Gerhard Schröder: Frau Kipping, wir blicken in diesen Tag zurück auf 25 Jahre Wiedervereinigung. Sie selbst waren im Herbst 1989, als die Mauer fiel, elf Jahre alt. Welche Erinnerungen haben Sie persönlich an die Tage der friedlichen Revolution? War das Aufbruch, Hoffnung, Befreiung oder brach da vielmehr eine vertraute Welt zusammen?
Katja Kipping: Nein, weil meine Welt war ja eh zu dem Zeitpunkt so ein bisschen im Aufruhr, weil es begann für mich die Pubertät. Und das ist ja sowieso schon eine bewegende Zeit. Und deswegen, ich habe das irgendwann im Rückblick gesagt, ich hatte eine schöne Kindheit - auch Dank meiner Eltern -, und ich bin froh, dass ich meine Jugend dann in einer anderen Gesellschaft haben konnte. Also ich bin so froh, die Erfahrung gemacht zu haben, und bin aber am Ende froh, dass die Mauer gefallen ist. Nicht zuletzt deswegen, weil ich sonst meinen Mann nicht kennengelernt hätte.
Schröder: War die DDR ein "Unrechtsstaat"?
Kipping: Ja, das ist jetzt immer die große Frage. Und ein bisschen erinnert natürlich diese Zuspitzung auf den Begriff an den "Gesslerhut" bei Wilhelm Tell, wo alle den Hut davor ziehen müssen. Ich finde, die Formulierung, die die Thüringer da gefunden haben in den Sondierungsgesprächen, vollkommen richtig. Und die Thüringer Linke hat da, konkret auch Bodo Ramelow und Susanne Hennig, haben da meine volle Unterstützung.
Schröder: Gregor Gysi, der Chef der Bundestagsfraktion, sagt: "Diktatur ja, aber kein Unrechtsstaat!" Ist das eine Differenzierung, die Sie nachvollziehen können?
Kipping: Ja, also was ich nachvollziehen kann, ist, dass Leute, die in der DDR gelebt haben, nicht wollen, dass ihre komplette Lebensleistung allein als Unrecht abgestuft wird. Das kann ich verstehen. Für mich selber sind diese Begriffsklaubereien nicht so entscheidend. Ich finde es wichtig, dass wir sagen, es hat in der DDR Unrecht gegeben, auch deutlich machen, dass es Aspekte gibt, die es wert wären, auch im vereinten Deutschland zur Geltung zu kommen, zum Beispiel längeres gemeinsames Lernen. Und ich finde auch, dass wir deutlich machen müssen, wir haben aus den Fehlern der DDR gelernt. Genau weil wir schockiert sind über das, was die Stasi alles angerichtet hat, schauen wir heute sehr kritisch auf das Wirken von anderen Geheimdiensten.
"Es geht nicht darum, einzelne Lebensleistungen zu diffamieren"
Schröder: Können Sie auch nachvollziehen, dass Kritiker, dass auch Verfolgte des SED-Regimes sagen: Mit solch einer Differenzierung - "kein Unrechtsstaat" - da relativieren Sie die Verbrechen, die in der DDR begangen wurden"?
Kipping: Na ja, ich habe zumindest ein großes Verständnis dafür, dass Leute, die wirklich unter dem Unrecht und unter der Diktatur in der DDR gelitten haben, ein großes Interesse daran haben, dass es da eine Aufarbeitung gibt und dass auch darüber gesprochen wird.
Schröder: Aber zeigt diese Diskussion, die Gregor Gysi ja angezettelt hat, wie schwer sich die Linkspartei auch 25 Jahre nach dem Ende der DDR immer noch mit der Vergangenheitsbewältigung tut?
Kipping: Also ich habe mit Gregor Gysi darüber gesprochen, und er war selber sehr unzufrieden über die Meldung, die aus dem Interview gemacht worden ist. Er sagt, es ist sehr aus dem Zusammenhang wiedergegeben worden. Er hat sich sehr wohl kritisch zur DDR geäußert und wollte auch nicht den Thüringern in den Rücken fallen. Und ich kann nur noch mal sagen: Die Parteiführung - ich habe mich ja heute auch noch mal getroffen mit unserem Bundesgeschäftsführer und mit dem Co-Vorsitzenden -, wir stehen hier eben geschlossen hinter der Thüringer Linken.
