"The Best Catholics in the World" heißt das Buch des irischen Journalisten Derek Scally: "Die besten Katholiken der Welt." Der Titel greift Selbstverständnis und Selbstbetrug des irischen Klerus und der Gläubigen auf. Besonders rein, besonders tugendhaft, besonders stark sollte der irische Katholizismus sein. Die katholische Kirche half im 19. Jahrhundert, politische Demütigungen und wirtschaftliche Not zu überwinden. Das Verhältnis zwischen Kirche und Staat wurde sehr eng, Glaube und Patriotismus gehörten zusammen. "Stärker, weißer, heiliger" - wie Waschpulver sei dieser irische Katholizismus gewesen, sagt der Journalist Derek Scally im Deutschlandfunk. "Aus der Vergangenheit wurden mit einem sehr weiß waschenden Waschpulver alle grauen Flecken weggespült und alles mit heiligem Wasser ordentlich durchgewaschen. Dieser Katholizismus ließ keine Ambivalenz zu."
Doch Ende der 1990er-Jahre wurde die sexualisierte Gewalt durch Priester in Irland bekannt. Einige Jahre später schockierten die Funde von Kindergräbern auf dem Gelände ehemaliger Heime die Öffentlichkeit. Auch das Schicksal unverheirateter Mütter - ihre Arbeit in sogenannten "Wäschereien" - wurde bekannt. Die Regierung ließ die Geschichte von Gewalt und Misshandlung gegenüber Kindern und Frauen aufarbeiten, zuletzt erschien Anfang 2021 ein umfassender Bericht.
Derek Scally arbeitet seit 20 Jahren als Deutschland-Korrespondent der "Irish Times". Er war Messdiener in einer Gemeinde, deren Priester ein Missbrauchstäter war. Für sein Buch reiste er unter anderem an diesen Ort zurück. "Ich wollte wissen, welche Spuren das hinterlässt. Was haben Leute gewusst über diesen Priester? Und was hätte man wissen können? Das Haus war immer voller Kinder. Sein Auto war voller Kinder. Damals als Teenager fand ich das merkwürdig. Ich wollte einfach wissen: Was haben die Erwachsenen von damals gedacht?" Die Antworten: "Es ist ein sehr gemischtes Bild. Die Nachbarn sagen: ,Ich wusste nicht, was da drin mit den Kindern passiert ist.' Ich fragte: ,Und ließen sie ihre Kinder da reingehen?' Antwort: Nein, nein. Also: Die Spuren sind da. Der Traumata sind da und die Opfer sind da."
Derek Scally lobt einerseits, dass die irische Regierung den sexuellen Missbrauch und die Geschichte der Mutter-Kind-Heime unabhängig von einer Kommission aufarbeiten ließ. Andererseits vermisst er eine breite gesellschaftliche "Vergangenheitsbewältigung", wie er es nennt. Er sucht in seinem Buch Antworten auf die Fragen: Wie war es möglich? Warum wussten alle davon und schwiegen dazu? Im Interview sagt er: "Es gab Opfer, es gab Täter, es gab Mitwisser. Und dann – vierter Schritt - gab es die Bevölkerung. Es gab die Gläubigen, die Priester gesehen haben und nichts wissen wollten."
Noch immer stünden die Missbrauchsopfer - er nennt sie "Survivors", Überlebende - am Rande der Gesellschaft: "Was sie noch immer nicht sind: Menschen. Die Tragik der Aufarbeitung in Irland ist, dass diese Leute damals außerhalb unserer sozialen Ordnung standen. Sie mussten versteckt werden, weil sie nicht zu unserem perfekten Bild passen. Auch heute werden sie als etwas anderes, als eine Gruppe von Menschen gesehen, die irgendetwas verlangen. Sie wollen eigentlich nur ihre Menschenrechte. Dass sie Rechte haben, ist vielen Leuten immer noch nicht klar. Sie wollen nur das, was alle Menschen verdient haben, was ihnen zusteht. Sie werden teilweise immer noch als Störer gesehen, als Leute, die nicht zufrieden sein werden. Dass sie immer noch kämpfen, ist für mich ein Zeichen, dass die irische Gesellschaft sie immer noch nicht umarmt hat."
