In dem Dokumentar-Film "Francesco" sagt Papst Franziskus, Homosexuelle hätten "das Recht, in einer Familie zu sein". Der Staat solle für zivile Partnerschaften einen Rechtsrahmen schaffen. Obwohl der Inhalt also nicht neu war, wurde das Film-Zitat wie eine Sensation kommentiert, je nach Einstellung der Kommentierenden mit Begeisterung oder mit Entsetzen. Es gibt ja Kirchenkreise, die Franziskus für nicht mehr katholisch halten, in Rom fand sogar eine kleine Kundgebung statt, bei der Rechtgläubige um Klarstellung baten. Um die vermeintliche Verwirrung in sexualmoralischen Fragen zu beenden, hat Anfang der Woche das Vatikanische Staatssekretariat ein Rundschreiben an die Bischöfe weltweit geschickt. Darin heißt es, die fraglichen päpstlichen Worte seien aus dem Kontext genommen worden. Die kirchliche Lehre bleibe unverändert.
Wir haben mit Stephan Goertz gesprochen, er ist Professor für Moraltheologie in Mainz und hat gerade gemeinsam mit Christof Breitsameter ein Buch über die katholische Sexualmoral veröffentlicht, mit dem schönen Titel: "Vom Vorrang der Liebe".
Christiane Florin: Herr Goertz, waren Sie durch die Papstworte verwirrt?
Stephan Goertz: Weniger verwirrt als positiv überrascht. Angesichts der Position der Vergangenheit, die wir aus römischen Dokumenten kennen, hat der Papst doch eine Wende vollzogen, weil er nun nicht mehr absolut gegen jede Form der rechtlichen Anerkennung von gleichgeschlechtlichen Partnerschaften auftritt. Und das ist neu, das ist eine Änderung gegenüber der Position seiner Vorgänger.
Brief der Kurie: "Das erlebt man immer wieder"
Florin: Und trotzdem muss der Vatikan offenbar den Papst korrigieren. Also meines Wissens gehört der Papst auch zum Vatikan. Ist es ungewöhnlich, dass etwas Klärendes hinterhergeschickt wird zu dem, was ein Papst gesagt hat?
Goertz: Das erlebt man eigentlich immer wieder, dass die Kurie in Sorge ist, dass man eine Papst-Äußerung anders verstehen könne, als es in ihrem Sinne ist. Und dann dauert es eine Zeit lang. Jetzt hat es 14 Tage gedauert. Man wird versucht haben, einen Text zu finden, auf den sich alle am Ende einigen können. Wenn man sich den Text jetzt genau anschaut, wird eigentlich in der Substanz die Äußerungen des Papstes nicht zurückgenommen.
Florin: Aber es wird klargestellt: Es betrifft nicht die sakramentale Ehe. Das ist ja damit gemeint, wenn gesagt wird, die Lehre wird nicht geändert. Dann heißt es: Praktizierte Homosexualität bleibt weiter verwerflich, und eine sakramentale Ehe für gleichgeschlechtliche Paare wird es nicht geben.
Erklärung des Papstes: "Ein wichtiger erster Schritt zu Änderungen der generellen Haltung"
Goertz: Ja, damit habe ich auch nicht gerechnet, dass der Papst so weit geht. Aber es ist schon mal ein wichtiger Schritt, zu sagen, dass gleichgeschlechtliche Partnerschaften überhaupt rechtlichen Schutz verdienen. Dann können sie nicht vollkommen in Unordnung sein, wie man in der Vergangenheit immer gesagt hat. Von daher impliziert diese Wertschätzung eines Rechtsinstituts im staatlichen Bereich durchaus eine neue Wertschätzung solcher Verbindungen überhaupt. Und von daher würde ich das als möglichen Schritt, ersten Schritt, zu einer Änderung der generellen Haltung gegenüber solchen Beziehungen werten.
Florin: Es fällt auf, dass Homosexualität für das katholische Lehramt wie ein gefährliches Thema behandelt wird. Es gibt ein hohes Regelungsaufkommen, viele Verbote – etwa auch das Verbot, homosexuelle Männer zu Priestern zu weihen. Was ist so gefährlich aus Sicht der römischen Zentrale?