Schröder: Das heißt, Sie würden sagen: 'Ja, die DDR war ein Unrechtsstaat'?
Kipping: Ja, wir würden sagen: Es geht nicht darum, einzelne Lebensleistungen zu diffamieren und einzelne Biografien, aber ansonsten hätten wir kein Problem deutlich zu machen, dass es in der DDR Unrecht gab. In der Vergangenheit hatten wir ein Problem damit, weil es hat halt diese Missverständlichkeit. Aber wenn es denn so wichtig ist, finde ich es wichtiger, dass man sich darüber verständigt in Thüringen, was für Flüchtlinge rauszuholen, was für längeres gemeinsames Lernen, eine bessere Kita-Ausstattung rauszuholen. Ich finde, was nicht geht ist, dass ein wirklicher Politikwechsel in Thüringen daran scheitert, dass man sich weigert, so einen Begriff dann anzuerkennen.
Schröder: Auf Thüringen kommen wir gleich noch zu sprechen. Zunächst einmal noch zur Wiedervereinigung und zum "Aufbau Ost", den wir 25 Jahre jetzt erlebt haben. Ist da jetzt zusammengewachsen, was zusammen gehört?
Kipping: Ja, privat und biografisch bestimmt. Also ich erlebe das ja in meinem Freundes- und Familienkreis, da gibt es inzwischen sehr viele Ehen und Liebschaften, die Ost-West übergreifend sind. Ansonsten sehen wir schon, dass es immer noch Unterschiede gibt Ost-West. Nicht pauschal. Also wir sagen ja auch inzwischen: Es braucht eine Neuauflage des Solidarpaktes, der sollte nicht nach Himmelsrichtungen erfolgen, sondern da soll es wirklich nach strukturschwachen Regionen gehen. Also es soll eine gezielte Stärkung von strukturschwachen Regionen geben. Und da gibt es auch im Westen welche - das ist klar. Aber wenn ich mir die Sozialdaten anschaue, da muss ich sagen, finde ich es nach wie vor unerklärbar, warum der Rentenpunkt Ost niedriger ist als der Rentenpunkt West. Zumal die Rentnerinnen und Rentner im Osten viel stärker auf die Einkommen aus der gesetzlichen Rentenversicherung angewiesen sind. Deswegen sage ich: Wenn wir den Mauerfall feiern, dann gehört dazu eigentlich auch, dass wir uns stark machen, dass Schluss ist mit der "Rentenmauer".
Wiedervereinigung: "Erfolg und Misserfolg"
Schröder: Die Bundesregierung hat zugesagt, bis 2020 spätestens, soll es eine Angleichung geben. Ist Ihnen das zu spät?
Kipping: Ja, das ist schon ganz oft versprochen worden und dann immer wieder hinausgezögert worden. Also insofern warte ich erst einmal, ob auf die Versprechen auch wirklich Taten folgen. Und zweitens, ich verstehe auch die Leute, die ungeduldig werden, die sagen: Na ja, ich habe nicht mehr so viele Jahre zu leben. Also wenn ich davon noch was haben soll, dann muss das jetzt kommen.
Schröder: Die Wirtschaftskraft und das Steueraufkommen in den ostdeutschen Ländern liegt nach wie vor ein Drittel unter dem Westniveau - trotz der vielen Milliarden, die in die neuen Länder geflossen sind. Zuletzt stagnierte der Aufholprozess sogar. Ist der "Aufbau Ost" trotzdem ein Erfolg?
Kipping: Ja, Erfolg und Misserfolg, würde ich sagen. Weil in der Tat hat sich einiges entwickelt. Andererseits muss man natürlich auch sagen, dass es bestehende Industriestandorte gab, die gezielt de-industrialisiert wurden. Ich finde, man kann auch innerhalb der Bundesrepublik Deutschland nicht so ganz eindeutig sagen: Es hat jetzt immer nur einen Transfer in den Osten gegeben. Weil es gab ja auch bestehende Unternehmen, die dadurch wieder eine Wirtschaftskraft hatten, weil sie den Absatzmarkt im Osten hatten. Also deswegen, finde ich, ist diese Aufrechnung nach Ost und West ziemlich schwierig zu machen.
Schröder: 2019 läuft der Solidarpakt aus. Eine Förderung nach Himmelsrichtung soll es dann nicht mehr geben. Das heißt, einige Regionen in Ostdeutschland brauchen dann keine Unterstützung mehr?
