Die Menschenrechte sind ein nicht unbedeutender Maßstab internationaler Politik. Hierzulande erregten sich die Gemüter, als die USA völkerrechtswidrig ihren Feldzug gegen das Regime des Saddam Hussein unternahmen. Die Missachtung der Menschenrechte sind auch heute das Argument für das Waffenembargo gegen China. Im Fall Russland allerdings scheinen die Menschenrechte keine besondere Rolle zu spielen. Da gilt die Realpolitik oder die Männerfreundschaft mit dem jeweiligen Potentaten im Kreml. Besonders augenfällig wird das beim Thema Tschetschenien. Und seit dort kaum noch Journalisten recherchieren, ist es um dieses Land relativ ruhig geworden. Es findet in den Medien vorwiegend statt als Land von Rebellen oder Terroristen. Umso mehr Aufmerksamkeit verdient ein Buch, wenn es all diese Aspekte vereint und noch weit darüber hinausgeht, indem es Sitten und Gebräuche schildert, Traditionen und vor allem die unbeugsame Mentalität der Tschetschenen sozusagen in Fleisch und Blut darstellt. Das tut das Buch von Sabine Adler. Sie ist jetzt im Studio in Berlin, guten Abend, Frau Adler.
Adler: "Guten Abend."
Frage: Frau Adler, Ihr Buch heißt: "Ich sollte als schwarze Witwe sterben - Die Geschichte der Raissa und ihrer toten Schwestern." Es ist ein romanhaftes Tatsachenbuch oder auch ein historischer Roman, wie man diese Gattung nennt, die neuerdings stark im Trend liegt. Sie schildern in diesem Buch die Geschichte einer jungen Tschetschenin. Zunächst die Frage: Was ist Tatsache und was ist Fiktion?
Adler: Also, die Raissa, die Hauptfigur, die im Mittelpunkt des Buches steht und ihre beiden Schwestern. Raissa gibt es wirklich als Person. Ich habe sie selbst getroffen und habe mit ihr Interviews führen können, habe um sie herum sozusagen, was ich an Informationen bekommen konnte, auch aufgenommen, recherchiert. Ihre beiden Schwestern habe ich nicht gekannt, denn die Schwestern waren tot. Man hat erst von ihrem Schicksal erfahren, nachdem die Geiselnehmer im Musicaltheater Nordost im Oktober 2002 alle erschossen worden sind. Da hat man angefangen zu identifizieren: Wer gehört eigentlich zu diesen schwarzen Witwen, die
damals die Hälfte dieses Geisel-Kommandos ausgemacht haben. Und dann ist es gelungen, eben zurückzuverfolgen: Aus welchen Familien kommen die eigentlich? Bei Raissa ist es so gewesen, dass sie von ihren Brüdern - wie ihre beiden Schwestern - dann nach dem Musicaldrama rekrutiert werden sollte als nächste schwarze Witwe. Und als die Brüder das erste Mal die beiden Schwestern fragten, ob sie sich eben diesem Geiselkommando anschließen würden, da haben die Schwestern zugestimmt. Raissa wäre auch gerne mitgegangen, aber als sie dann wusste und gesehen hat, was tatsächlich dort geschehen kann, dass das eben nicht nur eine riskante Aktion ist, sondern das man dabei sein Leben verliert, da hat sie gezögert und ist dann letzten Endes soweit gegangen: Sie hat sich gefürchtet vor den Brüdern, hat sich versteckt, und hat sich von der russischen Armee beschützen lassen. Soweit: Das ist die Wahrheit. Was ich in den Bereich der Fiktion legen musste - notgedrungen - war: Wer waren eigentlich die Schwestern? Was hat ihre Charaktere ausgemacht? Was waren ihre Beweggründe? Da konnte ich nur praktisch symptomatisch in diese beiden Schwestern legen, was wohl typisch für die schwarzen Witwen ist, was wir eben wissen aus dem Umfeld, aus den Aussagen von den Familienangehörigen usw. Und das habe ich versucht in diese Charaktere zu legen. Wahr ist in dem Buch jeder Anschlag, der dort eine Rolle spielt, der zu diesem Teil dieses Ausschnittes der tschetschenischen Geschichte gehört. Das sind also Anschläge, die haben tatsächlich stattgefunden. Über diese Anschläge habe ich ja jeweils - auch im Deutschlandfunk unter anderem - berichtet als Korrespondentin. Und wahr ist natürlich auch, was an handelnden Personen von russischer Seite agiert. Also der Presseoffizier Schawalkin, der da in dem Buch vorkommt, den gibt es natürlich in Wahrheit.