Goertz: Ich glaube, da gibt es zwei Versuche, das irgendwie zu erklären. Der eine Versuch wäre ein wenig psychologischer Natur: dass man sagt, für eine Institution, die es als ihren Goldstandard betrachtet, dass der eigene Klerus sexuelle Abstinenz lebt, zölibatär lebt wäre es höchst irritierend, Homosexualität im eigenen Klerus anzuerkennen und Homosexualität generell als Variante menschlicher Sexualität anzuerkennen. Das ist der eine Mechanismus, der da möglicherweise greift. Auf der anderen Seite geht es offenkundig um Bewahrung von Identität. Das römische Lehramt hat sich in den letzten Jahrzehnten mehrfach sehr dezidiert und sehr entschieden, sehr negativ zur Homosexualität geäußert. An dieser Stelle nun eine Änderung vorzunehmen, könnten manche als Beschädigung der eigenen Identität empfinden.
"Aus römischer Sicht keine Diskriminierung"
Florin: Kann man es so zugespitzt sagen: Diskriminierung gehört zu dieser Konfession, zu dieser Identität?
Goertz: Aus römischer Sicht wird keine Diskriminierung vorgenommen, weil man sagt: "Die Ungleichbehandlung von Heterosexuellen und Homosexuellen ist eben begründet und gerechtfertigt". Also: Aus römischer Sicht ist das eine gerechtfertigte Ungleichbehandlung. Aus unserer Perspektive in westlichen Gesellschaften ist es aber eine nicht gerechtfertigte Ungleichbehandlung, also durchaus eine Diskriminierung. Aber da unterscheiden sich die Wahrnehmungen hinsichtlich dessen, was ist gerecht und ungerecht an Ungleichbehandlung.
Menschenwürde im Katholizismus, Menschenwürde in der Moderne
Florin: Sie beschreiben in Ihrem Buch, wie die katholische Kirche, wie das Lehramt und einzelne Theologen, auf Entwicklungen ihrer Zeit eingehen. Eine neuere Entwicklung, relativ neue Entwicklung ist die Vorstellung von sexueller Selbstbestimmung. Wer die nicht anerkennt, das macht das katholische Lehramt ja nicht, verstößt gegen die Menschenwürde. Zugleich berufen sich Päpste auf die Menschenwürde. Vor allem Johannes Paul II. hat das gemacht. Wie geht das nun zusammen? Gibt es eine Menschenwürde und eine wahre katholische Menschenwürde?
Goertz: Ja, in der Tat, darauf läuft es hinaus. Unter Johannes Paul II. haben wir ein Verständnis von Menschenwürde im Sinne der Wesenswürde von Frauen und der Wesenswürde von Männern. Also: Frauen und Männer sind grundsätzlich verschieden. Und in dieser Verschiedenheit haben sie auch eine jeweils besonders ausgeprägte Würde. Im modernen philosophischen Sinne, etwa in der Tradition von Kant, würden wir sagen: Würde beruht auf der gleichen Freiheit eines jeden Menschen ist also Freiheitswürde und nicht Wesenswürde. Und diese unterschiedlichen Konzepte führen dazu, dass beide Seiten sich auf Würde berufen, aber zu ganz unterschiedlichen Schlussfolgerungen gelangen.
Emanzipatorischer Anspruch des Evangeliums
Florin: Hat das Christentum einen emanzipatorischen Anspruch?
Goertz: Ich würde sagen: von der Botschaft des Evangeliums her auf jeden Fall, weil es doch Kernbotschaft unseres Glaubens ist, dass Gott den Menschen ein Freundschaftsverhältnis angeboten hat und Gott in der Bibel den Menschen nicht demütigen will, sondern die Menschen ins Freie führen will. Also: Gott will den aufrechten Gang und nicht die Knechtschaft. Und im Christentum ist eigentlich nicht das Verhältnis von Herr und Knecht leitend, sondern eigentlich die Vorstellung einer Freundschaftsbeziehung zwischen Gott und den Menschen. Und darin steckt ganz viel Potenzial für Emanzipation, auch von sexuellen Minderheiten.
Florin: Aber warum ist die katholische Kirche dann nicht Vorreiter bei der Emanzipation oder bei der, wie Sie schreiben, Entpathologisierung, Entkriminalisierung von Homosexualität? Es sind ja heute noch manche davon überzeugt, dass Homosexuelle geheilt werden müssten von einer Krankheit.