Kipping: Ja, also zumindest haben wir gesagt: Wir verschließen nicht die Augen davor, dass es Orte gibt wie Bremerhaven oder im Ruhrpott gibt es ja auch Regionen, die enorme wirtschaftliche Probleme haben. Und wir sprechen uns sehr wohl auch für den Länderfinanzausgleich aus, wo es halt einen Nachteilsausgleich gibt für strukturschwache Regionen. Aber eben nicht nach Himmelsrichtung, sondern zu schauen, wie ist die jeweilige Wirtschaftskraft.
Schröder: Aber wenn auch westdeutsche Regionen da bedient werden sollen, dann heißt das: Irgendwo muss es weggenommen werden, oder?
Kipping: Wir haben zum Beispiel den Länderfinanzausgleich auf ganz neue Berechnungsbasis gestellt - von links gedacht. Da bleibt nicht alles so, wie es bisher ist. Aber uns ist wichtig, es muss weiterhin einen Solidarausgleich geben zwischen starken und schwächeren Regionen.
Schröder: Konkret - was müsste getan werden, um die ostdeutschen Länder weiter voranzubringen?
Kipping: Zum Beispiel könnte man Falsches unterlassen. Also wir wissen, dass der Sanktions- oder der Wirtschafts- und Handelskrieg, den man jetzt mit Russland vom Zaun gebrochen hat in Folge der Ukrainekrise, vor allen Dingen ostdeutsche Unternehmen getroffen hat. Weil die hatten nun mal auch aus der Geschichte heraus engere Beziehungen und haben auch Absatzmärkte in Russland, und die sind davon betroffen gewesen. Deswegen habe ich immer gesagt, auch an die Adresse von Angela Merkel: Die Sanktionspolitik mit Russland ist am Ende eine Politik gegen den Osten. Und wenn man Schluss machen würde oder wenn man alles tut, um diesen Handelskrieg mit Russland zu beenden, das wäre schon eine echte Hilfe für ostdeutsche Unternehmen. Zum Zweiten meine ich nach wie vor - wir haben ja über das Rententhema gerade geredet –, es stärkt natürlich auch dann die Wirtschaftskraft im Osten, also kurbelt die Binnenkonjunktur an. Das ist ein wichtiger Punkt. Und das Dritte ist natürlich, dass man schaut, wenn Universitäten oder Wirtschaftsinstitute gefördert werden, dass es da keine Benachteiligung von ostdeutschen Standorten gibt.
Thüringen: "Politikwechsel zu mehr Bildungsgerechtigkeit"
Schröder: Das Interview der Woche im Deutschlandfunk mit Katja Kipping, der Vorsitzenden der Linkspartei. Frau Kipping, die Linkspartei hat sich etabliert als politische Kraft. Derzeit gibt es sogar Aussichten, dass Sie in Thüringen erstmals einen linken Ministerpräsidenten stellen könnten, in einem rot-rot-grünen Bündnis. Wie wichtig wäre das für die Linkspartei?
Kipping: Ja, ich glaube, dass ist zu allererst die Frage: Wie wichtig ist das für Thüringen? Also, wenn man sich das anschaut, das politische Programm, für das die Thüringer Linke und Bodo Ramelow im Konkreten als Person stehen, dann würde das schon einen Politikwechsel bedeuten. Und zwar einen Politikwechsel hin zu mehr Bildungsgerechtigkeit, zu einer ganz anderen Flüchtlingspolitik, die von Weltoffenheit geprägt ist, zu einer Arbeitsmarktpolitik, wo auch Angebot unterbreitet werden für Langzeiterwerbslose, die wirklich zukunftsfähig sind, und eine ganz andere Ausstattung von Kitas. Deswegen drücke ich natürlich den Thüringern die Daumen - gar nicht so sehr, weil wir uns dann irgendwie den Orden an die Brust heften können als Linke: 'Jetzt haben wir auch einen linken Ministerpräsidenten', sondern eher weil ich glaube, das wird etwas im Land Thüringen verändern.
Schröder: In Berlin, Brandenburg und Mecklenburg-Vorpommern haben Sie ja nicht so gute Erfahrungen als Regierungspartei gemacht - da sind Sie anschließend in der Wählergunst immer abgestürzt.
Kipping: Was zutiefst ungerecht ist.
Schröder: Was macht Sie optimistisch, dass das in Thüringen anders sein könnte?