Frage: Warum haben Sie denn diese literarische Form gewählt? Ist es zu riskant, anders die Wahrheit über Tschetschenien zu schreiben? Schließlich gehen Sie ja nicht gerade sanft mit den Russen um. Sie nennen sie Besatzer oder weisen öfters auf den hohen Grad an Korruption hin:
Adler: Ich bin auch als Korrespondentin nicht sanft mit der russischen Seite, mit dem russischen Präsidenten usw. umgegangen. Nein, das ist überhaupt nicht der Beweggrund. Der Beweggrund sanft oder mit Rücksicht diese Wahrheit zu verbreiten, damit hat das überhaupt nichts zu tun, das ist kein Beweggrund für mich gewesen. Der Beweggrund war: Ich wollte eine Darstellungsform finden, die mich zunächst erst mal nur selbst interessiert. Das ist, glaube ich, das Recht eines jeden Autors, zu wählen, worauf hat er eigentlich Lust, in welchem Stil möchte er gerne schreiben. Und da ich Reportagen eben fürs Radio nun wirklich reichlich geschrieben habe und es wirklich außerordentlich kluge Essays über Tschetschenien und die gesamte Problematik bereits gibt, habe ich mir vorgestellt - auch anhand dieses Schicksals von Raissa - dass das eigentlich eine sehr schöne, vor allem nachempfindbare Form sein könnte, wenn man eine Person bzw. ihre beiden Schwestern und eine Familie in den Mittelpunkt stellt, um das Ganze nachfühlbar, nacherlebbar zu machen und vielleicht auch die anzusprechen, die sich sonst nie ein Buch zu diesem Thema kaufen würden, also die einfach nur berührt sind von dem Frauenschicksal. Das war das, was mich interessiert hat und das war eigentlich auch so dieses Ausüben für mich, mal in eine etwas vielleicht nicht so streng festgelegte disziplinierende Darstellungsweise zu gehen, wie das eben der Journalismus erfordert.
Frage: Man gewinnt den Eindruck, Frau Adler, dass es wohl unmöglich gewesen wäre, dass ein Mann solche Gespräche mit den Frauen in Tschetschenien hätte führen können. Wie fest gefügt ist denn die tschetschenische Gesellschaft? Ist die Moderne in Tschetschenien überhaupt noch nicht angekommen? Traditionen sind zwar schön, aber wer die Umstände der Hochzeit von Raissas Schwester Medina zum Beispiel liest, der muss den Eindruck haben, die Frauen sind nicht viel mehr als Sklaven:
Adler: Das war ein Eindruck, der hat sich mir zum Teil auch so dargestellt. Allerdings würde ich es doch etwas differenzieren wollen. Tschetschenien ist ein sehr zerrissenes Land. Tschetschenien ist in den Teilen immer noch ein modernes Land, wo sozusagen noch die Reste des Sowjetsystems nachwirken. Das heißt wir haben es immer noch mit ausgebildeten Frauen zu tun, die sich leider aber meistens in der Diaspora befinden. Und das, was wir jetzt in Tschetschenien selbst vorfinden, ist in der Tat ein Rückfall in fast veraltet wirkende Traditionen. Also wenn man eben die früheren moderneren Lebensweisen dagegen stellt, dann gibt es ein unglaublich strenges Sitten- und Regelwerk. Frauen und Männer müssen sich also an ganz bestimmte, nicht nur religiöse Gesetze halten, sondern sie müssen sich eben auch an einen Sittenkodex halten, der Frauen so gut wie keine Rechte einräumt, der sie zu den Sklaven der Männer macht. Und wie weit das fortgeschritten ist, das fand ich eigentlich sehr erschreckend. Egal, mit welchen Frauen ich gesprochen habe, egal, in welcher Runde: Es war ein ganz tief verwurzelter Begriff davon, eine Vorstellung davon, der Mann steht höher als die Frau. Das heißt also, die eigene Wertigkeit ist in der eigenen Vorstellungswelt der Frauen, in ihrer eigenen Moralvorstellung tatsächlich zweitrangig. Und das ist etwas, was sich durchzieht durch alle Generationen, und was ich natürlich als Vertreterin einer westlichen Gesellschaft, demokratischen Gesellschaft auch ganz erschreckend gefunden habe.