"Das katholische Christentum steckt in mittelalterlichen Überzeugungen fest"
Goertz: Ja, das liegt daran, weil historisch betrachtet, das katholische Christentum bis heute, wenn man es mal scharf formuliert, zum Teil in mittelalterlichen Überzeugungen feststeckt. Also ich kann es an zwei Beispielen deutlich machen: Es gibt die frühmittelalterliche Überzeugung, dass Sexualität zum Beispiel unrein macht, dass Sexualität den Menschen befleckt, dass Sexualität dazu führt, dass der Kontakt zum Heiligen untersagt werden muss. Und diese Angst vor der Befleckung führt zu einer sehr pessimistischen Sicht auf Sexualität, auch auf Frauen, die dadurch nämlich per se kultunfähig sind. Und diese Vorstellung des Mittelalters, die eigentlich gar nicht biblisch ist, steckt der katholischen Tradition so in den Knochen, dass man sich kaum davon lösen kann.
Das zweite Beispiel wäre letztlich auch die mittelalterliche Überzeugung, dass es in der Sexualität entscheidend darauf ankommt, dem Naturzweck der Fortpflanzung gerecht zu werden. Also im Mittelalter gab es noch nicht die Vorstellung, dass Sexualität im Wesentlichen als Ausdruck von Liebe menschenwürdig gelebt wird, sondern man dachte: Der Mensch, wie das Tier, hat den Zweck zu verfolgen, sich fortzupflanzen. Dafür ist die Sexualität da, und dafür ist die Ehe da. Und diese alten Traditionen, von denen hat man sich bis heute eigentlich nicht wirklich gelöst. Und man müsste hinter diese Tradition zurückgreifen auf biblische Impulse, die in eine andere Richtung gehen.
Was wäre, wenn die Liebe in der Lehre Vorrang hätte?
Florin: "Vom Vorrang der Liebe" heißt ihr Buch. Was würde es für die Lehre bedeuten, wenn die Liebe Vorrang hätte?
Goertz: Das würde bedeuten, dass nicht länger entscheidend ist, ob etwas etwa vermeintlich "naturgemäß" oder "naturwidrig" ist, sondern man würde fragen: Ist eine Beziehung, ist die Sexualität liebevoll oder lieblos? Ist sie verantwortungsvoll oder rücksichtslos? Also wir würden personale Kriterien anlegen, wir würden sagen: Ist das Ausdruck von Liebe, dann ist es dann menschlich in Ordnung und moralisch gerechtfertigt. Dann kämen wir zu ganz anderen Urteilen über viele Bereiche der menschlichen Sexualität, die bisher tabuisiert und rein negativ bewertet werden. Ich denke, das wäre eigentlich so der Durchbruch zu einer anderen Sicht auf Sexualität und Geschlechtlichkeit.
Florin: Bishin zu einer sakramentalen Ehe für homosexuelle Paare?
Goertz: Das wird in der Theologie durchaus angedacht, dass man sagt: Wenn wir eine verbindliche Liebesbeziehung vor uns haben, die im Zeichen des christlichen Glaubens versucht, ihr zu leben, dann kann die Unterscheidung zwischen Heterosexualität und Homosexualität nicht mehr der entscheidende Punkt der Differenz sein. Es bleiben Unterschiede. Aber wenn wir sagen: Die gläubige Haltung, aus der heraus ein Paar versucht, die eigene Beziehung zu leben, ist das Entscheidende, ist das Sakramentale, dann könnte man tatsächlich in diese Richtung weiterdenken. Und das versuchen auch erste Theologen und Theologinnen, da den Begriff von Sakramentalität auch etwas anders, etwas neu zu denken.
"Es gibt diese Tradition nicht"
Florin: Die Diskriminierung von Homosexuellen ist (mindestestens) so alt wie die katholische Kirche selbst, sie ist älter. Es ist kein rein katholisches und auch kein rein kirchliches Thema. Aber ist es nicht zu einfach zu sagen: Da wurden ein paar Bibelstellen falsch verstanden, da muss man jetzt mit einer moderneren Theologie rangehen. Wir interpretieren da etwas neu und dann geht das schon. Also: Kann man einfach tausende Jahre so wegwischen, hinter sich lassen, ohne dass da mal deutlich ein Bruch markiert würde?
