Christiane Florin: Wer katholischer Priester werden will, muss sexuelle Enthaltsamkeit versprechen. Schon vor mehr als 50 Jahren wurde eine Zölibatskrise diagnostiziert, der damalige Papst Paul VI. sah sich genötigt, die priesterliche Keuschheit zu verteidigen. Er schwärmte in einem Rundschreiben davon, dass die "aufmerksame Selbstzucht und weise Erhebung der Seele den Menschen zu einer wunderbaren Würde" erhöhe. Die Niederungen der höheren Würdewunderweihewelt sind schon lange bekannt, Studien machen den Zölibat als einen Risikofaktor sexueller Gewalt aus.
Wie attraktiv oder wie abschreckend der Zölibat auf diejenigen wirkt, die katholische Theologie studieren, das wollten die Professoren Jochen Sautermeister und Albert Biesinger herausfinden. Sie haben vor vier Jahren 479 Theologie-Studentinnen und -Studenten an 7 deutschen Hochschulen gefragt. Ich habe Jochen Sautermeister, Moraltheologe an der Uni Bonn, vor dieser Sendung interviewt. Herr Sautermeister, warum veröffentlichen Sie die Ergebnisse jetzt erst?
Jochen Sautermeister: Dass wir die Ergebnisse jetzt erst veröffentlichen, hängt damit zusammen, dass in Deutschland die Diskussion jetzt ja auch im Nachgang der Bischofsvollversammlung vom Frühjahr und die Diskussion im Forum Priesterliche Lebensform noch mal an Fahrt aufgenommen hat. Als wir 2015 die Untersuchung gemacht haben, war es eigentlich ein anderer Kontext. Das war im Vorfeld der Amazonas-Synode und dort ging es um die Frage, die aufgrund der dortigen pastoralen Herausforderungen auch im Verhältnis von Priestern zu Gemeindemitgliedern, wie das Verhältnis ist. Und wir wollten einfach mal explorativ schauen: Wie sind denn die Einschätzungen von Theologiestudenten/-Studentinnen bei uns in Deutschland?
Das Ziel war einfach, eine Vorstudie zu machen, eine Explorationsstudie, um nach den Ergebnissen zu schauen. Und im Hintergrund war noch des Weiteren, dass der damals sehr junge Theologieprofessor Joseph Ratzinger in den 1970er Jahren schon mal gesagt hat: "Die Kirche um die Jahrtausendwende wird auch mit Priestern im Zivilberuf verbunden sein."
Plurales Lebensmodell
Florin: Was ist das – Priester im Zivilberuf?
Sautermeister: Priester im Zivilberuf ist die Vorstellung, dass Priester einen normalen Beruf, also nicht Priesterberuf, wie vergleichbar Diakon in Zivilberuf, ausüben und dann, man könnte sagen, im Nebenamt oder neben dem Hauptberuf priesterliche Dienste ausüben. Das heißt zum Beispiel, hier arbeitet jemand entweder in der Industrie oder ist im öffentlichen Dienst oder ist im Schuldienst – Religionslehrer zum Beispiel – und dann aber noch parallel dazu zum Beispiel mit den Sakramenten, einen Sakramenten-Dienst ausübt, in einer gewissen Weise auch in der Seelsorge, aber hauptamtlich eben nicht im Priesteramt.
Florin: Welche sind die wichtigsten Ergebnisse dieser Befragung unter Studentinnen und Studenten?
Sautermeister: Spannend war bei den Ergebnissen, dass wir ein relativ heterogenes Bild haben. Ich mache es an einem Beispiel fest: Knapp 30 Prozent der männlichen Theologiestudenten haben angegeben, dass sie sich durchaus vorstellen könnten, das Priesteramt zu wählen, wenn es nicht den Zölibat gäbe. Also, dass die Aussage, die immer wieder zu hören ist: "Ohne Zölibat gäbe es auch nicht mehr Männer, die für den Priesterberuf gewonnen werden könnten", aufgrund dieser Vorergebnisse zumindest hinterfragt werden sollte.
Das ist ein Ergebnis. Das andere ist, dass die Mehrheit der befragten Studierenden – die Studie ist nicht repräsentativ, deswegen sprechen wir von Tendenzaussagen, dass die Mehrzahl der befragten Studierenden sich sehr gut vorstellen könnte, sowohl Priester mit zölibatärer Lebensform als auch Priester, die Ehe leben, gemeinsam sich vorzustellen, dass das durchaus ein Zukunftsmodell sein könnte. Über zwei Drittel gaben das an. Und auch, dass ungefähr 30 Prozent der männlichen Studenten, die nicht Priester werden wollen, aufgrund der gegebenen Umstände sich durchaus vorstellen könnten, dass Priester im Zivilberuf eine Option für das eigene Leben wäre.