Die irische Gesellschaft könne von Deutschland lernen, wie man mit einer schuldhaften Vergangenheit umgehen könne. Der deutsche Staat könne von Irland lernen, dass man die Aufarbeitung des Missbrauchs nicht den Kirchen überlassen dürfe. "Sich zurückzulehnen und zu sagen, die Kirche macht es schon - ist das blauäugig? Oder ist das zynisch, zu erwarten, dass die Kirche ihre eigenen Verbrechen aufklären soll?", fragt Scally. Seine Prognose: Die katholische Kirche in Deutschland werde in fünf Jahren dort sein, wo die irische schon jetzt ist: "Die Kirche in Irland hat sich erübrigt, moralisch, politisch."
Derek Scallys Buch ist in Irland im Frühjahr 2021 erschienen und erreichte - für ihn überraschend, wie er sagt - Platz 1 der Bestsellerliste. Seinen Erfolg erklärt Scally damit, dass er nicht vom hohen moralischen Ross urteile: "Ich bin der Erste, der versucht, ohne anklagenden Ton, eher mit Empathie an diese Sache heranzugehen. Die katholische Kirche ist so hoch geflogen und so tief gefallen. Wir sind alle dabei gewesen, es ist ein Teil von uns."
Das Interview im Wortlaut:
Christiane Florin: Was haben Sie vom irischen Katholizismus mit- oder abbekommen?
Derek Scally: Ich hatte fast eine der letzten irischen katholischen Kindheiten. Ich bin am Stadtrand von Dublin aufgewachsen in den 80er-Jahren. Es war nicht gerade eine boomende Zeit: viel Arbeitslosigkeit, Armut. Aber die katholische Kirche war da. Man hat sich nie gefragt, ob sie jemals nicht da war oder sie irgendwann nicht mehr da sein wird.
Ich habe neulich ein Verzeichnis unserer Gemeinden angeschaut. Die katholische Kirche war einfach überall: vom Sport bis hin zu den Blumendamen und dem Gärtner-Verein. Ich habe in einer modernen Gemeinde gelebt in den 60er-Jahren. Die Kirche war in der Mitte, wörtlich und bildlich – das war dieses Irland. Es war alles sehr locker. Die ersten Risse hat man gespürt in den 90er-Jahren, als die Leute einfach genug hatten von der Kirchenlehre im Sexualbereich, aber die großen Risse kamen Ende der 90er-Jahre.
Florin: Sie gehen in Ihrem Buch weit zurück bis zum Nationalheiligen Irlands, zu St. Patrick im 4./5. Jahrhundert. Sie tun das, um zu zeigen, dass Irlands Katholizismus eigentlich recht jung ist. Jedenfalls der Katholizismus, der aus der Verbindung zwischen Kirche und Staat besteht. Aber das müssen Sie erklären, warum das eine junge Erscheinung ist.
"Wie eine Waschpulverformel"
Scally: Es zwei Versionen der Geschichte des Katholizismus in Irland. Die eine ist recht alt und die andere modern. Die alte ist die, auf die alle schauen. Das ist dieses Irland des heiligen Patrick. Das sind die Mönche, die im 6./7. Jahrhundert von Irland aus nach Europa gekommen sind. Man sieht deren Spuren in Würzburg oder in Regensburg. Die haben sozusagen ganz Europa neu getauft. So haben wir das in der Schule gelernt. Diese Kirche gab es. Sie bestand über die Jahrhunderte, auch in den Zeiten der britischen Besatzung. Die Kirche war ein symbolischer Trost, ein Ort, wo unsere Identität, unser Glauben, unsere Hoffnung, unsere Trauer eine Heimat gefunden hat. Die Priester waren immer da. Diese Version der Geschichte ist wahr. Aber: Im 19. Jahrhundert wurde alles neu entwickelt, neu wie ein Waschpulver mit einer neuen Formel. Das war direkt nach der großen Hungersnot im 19. Jahrhundert.