Goertz: Also, ich würde als erstes mal sagen, dass Homosexualität eben nicht schon Jahrtausende alt ist, sondern unser Verständnis von Homosexualität ist Produkt des 19. und 20. Jahrhunderts. In der Vergangenheit gab es für Menschen eigentlich keine Homosexuellen. Alle Menschen waren heterosexuell und haben ihre Heterosexualität pervertiert, wenn sie gleichgeschlechtlich ihrer Liebe Ausdruck gegeben haben. Wir wissen eigentlich erst seit 150 Jahren, dass es tatsächlich Homosexualität als Variante der sexuellen Identität eines Menschen gibt. Und von daher ist es schwierig und problematisch, jetzt auf Zeugnisse der Tradition zurückzugreifen, um mit denen etwas zu verurteilen, was es in der Vergangenheit so als Phänomen bewusst noch nicht gegeben hat.
Florin: Und das heißt?
Goertz: Das heißt, dass wir dort gar keine Jahrtausende alte Tradition haben, die wir verteidigen müssen. Wir müssen unterscheiden: Was hat man in der Vergangenheit über gleichgeschlechtliche Sexualität gedacht? Was wissen wir heute über eine solche Sexualität? Und es wäre heute eher Ausdruck der Lernfähigkeit, auch einer religiösen Tradition, moderne Wissensbestände, moderne Erfahrungen anzuerkennen und dann im Lichte der eigenen biblischen Lehre neu zu deuten. Und von daher, denke ich, ist das eine Möglichkeit, die auch dem katholischen Christentum durchaus offen steht. Es gibt ja Beispiele in anderen Bereichen, dass man das auch getan hat.
"Haltung der Traditionalisten theologisch nicht gut begründet"
Florin: Jetzt mal etwas vereinfacht ausgedrückt, würde das bedeuten: Diejenigen, die für sich die Tradition reklamieren, haben eigentlich keine Ahnung von Tradition oder erfinden eine Tradition, um damit eine Positionen in einer aktuellen Debatte zu begründen. Das gibt es ja bei anderen Streitthemen der katholischen Kirche auch. Das heißt: Die Tradis lügen.
Goertz: "Die lügen", das ist ein hartes Wort. Ich würde sagen, sie haben die Tradition irgendwann eingefroren und sind nicht bereit, Tradition fortzuschreiben. Also eigentlich verraten sie die katholische Idee von Tradition. Tradition ist eigentlich der Versuch, die Überlieferung immer wieder neu im Horizont gegenwärtiger Erfahrungen zu interpretieren, zu deuten und auszulegen. Man sagt, der Katechismus sei sozusagen der letzte Stand der katholischen Doktrin und Wahrheit und alles, was darüber hinausgeht, könne dann per se sozusagen nicht wichtig sein. Eine solche Haltung ist eigentlich theologisch nicht gut begründet.
Homosexualität auf dem Synodalen Weg
Florin: Das Thema, zu dem der Papst gesprochen hat, also wie äußert sich katholische Autorität über Homosexualität, ist für Deutschland besonders interessant, weil hier der Synodale Weg begonnen hat und ein Thema auf diesem Synodalen Weg, in diesem Diskussionsprozess die Veränderung der Sexualmoral ist. Oder auf Kirchendeutsch heißt das: Leben in gelingenden Partnerschaften. Was versprechen Sie sich von dieser Diskussion?
Goertz: Puh. Also ich verspreche mir davon, dass man versucht, in der deutschen Kirche zu einer Haltung in Fragen von Sexualität und Geschlechtlichkeit zu kommen, die auch auf der Höhe des sittlichen Bewusstseins der Katholiken und Katholikinnen in Deutschland sind, und man sich löst von den Fesseln der Vergangenheit, die Wurzeln haben in letztlich antiken und mittelalterlichen Überzeugungen. Und dass man selbstbewusst versucht, das Evangelium zu inkulturieren in den Kontext einer modernen demokratischen Gesellschaft. Und dass man dann auch beispielhaft beim Thema der Segnung homosexueller Beziehungen versucht, über die bisherige Position hinauszukommen und das als Votum der deutschen Kirche auch in die Diskussion der Weltkirche einzuspeisen.
"Position, die man aus ethischen Gründen nicht mehr weiter vertreten kann"
Florin: Die Gräben sind tief, mutmaßlich, weil es, wie Sie vorhin gesagt haben, vor allem um Identität geht. Und wie tief die Gräben sind, das sieht man auch an Papieren des Synodalen Weges. Es gibt einen Papier, ein Vorbereitungspapier zur Sexualmoral, da verläuft tatsächlich eine Trennlinie zwischen den Positionen. Etwas schematisch gesagt: Links steht die Segnung homosexueller Paare und rechts steht, Homosexuelle sollten keusch bleiben. Wie soll da ein Kompromiss möglich sein?
