Archiv

Katsioulis (FES) zur UK-Wahl
"Corbyn war in den klassischen Labour-Regionen eher eine Bürde"

Die Labour-Partei habe bei der Wahl in Großbritannien auch so stark verloren, weil Parteichef Jeremy Corbyn der mit Abstand unbeliebteste Oppositionsführer seit Menschengedenken war, sagte Christos Katsioulis von der SPD-nahen Friedrich-Ebert-Stiftung (FES) im Dlf.

Christos Katsioulis im Gespräch mit Jonas Reese |
Jeremy Corbyn, Vorsitzender der britischen Labour Party, während einer Wahlkampf-Veranstaltung
Will nach der Niederlage gegen Boris Johnson nicht noch einmal bei einer Wahl antreten, Labour-Chef Jeremy Corbyn (dpa/ Sputnik/ MacNaughton/ MacNaughton)
Jonas Reese: Für die sozialdemokratische Friedrich-Ebert-Stiftung arbeitet Christos Katsioulis in London. Er ist jetzt live am Telefon. Mit ihm möchten wir diese Prognosen noch weiter vertiefen. Guten Abend!
Christos Katsioulis: Ja, guten Abend.
Johnson: Das Gezerre hat ein Ende
Reese: Die Konservativen holen die absolute Mehrheit laut Prognosen. Wie interpretieren Sie diese Zahlen? Klares Votum "Get Brexit done", bringt den Brexit endlich zu Ende?
Katsioulis: Ja. Ich denke, das ist die klare Schlussfolgerung, die man ziehen muss. Das Kalkül von Boris Johnson ist absolut aufgegangen, den Menschen seinen Ausweg als eine klare Lösung zu präsentieren, ihnen zu verdeutlichen, dass mit ihm und mit einer Stimme für ihn dieses ewige Hin und Her, das Gezerre im Parlament endlich zu Ende gehen kann und mit dem Brexit am 31. 1. Dann auch eine schöne neue Zeit beginnen kann, bei der Großbritannien dann außerhalb der EU sein wird. Das ist definitiv aufgegangen und die Versuche der anderen Parteien, das Thema weg vom Brexit zu bekommen, auf andere soziale Themen, Wirtschaftsthemen zu lenken, ist definitiv nicht gelungen.
Leider liegt für dieses Bild keine Bildbeschreibung vor
"Labour ist zutiefst gespalten"
Reese: Also kann man sagen, den Briten ist alles egal, Hauptsache aus der EU raus und das Thema Brexit erledigt?
Katsioulis: Zumindest scheint es die erste Priorität zu sein. Das Seltsame, was ja zu beobachten ist, ist: Man glaubte immer, dass die Tories auf Dauer gespalten sein würden in der Frage des Brexit. Aber es sieht so aus, als wäre es im Moment Labour, das zutiefst gespalten ist. Johnson ist es offenbar gelungen, die Stimmen der Leave-Wählerinnen und Wähler hinter sich zu vereinen, während es Labour überhaupt nicht gelungen ist, diejenigen, die sich für den Verbleib in der EU eingesetzt haben, hinter sich zu bekommen. So wie die Zahlen im Moment aussehen, dürften die Tories einige Wahlkreise gewonnen haben, die seit Jahrzehnten in Labour-Hand waren, weil die Menschen dort für den Brexit waren und ihnen dieses Thema offenbar am wichtigsten war.
Unabhängigkeit durch satte Mehrheit
Reese: Jetzt will Boris Johnson bis Ende Januar raus aus der EU, egal wie.
Katsioulis: Er wird mit seinem Deal rausgehen, nicht egal wie. Er hat sich durchaus flexibel gezeigt im Vereinbaren dieses Deals, indem er die Grenze zwischen Nordirland und dem Rest des Vereinigten Königreiches zugelassen hat, und das stimmt aus einer europäischen Sicht, aus meiner Sicht, auch froh, dass wenn er schon die Wahl gewinnt, dann wenigstens mit so einer satten Mehrheit, weil dann wird er nicht in dem Maße abhängig sein von radikalen Brexiteers in der eigenen Fraktion. Eine Mehrheit von gut 60, 70 Stimmen im Parlament wird dazu führen, dass er sehr viel flexibler dabei sein wird, die Implementationsfrist zu verlängern und dann vielleicht auch einen Deal auszuhandeln, der nicht den Wunschvorstellungen der harten Brexiteers entspricht.
"Der 31. 1. steht"
Reese: Sie sind auch froh, dass es jetzt nicht noch weiter eine Hängepartie gibt?
Katsioulis: Froh an dem Abend als Mitarbeiter einer sozialdemokratischen Stiftung ist schwierig, um das ehrlich zu sagen. Aber aus der Perspektive Europas, wo der Brexit ja immer eine Hängepartie war und unklar war, bleiben sie jetzt drin, gehen sie raus oder wollen sie noch mal eine Verlängerung, aus dieser Perspektive, denke ich, scheint Klarheit da zu sein. Der 31. 1. steht. Das zweite Versprechen, was Johnson immer wieder gemacht hat: Er wird auf gar keinen Fall um Verlängerung bitten - und die muss er bis Juni 2020 erbeten, damit nicht am Ende 2020 der No-Deal-Brexit droht -, ich denke, dieses Versprechen kann er dezent kassieren, so wie er viele andere seiner Versprechen schon kassiert hat, weil er jetzt eine so große Mehrheit hat, dass es auf einige Hardliner in der eigenen Partei nicht mehr ankommt.
Nur sehr unklare Angaben über Brexit-Fragen