Florin: Was war die Waschpulver-Formel?
Scally: Die Waschpulverformel war: stärker, weißer, heiliger. Aus der Vergangenheit wurden mit einem sehr weiß waschenden Waschpulver alle grauen Flecken weggespült und alles mit heiligem Wasser ordentlich durchgewaschen. Dieser Katholizismus ließ keine Ambivalenz zu. Zum Beispiel der heilige Patrick, der Gründer des Katholizismus in Irland, war ein Sklave. In den Dokumenten steht, dass Eltern oft ihre Kinder in diesen Klöstern abgegeben haben, um als Sklaven zu arbeiten, mehr oder minder. Es wurde einfach eine idealisierte Version von unserer Vergangenheit verbreitet, um zu zeigen: Die Iren waren immer heilig, die Iren waren immer die besten Katholiken der Welt.
Das war politisch gewollt und es war der Anfang dieser Verschmelzung von Katholizismus und irischer Identität in dieser Unterdrückungssituation, also das Aufkommen von irischem Nationalbewusstsein und der Aufstand gegen den Briten. Das hat sich verstärkt im 19. Jahrhundert nach der Hungersnot - eine Million Iren sind verhungert, eine Million ausgewandert. Die Kirche hat in dieser Erniedrigung etwas wirklich Wichtiges geleistet: Sie hat den Leuten Hoffnung gegeben. Die Kirche wurde nach 1850 sehr schnell auf Vordermann gebracht, innerlich gestrafft. Sie wurde sehr hierarchisch, sehr empfindlich, sehr dünnhäutig. Genau das ist dieser Katholizismus, der jetzt in Irland stirbt.
Florin: Um im Waschpulver-Bild zu bleiben: Es war ein gutes Geschäftsmodell für die Kirche und auch für den Staat.
Scally: Natürlich. Sobald die Engländer sich zurückgezogen hatten, gab es einen jungen irischen Staat. Der hatte kein Geld und die Kirche war sofort zur Stelle. Sie hatte schon viele Schulen in der Hand, aber sie hat gesagt: "Gebt uns die Verantwortung für die Schulen. Wir machen auch das Gesundheitssystem, die Sozialeinrichtungen. Wie machen das alles. Wir wollen nur die Kontrolle." Und der Staat hat gesagt: "Bitteschön." Hundert Jahre später war das einerseits ein sehr guter Deal. Die Leute haben in sehr kurzer Zeit eine sehr gute Gesundheitsversorgung und Bildung bekommen, andererseits war da diese Kontrolle, die verlangt wurde. Was das mit den Köpfen der Menschen gemacht ist, diese Folgen bekommen wir jetzt zu spüren.
"Musik, Hoffnung, Priester auf dem Podest"
Florin: Beim Wort Waschpulver stockte mir vorhin der Atem, denn das ist nicht nur ein Bild, das ist etwas sehr Konkretes in Irland. Diese "Wäschereien", diese Mutter-Kind-Heime für "gefallene Mädchen" - das ist ein besonders erschütterndes Kapitel dieser Kollaboration zwischen katholischer Kirche und Staat. Das bedeutete Zwangsarbeit für die Mütter, für die Frauen und Mädchen, die unehelich schwanger geworden sind. Es bedeutete für die Kinder, dass sie medizinisch schlecht versorgt wurden, sodass sie an eigentlich behandelbaren Krankheiten gestorben sind. Man hat die Kindergräber gefunden. Welche Ideologie steckte hinter diesen Heimen bzw. diesen, wie es dann so verharmlosend heißt, "Wäschereien"?