Goertz: Ja, vielleicht ist da auch ein Kompromiss gar nicht mehr möglich, sondern vielleicht sind wir in der Phase, zu einer Klärung zu kommen, und in der Phase, wo wir auch mit einer deutlichen Mehrheit zu der Überzeugung kommen, dass bisherige Positionen aus ethischen Gründen nicht mehr weiter vertreten werden können. Das haben wir bei anderen Themen in der katholischen Kirche auch schon gehabt. Nehmen Sie das Beispiel Religionsfreiheit, Todesstrafe. Da hat man irgendwann auch erkannt, da helfen uns Kompromisse nicht weiter, sondern da müssen wir auch eine klare Position beziehen. Und es geht um ethisch sehr wichtige Fragen. Und ich würde mir schon erhoffen, dass man da auch zu einer Klarheit kommt. Und dann müssen sich diejenigen, die am Bisherigen festhalten, entscheiden, wie sich dazu positionieren wollen.
"Es gibt Bischöfe, die sagen, die Kirche müsse sich bei Homosexuellen entschuldigen"
Florin: Gehört zu dieser ethischen Position auch, dass Leid vermieden wird? Oder ich kann anders fragen: Fügt die katholische Kirche mit ihrer Haltung zur Homosexualität Menschen Leid zu?
Goertz: Absolut, das hat sie in der Vergangenheit getan. Das tut sie weiter. Wenn sie dann negativ über Homosexualität spricht, wenn sie sagt, das ist objektiv ungeordnet und so weiter. Ich kenne viele schwule und lesbische Gläubige, Freundinnen und Freunde, die da weiterhin sehr gekränkt sind, wenn es solche Äußerungen gibt. Und es gibt auch Bischöfe, die sagen, dass sich die katholische Kirche entschuldigen muss bei den Homosexuellen, weil sie ihnen eben in der Vergangenheit solche Missachtung entgegengebracht hat und ihnen Leid zugefügt hat.
"Man will der Überzeugung sein, dass diese Kirche ethisch bewohnbar ist"
Florin: Es gibt auch die Position, die ziemlich verbreitet ist, die lautet: Wen interessiert überhaupt noch eine modernisierte Sexualmoral? Wer lebt nach dem noch, was der Vatikan jetzt verkündet - Verbot von Verhütung und so weiter und so fort? Und wer würde nach einer neuen Sexualmoral leben? Also, das Thema sei eigentlich weg. Wie stehen Sie dazu? Wenn Sie ein Buch dazu schreiben, glaube ich ja, dass Sie nicht der Ansicht sind, das Thema ist weg.
Goertz: Praktisch können wir feststellen, dass sich die meisten Katholikinnen und Katholiken emanzipiert haben von den strengen, rigorosen Verboten der Vergangenheit und nach ihrem Gewissen handeln. Das stimmt. Auf der anderen Seite will man auch als Mitglied der katholischen Kirche der Überzeugung sein, dass diese Kirche ethisch bewohnbar ist, dass man nicht ständig in den Zwiespalt lebt, natürlich dem eigenen Gewissen zu folgen, aber Teil einer Institutionen zu sein, deren offizielle Lehre das weiterhin als sündhaft oder falsch beurteilt. An diesem Zwiespalt, den Katholikinnen und Katholiken seit Jahrzehnten aushalten, da doch dazu zu kommen, dass es da zu einer Symmetrie von eigenen Gewissensüberzeugungen und kirchlicher Lehre kommt.
Florin: Dann werden aber die Vertreter der lehramtlichen Position, diejenigen, die sagen, das ist völlig richtig, was das Lehramt sagt, erwidern: Wenn sich da etwas ändert, dann ist diese Kirche für mich ethisch nicht mehr bewohnbar.
Goertz: Ja, das erleben wir in anderen Konfessionen auch, dass wir diese Auseinandersetzung haben. Und ich würde sagen: Die dürfen wir nicht scheuen. Das Christentum ist eine eminent moralische Religion und darf in solchen ethischen Kernfragen nicht auf Dauer eine unentschiedene Position einnehmen.
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.
Christof Breitsameter und Stephan Goertz: Vom Vorrang der Liebe. Zeitenwende für die katholische Sexualmoral.
Herder 2020, 176 Seiten, 20 Euro.
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