Kipping: Ich glaube, wir haben in der Vergangenheit auch dazugelernt oder wir mussten dazulernen. Weil ja das Aushandeln von Koalitionsverträgen - da verrate ich ja kein Staatsgeheimnis - war in den ersten Fällen - in Mecklenburg-Vorpommern und in Berlin - jetzt für uns auch Neuland. Wo die anderen Parteien ausgebuffte Verhandlungsprofis hatten und wo wir vielleicht am Anfang nicht so gut aufgestellt waren. Aber da haben wir echt einiges gelernt. Und alleine der Unterschied, wie in Thüringen noch vor einigen Jahren das vorbereitet worden ist und wie professionell man da jetzt dran geht, zeigt doch, dass wir da wirklich dazugelernt haben. Das macht mich froh. Und das Zweite ist, ich glaube, die Thüringer Linke hat es im Wahlkampf geschafft und es sozusagen auch personell untersetzt, dass sie zweierlei Sachen zusammen ausstrahlt. Sie ist einerseits pragmatisch und andererseits sehr visionär und kämpferisch. Und darin besteht die hohe Kunst für linke Politik, immer beides zusammen zu bringen: Pragmatischen Realismus und kämpferischen Veränderungswillen.
Schröder: Und eine Stimme Mehrheit im Landtag für Rot-Rot-Grün, das könnte gut gehen?
Kipping: Ja, es gibt natürlich komfortablere Situationen, da braucht man sich nichts vormachen. Auf der anderen Seite, manchmal schweißt so eine knappe Mehrheit ja auch zusammen. Und zum Zweiten, die Alternativen, SPD und CDU zusammen, haben auch bloß eine Stimme Vorsprung. Und da wissen wir schon allein aus den Reihen der CDU, dass es da so viele Widersacher gibt, dass das da wahrscheinlich sogar noch schwerer werden würde. Insofern, das ist nicht leicht - das ist allen klar - in Thüringen, aber es ist nicht unrealistisch.
"Die AfD sozialpolitisch stellen"
Schröder: In Thüringen, wie in Brandenburg ist mit der Alternative für Deutschland eine neue politische Kraft auf der Bühne aufgetreten. Ist das mehr als eine Modeerscheinung?
Kipping: Das werden wir sehen. Das wissen wir zum jetzigen Zeitpunkt noch nicht. Bei den Piraten haben wir erlebt, dass sie auch einen großen Aufwind hatten und sich dann sehr schnell zerlegt haben. Ob die AfD das gleichermaßen erledigen wird, ist noch offen. Sie sind natürlich autoritärer strukturiert in der Führung, als das bei den Piraten der Fall war. Ob das jetzt für mehr Stabilität dann garantiert, weiß man noch nicht. Wir müssen die AfD sehr genau uns anschauen. Zum gegenwärtigen Zeitpunkt kann man sagen: Es ist eine ganz eigenartige Mischung aus Rechtspopulisten, die bewusst mit allen Ressentiments, die es gibt gegenüber Homosexuellen, gegenüber Menschen ohne deutschen Pass, spielen. Zum Zweiten sind sie Marktradikale, die seit Jahrzehnten sich für Lohn- und Rentenkürzungen stark machen. Und zum Dritten gibt es so einen neokonservativen Ansatz bei ihnen.
Schröder: Umso erstaunlicher ist ja, dass viele Wähler von der Linkspartei zur AfD gewechselt sind - in Thüringen, wie in Brandenburg. Ungefähr zahlenmäßig in gleichem Umfang, wie von der Union zur AfD. Wie erklären Sie sich das und wie müssen Sie darauf reagieren?
Kipping: Zunächst will ich mal sagen, es sind ja immer so um die 15.000 - also in allen drei jetzigen Landtagswahlen hat es so eine Wählerwanderung gegeben. Wobei, wenn wir uns unser gesamtes Wählerpotenzial anschauen, können wir sagen, dass nur vier Prozent unseres gesamten Wählerpotenzials zur AfD gegangen sind. Wir haben gleichermaßen oder noch in viel stärkerem Maße eher Leute in den Nichtwählerbereich verloren - das ist das eigentliche Problem - beziehungsweise es gab Austausch mit der SPD. Also man kann jetzt nicht sagen, dass die AfD allein durch linke Wähler...
Schröder: Nicht allein, aber in einem hohen Maße.