"Doppelte Berufung: Priester und Ehemann"
Florin: Das heißt, um jetzt noch mal auf den ersten Befund zu sprechen zu kommen, ohne Zölibat gäbe es mehr Priester?
Sautermeister: Die Studienergebnisse weisen zumindest in die Richtung hin, dass es durchaus Theologiestudenten gibt, die sich das vorstellen könnten, ja. Man könnte es auch anders sagen: Wenn man die Ergebnisse ernst nimmt, dann würde man auch die Berufungserfahrungen junger Männer ernst nehmen. Das Thema doppelte Berufung: also sowohl Berufung zum Priesterdienst, zum Priesteramt, als auch die Berufung zur ehelichen Lebensform.
Florin: Ein anderer wichtiger Punkt ist die Frage nach der Überzeugung, ob der Zölibat notwendig ist, ob man den innerlich mitträgt, oder ob man ihn nur als notwendiges Übel hinnimmt. Da sagen auf die Frage "Ich sehe in der zölibatären Lebensform grundsätzlich eine Möglichkeit zur fruchtbaren Lebensgestaltung für alle, die dazu berufen sind" immerhin 42 Prozent: "Das trifft nicht zu". Und nur 34 Prozent: "Es trifft völlig zu". Und die Studentinnen antworten noch wesentlich kritischer als die Studenten. Was machen Sie aus einem so heterogenen Ergebnis?
Sautermeister: Genau. Also, dieser Befund hat uns auch zum Nachdenken veranlasst und auch in einer gewissen Weise nicht überrascht, aber doch gezeigt, dass sozusagen die Selbstverständlichkeit des Zölibats als fruchtbare Lebensform unter den befragten Theologie-Studierenden auch jeden Fall nicht mehr so ohne Weiteres gegeben ist. Das eine ist: Offensichtlich zeigen Studentinnen eine sehr hohe Bereitschaft in der Vorstellung einer Vereinbarkeit von Priestertum und Familie. Da ist eine sehr hohe Akzeptanzbasis. Was die Vorstellung vom Zölibat als fruchtbare Lebensform für alle, die dazu berufen sind, anbelangt, zeigt sich, dass der Sinngehalt des Zölibats für viele nicht mehr so einsichtig ist.
Es gibt da noch mal eine Unterscheidung, nämlich unter der Gruppe derjenigen, die auf Priesteramt studieren – der männlichen Studenten – und derjenigen, die nicht auf Priesteramt studieren. Wie gesagt, das sind keine repräsentativen Befunde, aber doch sprechende Zahlen. Und da zeigt sich, dass für über die Hälfte der Priesteramtskandidaten, die wir befragt haben, der Zölibat so eng verknüpft ist mit dem priesterlichen Dienst und dem Priesteramt, dass sozusagen ein Priesteramt ohne Zölibat für sie weitaus unattraktiver wäre.
"Trauererfahrung nach der Entscheidung"
Florin: Die lehramtliche Auffassung dazu ist doch völlig klar. Die sagt: Der Zölibat ist notwendig für den Priesterberuf. Man sei dem Himmelreich näher, wenn man zölibatär, ehelos und keusch lebt. Es gibt Päpste, die haben zölibatär lebende Priester als engelsgleiche Wesen beschrieben. Was sagt das über die Akzeptanz des Lehramtes aus, wenn jetzt die Studentinnen und Studenten so antworten?
Sautermeister: Hier zeigt sich eine Tendenz, dass diese Vorstellung einer gewissen Überordnung der priesterlichen Lebensform mit dem Zölibat oder des geweihten Lebens gegenüber der Ehe doch nicht mehr groß geteilt wird. Das kann man ganz klar sagen. Oder anders formuliert: Im Zweiten Vatikanum wurde versucht, diese lange Zeit vorherrschende Überordnung der zölibatären, jungfräulichen oder des geweihten Lebens gegenüber der Ehe zu nivellieren, also auf gleiche Augenhöhe zu bringen, wenngleich es immer noch die Tendenzen der Überhöhung gibt. Das zeigt sich hier ganz klar, dass ein Großteil der Theologiestudierenden diese Auffassung (der Überhöhung) nicht teilen. Man kann sogar noch weitergehen, würde ich sagen. Nämlich man könnte sagen: Es geht um die Anerkennung oder die Anerkennung von Berufungen von jungen Männern. Also, die Frage: Wird die Erfahrung, dass junge Männer sich berufen fühlen zum Priestertum und zur Ehe, wird das überhaupt anerkannt und wahrgenommen?