Reese: Man hat oft davon gehört, dass Großbritannien doch sehr gespalten ist in dieser Frage. Wird Boris Johnson da derjenige sein können, der das Land wieder ein bisschen beruhigt, oder vielleicht sogar befrieden kann?
Katsioulis: Bisher gibt es keine Anzeichen dafür. Er hat nichts dafür getan, sondern er hat - ganz im Gegenteil - ganz klar diese Spaltung vorangetrieben, und es ist ihm deswegen als Erfolg anzurechnen, weil er es geschafft hat, die eine Seite Divides, über den wir hier sprechen, ganz klar aufseiten der Tories zu bekommen: die Vote-Stimmen. Die Frage, die er beantworten muss – und da ist er bisher vollkommen vage geblieben – ist: Kann er die tiefen sozialen Spaltungen und die ganz unterschiedlichen Wünsche der Vote Leaver eigentlich befriedigen? Weil er in Fragen des Brexit, den er eigentlich haben möchte am Ende, bislang nur sehr unklare Angaben gemacht hat. Aber mit dieser Mehrheit wird er sicherlich in der Lage sein, da wie gesagt, ziemlich viele Wünsche zu befriedigen.
Corbyn - eher eine Bürde für Labour
Reese: Labour hat eine ziemliche Klatsche bekommen, muss man sagen. Jeremy Corbyn, der Labour-Chef, war ja auch sehr umstritten, stand immer wieder den Vorwürfen des Antisemitismus gegenüber, hatte auch keine klare Position zum Brexit. Als Chef einer deutschen sozialdemokratischen Stiftung in London muss ich Sie noch fragen: Was war denn der größte Fehler von Jeremy Corbyn und der Labour-Partei?
Katsioulis: Das kann ich jetzt aus der Hüfte schlecht beantworten, um ehrlich zu sein. Es ist ihm nie gelungen, die Antisemitismus-Äußerungen der eigenen Partei klar, transparent und deutlich zu unterdrücken. Er hat das immer als Kampf des Establishments gegen seine eigene Person verstanden und nicht als tief gehendes Problem, mit dem man auch wirklich substanziell umgehen muss.
Zum Zweiten hat er die gesamte Brexit-Frage lediglich als taktisches Moment benutzt und darauf gehofft, dass die Tories irgendwann darüber stolpern werden, und dieses taktische Vorgehen hat seine Authentizität, die ja sein großes Asset war bei der Wahl 2017, vollkommen unterminiert.
Und der dritte Punkt ist: Jeremy Corbyn ist ein klassischer Londoner Hipster, muss man sagen. Er wirkt ein bisschen bieder und er hat seinen eigenen Garten, in dem er seine Marmelade einkocht. Aber bei den klassischen Labour-Wählerinnen und Wählern in den alten Stahl- und Kohleregionen, in den Midlands und im Norden von England, da war er eher eine Bürde für Labour als ein Zugewinn. Und bei den letzten Wahlen ist das ein Stück weit dadurch verdeckt worden, dass eigentlich niemand damit rechnete, dass er jemals gewinnen könne. Viele der MPs, die ich auch kenne, haben Wahlkampf gemacht und gesagt, ihr stimmt für mich, keine Sorge, ich sorge dafür, dass Jeremy Corbyn keine allzu wichtige Rolle spielt. Das konnte er dieses Mal nicht mehr. Dieses Mal musste man damit rechnen, dass er Premierminister werden kann, und das haben ihm offensichtlich viele Menschen nicht zugetraut. Er war der mit Abstand unbeliebteste Oppositionsführer seit Menschengedenken beziehungsweise seit man diese Umfragen eingeführt hat.
Enttäuschung "wird uns noch ein paar Jahre plagen"
Reese: Sie haben jetzt gesagt, der Brexit hat natürlich den Wahlkampf und die Wahlinhalte bestimmt. Aber was erwarten Sie jetzt von einer absoluten Mehrheit einer Tory-Regierung in den kommenden fünf Jahren?
Katsioulis: Das ist das, womit Boris Johnson wahrscheinlich die größten Schwierigkeiten haben wird. Sein Trick war es, den Menschen zu vermitteln, das ist eine Brexit-Wahl, damit ihr keine weiteren Brexit-Jahre erleben müsst. Sprich: Jetzt kommen wir ein für allemal über diese Hürde und danach ist das Thema Brexit vorbei und wir widmen uns den zerfallenden Hospitälern, der Polizei, die vollkommen unterausgestattet ist, was Personal anbelangt, und so weiter und so fort.
Was er den Menschen verschwiegen hat ist, dass die eigentlich schwierige Frage des Brexit, nämlich die nach dem zukünftigen Verhältnis mit der Europäischen Union, ja noch aussteht. Das heißt, viele Jahre dieser fünf Jahre, möglicherweise sogar alle fünf Jahre seiner Amtszeit wird er damit beschäftigt sein, mit der EU darüber zu sprechen und zu verhandeln, wie das künftige Verhältnis Großbritanniens ist mit der EU, welche Sicherheitszusammenarbeit es gibt, welche Form des Handels es geben wird, wie Studierendenaustausch, Wissenschaftskooperation und all diese kleinen Fragen, die ja innerhalb der EU geregelt sind, weiter ausgestaltet werden können. Ich habe die Sorge, dass die Enttäuschung über diese Täuschung, die er da wahrgenommen hat, uns doch noch ein paar Jahre plagen wird.
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.