aufarbeitung dient einerseits dazu, das Ausmaß sexualisierter Gewalt in den jeweiligen Bistümern zu bestimmen, andererseits soll geklärt werden, wie die Bistumsleitungen damit umgegangen sind. Manche Gutachten wählen einen juristischen Zugriff, untersuchen also, ob gegen kirchliches und weltliches Recht verstoßen wurde, andere einen sozialwissenschaftlichen Zugriff und fragen, wie der Machtmissbrauch möglich wurde.
Alle bisher veröffentlichten Gutachten bilden allenfalls das Hellfeld ab und basieren auf sehr lückenhaften Aktenbeständen. Nach Vorlage der Gutachten haben Staatsanwaltschaften geprüft, ob sich Anhaltspunkte für nicht verjährte Straftaten ergeben.
Im Jahr 2020 haben sich die Deutsche Bischofskonferenz und der Unabhängige Beauftragte der Bundesregierung für Fragen des sexuellen Kindesmissbrauchs (UBSKM) in einer gemeinsamen Erklärung darauf geeinigt, dass in den 27 römisch-katholischen Bistümern „Unabhängige Aufarbeitungskommissionen“ und Betroffenenbeiräte gegründet werden.
Aufarbeitungskommissionen und Betroffenenbeiräte
Diese sollen regelmäßig Berichte über den Stand der Aufarbeitung erstellen. Die Mitglieder der Aufarbeitungskommission sind Fachleute, Betroffene und Entsandte der Landesregierung. Sie werden – ebenso wie die Mitglieder der Betroffenenbeiräte – vom jeweiligen Ortsbischof berufen.
Obwohl die Vereinbarung von 2020 stammt, sind diese Gremien noch nicht in allen Bistümern eingerichtet oder aufgrund von Konflikten nur unvollständig besetzt worden, etwa im Erzbistum Köln. Die Gutachten und Studien, die bisher erschienen sind und über die in den Medien berichtet wurde, wurden in den meisten Fällen schon vor 2020 von den Bischöfen in Auftrag gegeben, sind also nicht gleichzusetzen mit den Berichten der Aufarbeitungskommissionen.
Was könnte die Politik für die Aufarbeitung der kirchlichen Missbrauchsskandale tun?
Laut Justizministerium muss sich bei der Verfolgung der Straftaten nichts ändern, weil laut Bundesjustizminister Marco Buschmann für die Kirchen kein Sonderrecht gilt. „Wenn der Verdacht von Straftaten im Raum steht, gibt es kein kirchliches Sonderrecht. Die Zeiten der Vertuschung von schrecklichen Missbrauchstaten muss endlich vorbei sein", sagte er im April 2023 der katholischen Nachrichtenagentur KNA.
Dass es kein Sonderrecht gibt, stimmt theoretisch, praktisch hat es aber aus verschiedenen Gründen zahlreiche Möglichkeiten gegeben, beschuldigte Kleriker einer Strafverfolgung zu entziehen.
Die ehemalige Bundesjustizministerin Sabine Leutheusser-Schnarrenberger (FDP) hatte in einem Tagesthemen-Interview im Februar 2010 kritisiert, dass die Kirchen nicht konstruktiv mit den Strafverfolgungsbehörden zusammenarbeiten.
Der damalige Vorsitzende des Deutschen Bischofskonferenz, der Freiburger Erzbischof Robert Zollitsch, forderte die Ministerin daraufhin auf, sich zu entschuldigen und die Äußerung öffentlich zu korrigieren. Der im April 2023 veröffentlichte Freiburger Missbrauchsbericht belastet Zollitsch schwer und ist ein später Beleg dafür, dass die Ministerin mit ihrer Kritik Recht hatte.
Die Politik fordert mehr Transparenz
Der amtierende Bundesjustizminister Buschmann hat die römisch-katholische Kirche nun erneut aufgefordert, transparent aufzuarbeiten. Das bedeutet: Die Aufarbeitung wird weiterhin der Institution selbst überlassen.
Kritiker*innen dieser Regelung fordern eine von den Kirchen unabhängige Aufarbeitung, etwa nach dem Vorbild Irlands. Dafür müsste der Bundestag die gesetzlichen Grundlagen schaffen, dazu liegt jedoch bisher keine Initiative vor. Der Forensiker Harald Dreßing, federführender Autor der MHG-Studie von 2018, forderte im Deutschlandfunk zudem eine nationale Dunkelfeldstudie. Auch dafür müsste die Bundespolitik aktiv werden.