Scally: Im Nachhinein war es eine riesige Tragik. Ein junger Staat stand traumatisiert da, in einer Zeit, in der man nicht einmal Traumata aufarbeiten konnte. Diese Idee von Trauma-Aufarbeitung gab es vor 100, 150 Jahren nicht. Also Hungersnot, Besatzung, Massensterben, Auswanderung, alles Mögliche. Und dann kommt die Kirche. Alles wird versiegelt und darauf eine riesige Kirche gebaut. Alle gehen in die Kirche. Es gibt Musik, es gibt Hoffnung, es gibt Priester auf dem Podest. Alles wirkt toll. Diese Kirche scheint das Beste aus den Iren zu holen. Wir sind stolz auf uns. Dieser Idealismus, dieses ideale Irland darf keine grauen Flecken haben. Mit diesem Waschpulver muss alles weiß, alles rein sein. Alle, die dieses Idealbild beschmutzen - also eine schwangere Frau, die nicht verheiratet ist, oder Waisenkinder oder, oder, oder - müssen verschwinden. Das versuche ich in diesem Buch zu beschreiben: Wir haben es gewollt. Ist es nicht tragisch, dass wir es so wollten? Wir ließen uns einreden, dass wir diese Institutionen brauchen, um unser Selbstbild aufrechtzuerhalten.
Florin: Sie schreiben auch, dass diese Heime nicht deshalb abgeschafft wurden, weil Gesellschaft, Staat und Kirche sagten: "Das können wir moralisch nicht mehr verantworten." Diese Heime gibt es nicht mehr, weil die Waschmaschine erfunden wurde.
Scally: Ja. Es wurde die Geschichte erfunden, dass es einen Aufstand gab: "Lassen Sie diese Frauen frei!" Aber nein. Die beschämende Wahrheit ist, wie Sie vorhin sagten: Die Frauen waren mit Sklavenarbeit beschäftigt. Sie waren jahrzehntelang ohne Prozess, ohne Verbrechen, ohne Schuldspruch eingesperrt. Sie haben kein Geld bekommen, aber die Waschmaschine war billiger als diese Sklavenarbeit. Diese Wäschereien (mit Waschmaschinen) haben einfach ihr Geschäftsmodell unterwandert. Das ist die Tragik, von der keiner sprechen möchte.
"Die Traumata sind da, die Opfer sind da"
Florin: Ihr Buch ist einerseits eine Zeitreise, andererseits eine Reise an verschiedene Orte in Irland, unter anderem auch an den Tatort Edenmore. Dort hatte ein Priester in den 1980er-Jahren mehrere Kinder missbraucht. Wann wurde das bekannt? Und wie wurde dann darüber gesprochen?
Scally: Ja, das war unser Priester! Ich war Messdiener an der Nordseite von Dublin, in Edenmore, in den 90er-Jahren. Ich fand ihn als Person kurios. Er suchte keinen Augenkontakt und lebte immer so versteckt in seinem Haus. Als Priester fand ich ihn faszinierend, denn er war theologisch unterwegs. Als junger Messdiener fand ich das interessant. Was wir nicht wussten in den 90er-Jahren: Er hatte schon in den 60er-Jahren als junger Kaplan in einem Kinderkrankenhaus Kinder fotografiert, missbraucht und so weiter. Das war alles damals (der Kirche) bekannt. Aber das verschwand in den Akten. Eines dieser Kinder der 60er-Jahre hat den Mut gefasst, 30 Jahre später diesen Priester anzuklagen. Dann verschwand er. Ich war damals in New York und mein Bruder schrieb mir: "Der ist auf der Titelseite des 'Evening Herold'". Das ist das Haupt-Boulevardblatt des Landes. Der Priester verschwand. Dann tauchte er vor Gericht auf und verschwand ins Gericht.
Wir wussten eigentlich nichts. Deswegen bin ich zurückgegangen, denn ich wollte wissen, was das für Spuren hinterlässt. Was haben Leute gewusst über diesen Priester? Und was hätte man wissen können, wenn man es wollte? Das Haus war immer voller Kinder. Sein Auto war voller Kinder. Damals als Teenager fand ich das merkwürdig. Ich wollte einfach wissen: Was haben die Erwachsenen von damals gedacht?