Kipping: Das zu erklären ist nicht so einfach. Natürlich, zum Einen hat die AfD profitiert von einer, ich nenne das "Anti-Politik-Establishment-Stimmung". Also sie hat halt den Eindruck erweckt, die gehörten jetzt noch nicht dazu, und wenn man die wählt, dann zeigt man denen in Berlin das mal so richtig, wo die Harke ist. Sie haben davon profitiert, aber ihr Image ist irreführend. Weil an der Spitze der AfD stehen bereits die unsozialen Eliten. Also das sind dann eher die Eliten, die so eine Ausstrahlung haben: 'Eure Armut kotzt mich an'. Das Verrückte oder das Ärgerliche ist, dass die genau von den Leuten, über deren Armut sie eigentlich angeekelt sind, eben auch zum Teil gewählt werden. Und hier würde ich sagen, müssen wir als Linke - und das können wir vielleicht im besonderen Maße - die AfD sozialpolitisch stellen.
Schröder: Das heißt?
Kipping: Na ja, mal wieder deutlich machen: Also die AfD-Vertreter reden vielleicht voll Verve über die Situation der Rentnerinnen und Rentner, aber wenn man sich das anschaut, seit Jahrzehnten haben sich die führenden Köpfe der AfD und ihre Sprecher dafür stark gemacht, dass es eher Rentenkürzungen gibt. Sie haben auf eine Privatisierung der Rente gesetzt, die immer mit einer Unsicherheit für die Leute einhergeht. Sie haben sich stark gemacht für Lohnkürzungen. Die AfD ist ja sowohl für die Schuldenbremse, wie für Steuersenkung gerade auch für Reiche und Unternehmen. Und das heißt am Ende: Die öffentlichen Kassen haben weniger Geld. Wenn die öffentlichen Kassen aber weniger Geld haben, bist du auch nicht in der Lage, eine familien- und kinderfreundliche Politik auszustatten. Weil die öffentlichen Kassen brauchen mehr Geld, um mehr Streifenpolizisten und um mehr Lehrerinnen und Lehrer einzustellen.
"Mit kritischer Haltung zu Auslandseinsätzen recht bekommen"
Schröder: Ein rot-rot-grünes Bündnis in Thüringen, mit einem linken Ministerpräsidenten, hätte das auch Signalkraft auf die Bundesebene, mit Blick auf die Bundestagswahl 2017? Glauben Sie, dass das auch eine Option sein kann dann?
Kipping: Ich denke, die Entscheidungen, die jetzt in Thüringen fallen, haben eher eine Veränderungswirkung für Thüringen. Wenn sie im Sinne von Rot-Rot-Grün fallen, das führt nicht automatisch zu Rot-Rot-Grün auf Bundesebene. Das hängt mit einer Sache zusammen: Auf Bundesebene hast du einfach andere Politikfelder, über die du dich verständigen musst. Und dazu gehören zwei: die Außenpolitik und zum Zweiten - das wird gerne außen vor gelassen - auch die Steuerpolitik. Ich muss sagen, ich habe in letzter Zeit in verschiedenen Gesprächen den Eindruck gewinnen müssen, dass weder die Grünen in Gänze, noch die SPD-Spitze, überhaupt noch ein starkes Interesse haben, über Steuern zu einer Umverteilung beizutragen. Ich meine aber: Damit du was anders machen kannst in diesem Land, brauchst du eine Umverteilung, und zwar von Millionären zur Mitte in der Gesellschaft und von privatem Reichtum zur öffentlichen Hand.
Schröder: Für Sozialdemokraten und Grüne ist der Knackpunkt eher die Außen- und Sicherheitspolitik. Müssen Sie sich da von ihren pazifistischen Grundsätzen trennen, um regierungsfähig zu werden?
Kipping: Na ja, das ist ja ungefähr so eine Forderung, als wenn man zu den Grünen sagt: 'Also ihr müsste jetzt für Atomenergie sein, damit ihr regierungsfähig seid'. Also, ich meine, unser Hauptziel ist ja, gesellschaftliche Veränderungen zu bewirken. Und ich meine, mit unserer kritischen Haltung zu Auslandseinsätzen haben wir ja eher in den letzten Jahren - leider, muss man sagen - recht bekommen. Also die Situation in Afghanistan ist nicht so, wie sie mal dann anvisiert worden ist. Wir haben jetzt erlebt, dass die IS, diese Terrormilizen, ja erst gestärkt worden sind durch militärische Intervention in dieser Region.