Und das zeigen auch Erfahrungen von Kolleginnen und Kollegen an verschiedenen katholisch-theologischen Fakultäten, dass es für junge Männer, die am Ende ihres Studiums sich dann doch nicht entscheiden, den Priesterdienst anzustreben, die Priesterweihe zu empfangen, sondern sich für ein Familienleben entscheiden, dass das sehr oft auch mit Erfahrungen von Trauer verbunden ist, nämlich Trauererfahrung, eine der beiden Berufungen nicht leben zu können. Ich denke, das sollten wir schon theologisch zum Nachdenken nehmen. Zumal, wenn man das auch sagen kann, die katholische Kirche kennt ja im Blick auf die Unierte Kirche auch verheiratete Priester oder auch mit der Anerkennung von verheirateten Priestern, und zwar von Lutheranern oder Anglikanern, die konvertiert sind. Insofern lässt sich die Rede von einer notwendigen Verbindung oder einer wesentlichen Verbindung auch vor dem Hintergrund nicht einfach halten.
Schreckbild Kirchenspaltung
Florin: Ich finde dennoch die Ergebnisse nicht so eindeutig, wie es jetzt in unserem Gespräch erscheinen mag, nämlich eindeutig in Richtung Reform. Die Frage stellt sich auch: Wie hart ist das Nein derjenigen, die sagen: "Ich kann mir nicht vorstellen, dass ein Priester nicht zölibatär lebt"? Wie steht es um dieses Schreckbild des Schismas, das nun in der Katholischen Kirche sehr oft bemüht wird, dieses Schreckbild der Spaltung? Dass dann Leute sagen: "Nein, also, wenn das so ist, dann bin ich nicht mehr dabei."
Sautermeister: Ja, dieses Schreckbild wird tatsächlich häufig bedient. Ich frage mich auch immer: Was für eine argumentative Kraft hat so ein Schreckbild? Wir als Theologen, als Wissenschaftler, wir möchten erst mal Argumente prüfen und auch auf eine solide wissenschaftliche Basis das stellen. Aufgrund dieser Basis, kann man sagen, gibt es keine zwingenden Argumente und Befunde, die notwendig sagen, hier lassen sich nicht Veränderungen oder Öffnungen ergeben. Ich glaube, das ist ein ganz wichtiger Befund.
Was das für Auswirkungen hat auf die Frage, wie geht es Betroffenen? Also diejenigen, die sagen, ich kann mir das gar nicht vorstellen, Priester, die verheiratet sind oder Priester im Zivilberuf, könnte man die Rückfrage stellen: Was sind deren Argumente? Ich glaube, dass es oft - und das erleben wir ja nicht nur bei dem Thema Zölibat, sondern, glaube ich, auch bei vielen anderen Themen im Moment - , eine Gemengelage ist aus Gründen, aus unterschiedlichen Motiven und aus der Möglichkeit, sich Dinge vorstellen zu können oder nicht. Ich glaube schon, das hängt auch mit Fragen von Identität und Flexibilität zusammen.
"Wir haben nicht nach der Sexualmoral gefragt"
Florin: Ein Thema, nach dem Sie nicht ausdrücklich gefragt haben, das aber trotzdem eine Rolle spielt, wenn es um die verheirateten Priester geht, ist auch die Sexualmoral. Also, wenn Priester verheiratet sind, dann leben die eben nicht mehr keusch. Was bedeuten denn die Befunde, was die Sexualmoral angeht? Also, ist Sex nichts Schmutziges mehr?
Sautermeister: Wir haben nicht explizit nach der Sexualmoral gefragt. Aber die Selbstverständlichkeit, wie hier die Verbindung von Ehe und priesterlicher Lebensform auch von vielen der Befragten gesehen wird, zeigt auch sehr klar, dass Sexualität nichts mit Unreinheitsvorstellungen zu tun hat. Ich denke, das ist ganz wichtig. Also, das sind so alte Vorstellungen, die auch tradiert wurden, aber eigentlich längst überholt sein sollten, nämlich Sexualität hat was mit Unreinheit zu tun und Unreinheit bedeutet auch, dass es für kultische Vollzüge problematisch ist. Es gab ja so ältere, frühere Begründungsfiguren. Darauf haben wir keinerlei Hinweis, dass das noch so gesehen wird, zumindest nicht explizit geäußert.
Florin: Aber, wenn von den "Viri probati" die Rede ist, also von den verdienten verheirateten Männern, die eventuell zu Priestern geweiht werden könnten, dann heißt es doch, dass das Männer sind, die jetzt nicht mehr im sexuell aktivsten Alter sind. Oder verstehe ich da was falsch?