Es ist ein sehr gemischtes Bild. Die Nachbarn sagen: "Ich wusste nicht, was da drin mit den Kindern passiert ist." Ich fragte: "Und ließen Sie Ihre Kinder da reingehen?" Antwort: "Nein, nein." Also: Die Spuren sind da. Der Traumata sind da und die Opfer sind da.
"Bischöfe sind emotional nicht frei"
Florin: Schon 1975 gab es eine kircheninterne Untersuchung zu einem anderen Priester, der Kinder missbraucht hatte, namens Smith. An dieser Untersuchung beteiligt war ein Kleriker, der später Bischof wurde, der Kardinal wurde, der Karriere machte: Seán Brady. Sie haben Brady getroffen. Sie haben versucht zu verstehen, warum er nichts unternommen hat. Was haben Sie verstanden?
Scally: Es ist eine Tragik von Shakespeare-Proportionen. Brady war ein junger Priester aus einfachen Verhältnissen. Die Familie meiner Mutter kannte ihn und seine Familie. Er steigt auf durch Bildung, durch die Kirche, zu höchsten Positionen. Er tritt in die Fußstapfen des heiligen Patrick, der Chef der katholischen Kirche in Irland. Aber gerade als er aufsteigt, als er ankommt, taucht dieses Gesicht aus der Vergangenheit auf, aus den 70er-Jahren. Er hat Wissen, er hat die Kinder interviewt, die von diesem Priester Smith missbraucht wurden. Er schrieb einen Bericht und sagte: "Ich finde ihn (den Priester) glaubwürdig." Der Bericht verschwand, diesem Priester - er gehörte zu einem religiösen Orden – passierte nichts. Er hat 20 Jahre lang Kinder missbraucht.
Ich habe Brady gefragt: "Warum haben Sie deren Leiden nicht an sich rangelassen?" Er sagte: "Genau das ist die Frage, die ich mit mir herumtrage." Wir hatten fünf Gespräche. Am Ende würde ich sagen: Brady ist kein Opfer. Er ist nicht unbedingt ein Täter. Er ist irgendetwas anderes. Er ist jemand, der durch seine eigene Bildung in diesem Priesterseminar so eng geworden ist, so emotional abgeschaltet ist, dass er nicht in der Lage war, das Leiden dieser Kinder an sich heranzulassen. Er wusste, dass die Kirche erwartet, dass er Treue zeigt. Es gibt verschiedene Seiten und er musste die Seite der Kirche wählen. Ganz am Ende eines Gespräch sagte er, er sei manchmal wütend auf die Kirche, dass sie so viel von ihm verlangt habe. Aber was mir am meisten in Erinnerung bleibt: Das war kein freier Mann. Ich sehe das auch in Deutschland. Man hat mit Priestern und mit Bischöfen zu tun, die nicht emotional frei sind.
Der Kardinal - ein Mittäter und einer wie wir
Florin: Sie sprachen von einer Tragödie. Sie sagten: Der Mann war nicht frei, und das würden Sie auch für andere hochrangige Kleriker sagen. Dieser Blick entschuldigt auch. Jemand, der eine verantwortungsvolle Position hat, hat auch die Verantwortung zu sagen: "Ich bin schuldig geworden. Ich habe versagt. Ich habe nicht das getan, was ich eigentlich aufgrund meines Auftrags hätte tun müssen, nämlich den Opfern zu helfen, für sie Gerechtigkeit herzustellen." Warum sind Sie da so verständnisvoll?
Scally: Verständnis ist es nicht. Ich habe lange damit gerungen. Ich würde Brady als Mittäter bezeichnen. Er hatte die Möglichkeit, einzugreifen, er hat es nicht getan. Ich habe ihn gefragt: "Wenn das Ihre Kinder wären oder Ihre Neffen, wären Sie da nicht zur Polizei gegangen oder hätten Sie nicht einen anonymen Brief geschrieben?" Er hat gesagt: "Bestimmt. Damals habe ich nicht darüber nachgedacht." Das Tragische aber ist: Er ist eine solche Provokation, genau aus diesem Grund, den Sie erwähnen. Er hätte etwas machen können. Er ist schuldig.