Schröder: Aber gerade hier stellt sich doch die Frage, gilt da der Grundsatz: Keine militärischen Interventionen, wenn wir sehen, dass die Terrormilizen des Islamischen Staates scheinbar unaufhaltsam weiter vordringen, Tausende vertreiben, ermorden? Können wir da tatenlos beiseite stehen und sagen: "Wir haben unsere pazifistischen Grundsätze"?
Kipping: Na ja, das ist ja immer die rhetorische Figur, die aufgemacht wird: 'Ihr könnt ja nicht nur daneben stehen und zusehen'.
Schröder: Wie lautet Ihre Antwort? Müssen wir da nicht militärisch eingreifen?
Kipping: Ich meine, man sollte erst einmal alles tun, was man tun kann, um menschliches Leid zu mindern, unterhalb einer militärischen Intervention. Also zum Einen, es sterben auch Menschen in den Flüchtlingscamps, weil es nicht genügend medizinische Versorgung gibt, weil es nicht genügend Lebensmittel gibt. Zum Zweiten muss man natürlich alles Mögliche tun im Bereich der humanitären Hilfe. Zum Dritten, finde ich, sollte man alles tun unterhalb einer militärischen Intervention, um der IS den Hahn abzudrehen. Also die Terrormilizen sind ja auch deswegen so attraktiv für junge Dschihadisten, weil sie ein milliardenschwerer Konzern inzwischen sind. Und wenn man jetzt sagen würde: Alle großen Mächte dieser Welt verständigen sich und fordern von allen Banken: 'Friert die Konten von allen Mittelsmännern und Vorläufern der IS ein', und wenn die Banken sich weigern, sagt man dann: 'Dann entziehen wir euch in unseren Ländern die Lizenz', na da wäre aber eine Bewegung drin und eine Sache möglich. Was mich nur stutzig macht ist, dass man sehr schnell dabei ist, den Weg einer militärischen Intervention zu gehen, von der wir in in der Vergangenheit erlebt haben, dass es erst wieder solche Geschöpfe wie die IS gebiert.
Militäreinsatz gegen IS: "Ich warne vor Allmachtsfantasien"
Schröder: Konkret die Frage: Halten Sie zum Beispiel die Luftschläge der USA für falsch oder sind sie nötig, um die IS zu stoppen?
Kipping: Also ich meine, ich persönlich bin eine Pazifistin. Wir als Partei sagen ganz klar, also, ich finde, dieser Alarmismus, das ist ja jedes Mal, bei jedem Einsatz so gewesen, auch in Afghanistan. Es ist so ein Szenario aufgemacht worden: 'Wer hier kritisch hinterfragt, ist Schuld daran, dass die Taliban Leute abschlachten, Frauen abschlachten'. Das Ergebnis ist ganz klar, dass der demokratische Aufbruch in Afghanistan auch gescheitert ist.
Schröder: Aber alarmiert Sie die Situation im Norden des Iraks und in Syrien nicht?
Kipping: Diese Bilder sind schrecklich. Die lassen niemanden unberührt. Und ich will nur einmal sagen: Meine Partei, uns kann man jetzt wirklich nicht vorwerfen, dass wir einfach nur vom Fernsehsessel aus zuschauen. Mehrere meiner Abgeordneten-Kollegen sind hingefahren, um sich die Situation vor Ort anzuschauen, um auch darüber öffentlich aufzuklären.
Schröder: Aber Ihre Schlussfolgerung, die Frage haben Sie nicht beantwortet. Ist in solche einer Situation, wo es darum geht, werden jetzt tausende von Menschen bedroht mit dem Tod, mit Vertreibung, ist es da nicht an der Zeit auch, militärisch einzugreifen?
Kipping: Also ich und die Linke, wir gehören nicht zu den Kräften, die jetzt sofort mit wehenden Fahnen für den Weg der militärischen Intervention sind.
Schröder: Das heißt, Sie lassen die Zivilbevölkerung allein?
