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Kaulquappen im Weltall

Raumfahrt. - Biologen der Universität Ulm haben 35 Kaulquappen auf ganz große Fahrt geschickt: Die kleinen Tierchen flogen für zwölf Tage ins Weltall, besuchten die Internationale Raumstation ISS und sind inzwischen wieder wohlbehalten in Ulm angekommen. Bei dem Experiment geht es um die Frage, wie sich der Schweresinn verändert, wenn er in der Entwicklungsphase nicht angeregt wird - also in der Schwerelosigkeit im Weltall.

Von Thomas Wagner |
    "Wir gehen jetzt in die Tierkammer gerade, um uns diese Weltraum-Kaulquappen einmal anzuschauen. Wir finden sie hier in kleinen Aquarien. Und wenn man die so rumschwirren sieht, sind die eigentlich sehr, sehr munter."

    Professor Eberhard Horn ist mächtig stolz auf seine kleinen, gerade mal wenige Zentimeter langen Lieblinge: Fast alle jener 35 Kaulquappen, die der Gravitationsphysiologe für zwölf Tage ins All geschickt hat, sind wieder wohlbehalten zurückgekehrt - und schwimmen quietschfidel in den kleinen Aquarien, abgestellt in einem kleinen Nebenraum der Uni Ulm, der einer Besenkammer ähnelt. Doch umso größer ist für Professor Eberhard Horn die Bedeutung dieses Experimentes:

    "Ja, das geht auf eine Entdeckung der Nobelpreisträger Hubel und Wiesel zurück, die in einer reizfreien Umgebung die Entwicklung des Sehsystems untersucht haben. Die haben Katzen vorübergehend das Auge geschlossen und nach einiger Zeit das Auge wieder geöffnet und nach den Sinnesleistungen gefragt."

    Das Ergebnis seinerzeit: Werden die Katzenaugen in einer bestimmten, frühen Entwicklungsphase des Tieres geschlossen - die Wissenschaftler sprechen hier von "Reizentzug" - , können die Katzen später nichts mehr sehen, manchmal ihr ganzes Leben lang. Das gleiche gilt für andere Sinneseindrücke wie zum Beispiel Riechen oder Hören. Diese Effekte treten aber nur in einer ganz bestimmten Entwicklungsphase auf. Die Experten sprechen von der "kritischen Periode." Das ist jenes Entwicklungsstadium, bei dem eine Sinneswahrnehmung dauerhaft beeinträchtigt bleibt, wenn sie von außen nicht angeregt wird, also wenn beispielsweise das Katzenauge kein Licht erhalten.

    "Solche kritischen Perioden konnten mittlerweile für alle Sinnessysteme nachgewiesen werden, für den Schweresinn noch nicht."

    Der Schweresinn ist weitgehend gleichbedeutend mit dem Gleichgewichtssinn. Deshalb beschlossen Professor Eberhard Horn und sein Team von der Uni Ulm, Kaulquappen ins All zu schicken - in die Schwerelosigkeit. Wie würde der Gleichgewichtssinn der Krallenfrosch-Kaulquappen auf den Reizentzug reagieren? Eine wichtige Frage angesichts der Leistung, die der Gleichgewichtssinn erbringen muss. Professor Eberhard Horn:

    "Der Schweresinn dient dazu, um die Raumlage eines Organismus zu kontrollieren. Das kann mit verschiedenen Sinnessystemen durchgeführt werden. Aber auf jeden Fall gibt es das Bestreben, den Körper in einer bestimmten Orientierung im Raum zu halten. Also bei uns ist bekannt, dass wir unterscheiden können, wo oben und unten ist: Der Kopf steht oben, die Beine sind unten. Und Abweichungen davon, wenn wir in die Schräglage kommen, werden automatisch und reflektorisch gegenreguliert."

    Vor dem jüngsten Experiment schickten die Ulmer Forscher bereits drei Mal, zwischen 1993 und 2001, Kaulquappen ins All - allerdings in einem Alter von wenigen Tagen. Bei diesen ganz jungen Tieren der Weltraum-Versuche in den vergangenen Jahren konnte Professor Eberhard Horn bereits erste Beeinträchtigungen des Schweresinns nach dem Reizentzug feststellen. Dabei untersuchen die Wissenschaftler den so genannten vestibulo-okularen Reflex. Da ist die Drehung der Augen entgegengesetzt zur Drehbewegung des Körpers; sie gilt als Indikator für einen funktionierenden Schweresinn. Diese Augendrehung hilft den Tieren bei der Orientierung.

    "Erstens waren diese Veränderungen altersabhängig: Wir haben Altersstufe bei den Kaulquappen gefunden, bei denen nach der Wegnahme des Schwerereizes eine Verstärkung dieses so genannten vestibulo-okularen Reflexes aufgetreten ist. Wir haben andere Stadien gefunden, bei denen keine Änderungen aufgetreten sind. Und wir haben Stadien gefunden, die eine sehr merkwürdige körperliche Veränderungen herausgebildet haben während des Weltraumfluges: Die haben nämlich so genannte 'Krummschwanztypen' entwickelt. Und immer wenn ein solcher Krummschwanz sich entwickelt hatte, dann war die Schwerkraftreaktion, also der kompensatorische Augenreflex, grundsätzlich vermindert."

    Das heißt: Fällt die Schwerkraft in bestimmten Altersstufen weg, wird der Gleichgewichtssinn in Abhängigkeit zum Alter der Tiere ganz neutralisiert oder sogar verstärkt: Ganz junge Tiere können demnach keinen Gleichgewichtssinn ausbilden, etwas ältere verstärken diesen sogar beim plötzlichen Wegfallen der Schwerkraft im All. Doch wie macht sich der Entzug der Schwerkraft nun bei Kaulquappen bemerkbar, die bereits über drei Wochen alt sind, also ein völlig neues Entwicklungsstadium erreicht haben?

    "Von den jetzt raufgeschickten Stadien war ein Stadium besonders stark betroffen von diesen Krummschwänzen, während beim älteren Kaulquappenstadium nur ein Tier einen Krummschwanz herausgebildet hatte. Die eine Gruppe war drei Wochen, die andere sechs Wochen alt."

    Demnach hätten die "Oldies" unter den Kaulquappen ihren Schweresinn bereits ausgebildet, während er sich bei den jüngeren Tieren beim Reizentzug noch zurückbilden kann. Dies ist allerdings erst eine erste Hypothese. Die Messreihen, bei denen die Augenreflexe untersucht werden, sind erst Ende des Jahres abgeschlossen. Da der Schweresinn der Kaulquappen fast genauso funktioniert wie bei Menschen, wären diese Erkenntnisse ein wichtiges Stück Grundlagenforschung. Doch darüber hinaus schließt Professor Eberhard Horn für die weitere Zukunft auch ganz praktische Auswirkungen seiner Forschungen nicht aus:

    "Das ist dann der Fall, wenn Leben im Weltraum über Jahre angestrebt wird. Und wenn der Mensch anstrebt, diese Planeten oder Monde zu besiedeln, dann können wir schon sagen, das dann solche Grunderkenntnisse - vielleicht treten Änderungen auf, aber die sind nicht langwierig und schädlich - dass man dieses als sehr wichtig einzustufen hat."