Juristisch aber hat er damals nichts Falsches gemacht und dadurch wird es noch komplizierter. Auch wenn man die Iren aus der damaligen Zeit anschaut: Niemand wäre auf die Idee gekommen, zur Polizei zu gehen. Mindestens 30 Leute wussten schon von diesem Missbrauchs-Priester. 30 Leute haben nichts getan. Brady ist Mittäter. Aber ich wollte seine Motivation für seine Schuld verstehen. Er gilt als Unperson, er gilt als Provokation. Am Ende frage ich: Ist er eine Provokation, weil es so klerikal eng gehandelt hat? Oder ist er eine Provokation für uns Iren, weil er eine verstärkte Version von uns selbst ist - davon, wie wir selber waren und selber gehandelt hätten, nämlich gar nicht.
Florin: In Irland gab es verschiedene Aufarbeitungsberichte: Am bekanntesten sind der Ryan-Report aus dem Mai 2009 und der Murphy-Report über Dublin aus dem November 2009. Anfang dieses Jahres, also 2021, ist ein Abschlussbericht zu den Mutter-Kind-Heimen erschienen. Wie unabhängig ist diese Aufarbeitung?
Scally: Die Aufarbeitung ist juristisch unabhängig. Es gab 2004 ein Gesetz, das unabhängige, gerichtsähnliche Untersuchungskommissionen ermöglicht hat. Der Vorsitzende ist immer ein Richter. Diese Kommissionen führen Interviews, sie dürfen Leute einladen. Die Berichte am Ende sind kein Gerichtsurteil, aber sie haben schon Gewicht. Sie gelten als unabhängig. Aber es gibt eine gewisse Enge. Sie handeln immer noch innerhalb der Gesetzesmöglichkeit von 2004, von der manche sagen, dass sie viel zu juristisch gedacht ist und nicht opferfreundlich.
Es ist wahrscheinlich das Beste, was es innerhalb der juristischen Möglichkeiten Irlands geben konnte. Es hat Erstaunliches ans Licht gebracht. Etwas, was man in Deutschland noch nicht gesehen hat: Der Erzbischof von Dublin hat gesagt: "Hier ist der Schlüssel zum Aktenschrank mit den Unterlagen des Erzbistums. Bedienen Sie sich!" Er hat sich damit unbeliebt in der irischen katholischen Kirche gemacht. Aber im Nachhinein sagen viele Leute: "Genau das musste passieren, anstatt dass die Kirche selbst die Akten sortiert."
"Kirche in Irland hat sich erübrigt, moralisch und politisch"
Florin: Die katholische Kirche Irlands war eine moralische Autorität. Was ist sie jetzt nach dieser Art von Aufarbeitung?
Scally: Sie ist das, was die deutsche Kirche in fünf Jahren sein wird, wenn sie immer noch die Aufklärungs-Verschleppung betreibt. Die Kirche ist irrelevant. Der schlimmste Fall, der passieren kann, ist, dass die Kirche sagt: "Jetzt haben wir wieder einen Bericht und wieder einen Bericht." Und dann stellt sie den Bericht vor, schaut hoch und es sitzt da keiner - weder in der Kirche noch bei den Pressekonferenzen.
Die Kirche in Irland hat sich erübrigt, moralisch, politisch. Sie macht immer noch sehr viel Arbeit im sozialen Bereich, aber es ist nicht mehr von Relevanz. Diese Kirche hatte alle Möglichkeiten, reinen Tisch zu machen. Jede Gelegenheit wurde verpasst. Deswegen ist mein Buch eine Art Gebrauchsanweisung, wie man nicht aufklärt auf kirchlicher Seite und wie man aufklären kann auf staatlicher Seite.