Kipping: Ja, das ist natürlich immer das - das stimmt überhaupt nicht. Ich habe Ihnen da ja davor andere Maßnahmen genannt. Weil ich glaube, jede militärische Intervention hat Kollateralschäden. Ich werbe auch hier für eine gewisse Demut und warne vor Allmachtsfantasien. Jeder, der denkt, man könne jetzt mit dem Finger schnipsen: 'Schickt ein paar Bomber hin, dann wird ein bisschen gebombt und dann ist das Problem weg', ergibt sich natürlich auch in höchstgefährlichen Allmachtsfantasien. Ich sage in aller Demut: Ich bin Vorsitzende einer Partei, die bundesweit vielleicht bei zehn Prozent ist. Wir leben in einer Gesellschaft, wo es einen unglaublichen Militarisierungsschub gibt. Wir sind nicht verantwortlich für diese gesellschaftliche Entwicklung - das haben andere Kräfte eingebrockt. Und was wir machen können ist, kritisch hinterfragen, ob die Wege, die immer wieder eingeschlagen worden sind, die immer wieder gescheitert sind, ich finde in so einer gesellschaftlichen Situation braucht es wenigstens eine Kraft, die das kritisch hinterfragt.
Schröder: Das Interview der Woche mit Katja Kipping, der Vorsitzenden der Linkspartei. Frau Kipping, ich darf noch mal Gregor Gysi zitieren, den Fraktionschef der Linkspartei. Er sagt: "Der Islamische Staat ist nur mit militärischen Mitteln zu stoppen".
Kipping: Sie nehmen ein Zitat aus dem Interview, wo er darüber nachgedacht hat, Waffen dahin zu liefern. Es hat danach bei uns noch mal einen Austausch mit Fachleuten gegeben, und am Ende hat die Fraktion der Linken geschlossen gegen Waffenlieferungen gestimmt. Und ich würde sagen, die Waffenlieferungen sind ja mit derselben rhetorischen Figur begründet worden: 'Wir müssen jetzt die jesidischen Flüchtlinge retten!' Das Verrückte ist nur, dabei sind jede Menge Ungereimtheiten aufgetreten. Jetzt war mein Abgeordneten-Kollege, Jan van Aken, dabei, wie die Waffen ausgeliefert worden sind. Also Sie glauben doch nicht, das irgendein deutscher Bundeswehrsoldat dann Einfluss darauf hat, was damit passiert. Die sind abgegeben worden am Flughafen von Erbil und dann wurde gesagt: 'Hier endet unser Aufgabenbereich. Die kommen ins Zentrallager der Peschmerga, und dann wollen wir mal hoffen, dass die Waffen nicht von den falschen Leuten erbeutet werden, dass nicht die, die am Ende geschützt werden sollten, damit getötet werden'.
Flüchtlinge: "EU sollte sich stärker engagieren"
Schröder: Also besser gar nichts tun?
Kipping: Das stimmt nicht. Ich finde es auch nicht angemessen, wenn man über Auslandseinsätze redet, dass immer den Leuten unterstellt wird, sie wollen nichts machen. Ich habe einige Maßnahmen genannt: Flüchtlinge aufnehmen, humanitäre Hilfe, den Geldhahn zudrehen. Viertens, finde ich, muss man wirklich die Türkei stark in die Pflicht nehmen. Die Türkei hatte eine jahrelange Zusammenarbeit mit der IS. Und was es jetzt heißt, dass die Türkei mit Bodentruppen vorrücken will gegen die Terrormilizen, auch das ist, glaube ich, eine falsche Darstellung. Die wollen vor allen Dingen in die Gebiete rein, wo es davor kurdische Autonomiebezirke gab. Da geht es gar nicht darum, vonseiten der Türkei, die IS zu bekämpfen, sondern einfach zu verhindern, dass es wieder kurdische Autonomiebezirke gibt. Und ich finde, da müsste man viel mehr Druck auf die Türkei - die immerhin ein NATO-Mitglied ist - ausüben, dass sie ihre latente Kooperation mit der IS beendet und endlich die Hilfsgüter und die Unterstützung zu den Kurden durchlässt.
Schröder: Aber bis das Wirkung zeigt, werden die jetzt bedrohten Dörfer längst erobert sein von der islamischen Miliz. Die Folgen sehen wir ja jetzt auch schon. Tausende fliehen vor allem in die Türkei, zunehmend aber auch nach Europa, nach Deutschland. Tut Europa, tut Deutschland genug, um den Flüchtlingen zu helfen?