Sautermeister: Oh, über das sexuelle Leben von Viri probati zu spekulieren, ist natürlich so eine Sache. Wenn ich es jetzt mal so sexualwissenschaftlich betrachte, hört Sexualität ja nicht ab einem gewissen oder einem bewährten Alter auf, sondern es transformiert sich und lebt auf eine gewisse andere Weise fort. Insofern würde ich sagen, wäre es fatal, wenn die Vorstellung ist, Viri probati würde bedeuten, das Thema Sexualität sei irgendwie über die Hintertür dann doch wieder außen vor gelassen.
Florin: Sie haben – wir haben es mehrmals angesprochen – auch Studentinnen befragt, die in vielen Punkten deutlich anders antworten als ihre männlichen Kommilitonen. Sie haben die Studentinnen aber nicht gefragt, ob auch sie sich vorstellen könnten, Priesterin zu sein, ob auch sie mal ein Berufungserlebnis hatten. Warum nicht?
Sautermeister: Genau diese Frage haben wir vor dem Hintergrund, dass es damals im Kontext der Vorbereitung für die Amazonas-Synode bzw. im Vorfeld war, ganz bewusst außen vor gelassen, weil wir gesagt haben: Wir wollen unter den realistischen Bedingungen schauen, vor dem Hintergrund, was ist sozusagen im Moment möglich. Wir wollten ganz bewusst die Fragen trennen. Wir sind, glaube ich, derzeit in einem kirchlichen Diskussionsprozess oder in einem Prozess in Kirche, wo man auch dosiert vorgehen muss und auch schauen muss: Was ist unter den jeweiligen möglich und realistisch? Aber Sie haben vollkommen recht. Das wäre eine ganz eigene Studie und wäre auch wirklich wert zu fragen unter Theologiestudentinnen, unter Frauen. Ich denke auch, hier wäre eine Befragung unter Ordensfrauen ein ganz wichtiger Punkt, zu fragen, wie ist denn ihre Berufungserfahrung. Berufungserfahrung für Priester – gibt es solche? Wie werden sie erlebt? Wie werden sie zum Ausdruck gebracht? Ich glaube, das ist das eine. Und das andere, was auch in die Diskussion kommt, aber das haben wir nicht befragt, ist das Diakonat der Frau.
"Frauenfrage - behutsam vorgehen"
Florin: Also, erst fällt der Zölibat und dann eventuell könnte man mal nachfragen, wie das mit den Diakoninnen oder Priesterinnen sein könnte? Sehen Sie so die Reihenfolge?
Sautermeister: Bzw. fragen kann man sicherlich früher. Ich denke, auch für eine Wissenschaft ist auch ein früheres Fragen durchaus angezeigt. Wir wollten uns jetzt sozusagen, was den Diskussionskontext, jetzt auch in den Möglichkeiten der Schritte, jetzt auf diesen Bereich konzentrieren, um hier auch Argumentationshilfe zu geben, wenn sich auch für die deutschen Bischöfe oder bzw. in der Weltkirchliche jetzt hier die Fragen stellen. Aber ich denke, sozusagen Dinge trennen, dass es nicht vermischt wird, ich glaube, da muss man auch dann behutsam vorgehen, damit man eine Chance hat sozusagen, dass die Zahlen und die Befunde, die für die jeweilige Frage wichtig sind, auch Gehör finden können.
Florin: Glauben Sie denn, dass Mehrheitsverhältnisse überzeugend wirken in einer Kirche, die doch immer betont, ihr geht es nicht um Mehrheit, sondern um Wahrheit?
Sautermeister: Das ist eine gute Frage. Die Mehrheit kann für sich gesprochen niemals sozusagen das Argument für sich buchen. Ich glaube, es geht hier auch um die Frage, das Ernstnehmen von Erfahrungen, auch das Ernstnehmen des Erfahrens des Glaubenssinn von Gläubigen. Ich glaube, das ist so der Knackpunkt. Das ist die Erfahrung, die wir - das war in der Diskussion um Amoris laetitia in der - die Frage haben wir jetzt in der Diskussion um die Sexualmoral, bei Fragen des Zölibats. Die Frage: Werden die Erfahrungen von Gläubigen ernst genommen, auch in ihrem theologischen Gehalt? Oder sind das Erfahrungen, die deshalb schon nur bedingt ernst genommen werden können oder dürfen, weil sie mit den Vorstellungen von Lehre, wie sie existieren, gar nicht wirklich Gültigkeit beanspruchen können? Papst Franziskus hat mal in dem Schreiben "Evangelii Gaudium" so formuliert: Die Wirklichkeit steht über der Idee. Und hat das auch in "Amoris laetitia" noch mal ausgefaltet. Ich glaube, wir sind in einer Zeit, wo wir hier nochmals, dass es gut ist, dass wir erneut nachdenken und vor allem die Erfahrung der Gläubigen ernst nehmen.
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