Florin: Was müsste der deutsche Staat tun, um es so unabhängig zu machen, wie Sie es gerade für Irland beschrieben haben?
Scally: Das Komische ist: Zu Deutschland gibt es ein ganzes Kapitel in meinem Buch, ich beschreibe die Vergangenheitsbewältigungstradition in Deutschland. Dabei konzentriere ich mich stark auf die DDR-Aufarbeitung. Roland Jahn hat ein brillantes Buch geschrieben: "Wir Angepassten". Darin sagt er: "Irgendwann müssen wir weiter schauen als auf Opfer und Täter. Wir müssen auf die 90 Prozent schauen, die angepasst sind in allen Situationen." Diesen Schritt müssen wir in Irland gehen. Obwohl ich Deutschlands Superpower in der Vergangenheitsbewältigung preise, frage ich mich manchmal in der Aufklärungsdebatte zum Kindesmissbrauch: Wo bleibt diese Bereitschaft, dieser Appetit auf Vergangenheitsbewältigung bezüglich der Kirche? Was die Vergangenheitsbewältigung zum Missbrauch in der Kirche angeht, befindet man sich in Deutschland irgendwo in den 60er-Jahren, bevor die 68er kamen und alles aufgebrochen haben.
In Deutschland ist man immer noch nicht so weit zu sagen wie in Irland: Es gibt diese unangenehme Frage. Es gab Opfer, es gab Täter, es gab Mitwisser. Und dann – vierter Schritt - es gab die Bevölkerung. Es gab die Gläubigen, die Priester gesehen haben und nichts wissen wollten. Es gab so viele Kirchenmitarbeiter! Durch dieses System der Kirchensteuer hat man so viele kirchliche Mitarbeiter in Deutschland. Alle haben anscheinend nichts gewusst. Wichtig ist dieser Schritt zur Gesellschaft: Was hat man als deutsche Gesellschaft über diesen Kindesmissbrauch gewusst? Noch ist man nicht so weit. Ich hätte gedacht, nach so viel Aufarbeitungstradition, dass man eigentlich gleich zu diesem Punkt kommt. Das ist das Wesentliche. Natürlich, die juristische Aufarbeitung ist auch wichtig, die Schuldigen muss man nennen, suchen, finden und strafen. Aber irgendwann landet man doch bei sich selber.
"Missbrauchsopfer werden als Störer gesehen"
Florin: Wenn Sie das Wort "Vergangenheitsbewältigung" benutzen – Sie verwenden es in einem englischsprachigen Buch auf Deutsch -, dann kommt sofort der Einwand: "Das ist festgelegt auf die Auseinandersetzung mit der nationalsozialistischen Vergangenheit, mit der Shoah, mit dieser Schuldfrage. Das kann man nicht so ohne Weiteres auf die sexualisierte Gewalt in den Kirchen übertragen."
Scally: Sie können einen anderen Begriff nehmen, wenn Sie wollen. Man könnte es auch juristisch betrachten. Es gibt in Deutschland immer so viele Leute, die vor Gericht gehen. Sie rennen zum Gericht wegen der EU-Schulden, Staatsanleihen oder der Pandemie-Maßnahme. Emeritierte Professoren rennen nach Karlsruhe. Wo sind die Leute, die sagen: "Ich gehe vor Gericht, weil mir zehn Jahre Aufklärung von Seiten der Kirche nicht reichen? Ich möchte das selber in die Hand nehmen." Aufarbeitung geht auf verschiedene Art und Weise, aber sich zurückzulehnen und zu sagen, die Kirche macht es schon - ist das blauäugig? Oder ist das zynisch, zu erwarten, dass die Kirche ihre eigenen Verbrechen aufklären soll?
Florin: Sie haben auch mit vielen Missbrauchsopfern gesprochen. Sie bezeichnen sie als "survivors", als Überlebende. Wie ist deren Standing in Irland? Sind sie Helden, Nestbeschmutzer, Störer?