Kipping: Also generell, im Nahen Osten sind verheerende Situationen. Ich weiß, in umliegenden Länder, wie Jordanien, Jemen, da spricht man davon, dass auf drei Einwohner inzwischen ein Flüchtling kommt. Das muss man sich mal überlegen als Situation für ein deutsches Dorf, also wenn auf jeden dritten Einwohner ein Flüchtling käme, was da los wäre, was es da an Gegenprotesten gäbe. Also deswegen will ich nur sagen: Angesichts dessen, was die umliegenden Länder wegzutragen haben, sollte die Europäische Union sich viel stärker engagieren und Flüchtlinge aufnehmen.
Schröder: Konkret - was wäre nötig?
Kipping: Also zum Einen, finde ich, da muss man über die Zahl reden, die zu uns kommen. Wir haben gesagt: Na ja, wenn man es sich übersetzt, dort kommen auf drei Einwohner ein Flüchtling - das kann man hier natürlich nicht so nehmen -, aber wenn man mal schaut, ein Verhältnis von, auf tausend Einwohner kommt ein Flüchtling, dann braucht man jetzt keine Angst haben, dass die komplette Sozialstruktur durcheinander kommt. Und das wäre wirklich ein konkreter Beitrag, um menschliches Leid zu lindern, ohne entsprechende Kollateralschäden.
Misshandlungen von Flüchtlingen: "Weckruf für dezentrale Unterbringung"
Schröder: Aber wir sehen ja jetzt schon, schon jetzt sind Kommunen in Deutschland heillos überfordert damit, die Flüchtlinge, die kommen, aufzunehmen. Flüchtlingsheime sind überfüllt. Es fehlt an Unterkünften. Warum ist Deutschland so schlecht vorbereitet?
Kipping: Ja gut, offensichtlich hat man halt nicht die Prioritätensetzung so vorgenommen, dass man entsprechend im Bereich "Flüchtlingshilfe" sich vorbereitet. Und man darf auch nicht außer Acht lassen, die Kommunen sind ja häufig der finanzielle Prügelknabe der Nation. Also viele Kommunen sind finanziell nicht mehr handlungsfähig. Deswegen haben wir auch ein anderes Steuerkonzept vorgeschlagen, dass die Kommunen finanziell wieder einen Handlungsspielraum haben. Und zum Zweiten, finde ich, also ganz am Anfang kann man sagen, klar, es gibt erst mal eine Sammelannahmestelle, aber dann muss man viel stärker nutzen die Möglichkeit von dezentraler Unterbringung. Es gibt immer noch Regionen und Städte, wo man eher das Problem von Leerstand hat, wo Wohnungen zurückgebaut werden. Und das könnte man sehr wohl nutzen für die Unterbringung von Flüchtlingsfamilien.
Schröder: Wir haben in dieser Woche Berichte gesehen, Bilder gesehen, die zeigen, dass Flüchtlinge in deutschen Flüchtlingsheimen misshandelt werden, gequält werden. Wie erklären Sie sich das? Und sehen Sie, dass da die richtigen Konsequenzen daraus gezogen werden?
Kipping: Die große Gefahr ist ja, es gibt jetzt eine kurze Aufmerksamkeitswelle, da reden alle drüber und dann ist das wieder in zwei, drei Wochen komplett vergessen. Wir haben als Linke gesagt: Also eigentlich sind diese Ereignisse ein Weckruf für dezentrale Unterbringung. Es muss eine Kehrtwende geben. Und ich finde, was auch die Ergebnisse klar zeigen, das waren jetzt nicht irgendwie Polizisten, sondern das war ja ein privater Sicherheitsdienst, der so vorgegangen ist. Wahrscheinlich darf man einfach solche Einrichtungen, wie Flüchtlingsheime, wenn man sie denn überhaupt einrichtet anstelle von dezentraler Unterbringung, darf man sie nicht an Unternehmen geben, die auch noch Profit abwerfen wollen. Sondern, ich finde, es gibt genügend gemeinnützige Träger, an die kann man das geben. Aber wenn irgendwie am Ende noch von dem Geld, was die öffentliche Hand ausgibt für die Unterbringung, auch noch die Profite von Privaten abfallen sollen, dann wird womöglich an einer falschen Stelle gespart, und dann geht man an ein Dumping-Unternehmen, was die Leute, die eingestellt werden, nicht richtig auf ihre Vergangenheit hin prüft.
Schröder: Frau Kipping, ich danke Ihnen für das Gespräch.
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.