Scally: Was sie noch immer nicht sind: Menschen. Das ist die Tragik. Ich verpasse ihnen diesen Begriff, das heißt, sie sind irgendetwas Besonderes, irgendetwas anderes. Aber ich versuche immer wieder zu zeigen, dass sie Menschen waren und sind. Die Tragik der Aufarbeitung in Irland ist, dass diese Leute damals außerhalb unserer sozialen Ordnung standen. Sie mussten versteckt werden, weil sie nicht zu unserem perfekten Bild passen. Auch heute werden sie als etwas anderes, als eine Gruppe von Menschen gesehen, die irgendetwas verlangen. Sie wollen eigentlich nur ihre Menschenrechte. Dass sie Rechte haben, ist vielen Leuten immer noch nicht klar. Die Überlebenden wollen nur das, was alle Menschen verdient haben, was ihnen zusteht.
Ihr Standing? Sie werden teilweise immer noch als Störer gesehen, als Leute, die nicht zufrieden sein werden. Dass sie immer noch kämpfen, ist für mich ein Zeichen, dass die irische Gesellschaft sie immer noch nicht umarmt hat.
"Wir sind alle dabei gewesen"
Florin: Könnte das nicht auch ein Grund dafür sein, dass auch in Deutschland kaum solidarisch für Missbrauchsbetroffene gekämpft wird? Das wird immer noch als deren eigene Angelegenheit gesehen. Es fehlt die Empathie.
Scally: Ja. Was Seán Brady gefehlt hat und was vielen von uns fehlt, ist diese Vorstellungskraft. Es gibt, wenn Berichte über Missbrauch erscheinen, sehr viel Sympathie. Wenn die Berichte rauskommen, heißt es: Alles schlimm. Aber Empathie bedeutet: Was heißt es, mit deren Schicksal, mit deren Vergangenheit zu leben? Der Erzbischof von Dublin hat gesagt: "Es hat eine Ewigkeit gedauert, bis ich das endlich an mich herangelassen habe." Aber sobald man das an sich ranlässt, lässt es einen nicht los.
Wir trauen uns nicht, diesen Leuten so nahe zu treten, weil wir irgendwann mit einer unangenehmen oder unschmeichelhaften Version von uns selbst konfrontiert werden. Wir wollen alle glauben, dass wir integere Personen sind. Wir tun unser Bestes. Aber, wenn wir sehen, was wir oder Leute wie wir in der Lage sind, anderen anzutun, dann ist das nicht so angenehm. Deswegen müssen die Opfer in der Ecke bleiben. Aber das ist eben nicht Aufklärung. Dann betreibt man immer noch dieses "Othering", also dieses "Us and Them", man zeigt auf "die da drüben".
Florin: Ihr Buch ist im Frühjahr dieses Jahres erschienen und ist ein Bestseller in Irland. Warum, meinen Sie, hat es so eingeschlagen?
Scally: Ich bin der erste, soweit ich weiß, der versucht, ohne anklagenden Ton, eher mit Empathie an diese Sache heranzugehen. Die katholische Kirche ist so hoch geflogen und so tief gefallen. Wir sind alle dabei gewesen, es ist ein Teil von uns. Auch wenn man heute nicht mehr in die Kirche in Irland geht, ist es wichtig, sich dem zu öffnen und zu fragen: Was war damals? Wie fühlte es sich damals an, ein Teil von diesem Land zu sein? Welche Möglichkeiten hatte ich? Welche Möglichkeiten habe ich nicht ausgenutzt? Schäme ich mich? Ich habe gehofft, dass das funktionieren würde. Und anscheinend hat es funktioniert. Anklageschriften und Gerichte sind sehr wichtig. Aber irgendwann kommt der Punkt, wo man Empathie einsetzen kann und muss. Und es ist erstaunlich, wie sehr Leute sich öffnen.
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.
Derek Scally: The Best Catholics in the World. The Irish, the Church and the End of a Special Relationship.
Penguin Books 2021, 20 Euro.
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