Frage: Könnte man denn ähnliche gesellschaftliche Strukturen auch in den anderen Ländern vorfinden, oder anders gefragt: Wären schwarze Witwen ein Modell für die Nachbarvölker?
Adler: Ich könnte es mir vorstellen. Also wenn wir weiterschauen wäre zum Beispiel das nächste Land Inguschetien. Inguschetien ist quasi nur das Brudervolk, künstlich getrennt von Tschetschenien. Dagestan hat unglaublich viele Nationalitäten. Es gibt wohl über einhundert Nationalitäten und Kleinstnationalitäten, die aber doch zumindest Eines gemeinsam haben, nämlich auch ein ganz strenges Sitten- und Regelwerk, auch eine zweitrangige Stellung der Frau, einen teilweise auch religiös - also auch mit dem Islam - unterfütterten Sittenkodex. Da könnte ich es mir auch vorstellen. Aber da muss man natürlich sagen: Um die schwarzen Witwen hervorzubringen, braucht eine Gesellschaft etwas völlig anderes - nämlich, es muss eine ausweglose Situation bestehen, eine Situation, die ein Volk ja geradezu verzweifeln lässt. Denn das würde ich gerne unterscheiden: Diese tschetschenischen Witwen, die sind zwar ein Produkt im Moment - zuallererst der russischen Gewalt als Antwort auf die russische Gewalt. Dann zweitens ein Produkt der sehr hierarchisch, sehr patriarchalisch strukturierten tschetschenischen Gesellschaft, das heißt also, die Frauen haben gar keine Wahlmöglichkeit, ob sie sich als schwarze Witwe rekrutieren lassen oder nicht, denn Raissa zum Beispiel hat das mit ihrem eigenen Schicksal insofern bezahlt, als das sie aus der tschetschenischen Gesellschaft heraus musste. Sie wird - wenn sie nicht getötet wird aus Rache der Brüder - verstoßen von dieser Gesellschaft, denn sie gilt jetzt als eine Außenseiterin, das heißt also, die Frauen haben überhaupt keine Wahl. Diese Verzweiflung, diese Hoffnungslosigkeit und natürlich auch dieses tief verwurzelte Bewusstsein: Unser Volk soll ausgerottet werden, es läuft ja ein Genozid am tschetschenischen Volk - das sind Gründe, weshalb schwarze Witwen überhaupt hervorgebracht werden können. Das ist in Dagestan nicht möglich, denn in Dagestan steht nicht die russische Armee, die das Land unter der Knute hält.
Frage: Ist Tschetschenien eine verlorene Nation, ein hoffnungsloser Fall gemessen an unseren Maßstäben für Demokratie?
Adler: Das würde ich so nicht sagen, denn es gibt in Tschetschenien immer noch sehr viele Kräfte, die erstens sehr offen schauen, was sonst noch in der Welt passiert, die sich auch sehr genau daran erinnern können, daß ein Leben unter moderneren Gesetzen und Strukturen wie zu Sowjetzeiten ja durchaus möglich war auch diese Gesellschaft. Aber ich glaube, bis es dahin kommt, da muss man wirklich verdammt viel Hoffnung aufbringen. Denn das, was sich jetzt bietet, welches Bild sich jetzt bietet in dieser Gesellschaft, das ist eine fatale verfahrene Situation. Auf der einen Seite ist der russische Präsident Putin, der Friedensgespräche ablehnt; der zwar wörtlich oder in Worten erklärt, dass er eine friedliche, eine politische Lösung möchte, de facto aber militärisch agiert, indem er das Land besetzt hält, indem er zum Beispiel mit militärischen Mitteln die Führer des tschetschenischen Volkes bzw. die Anführer der tschetschenischen Rebellenbewegung umbringen lässt. Das gehört nicht zu einer friedlichen Lösung, wenn man mit den Führern, mit denen man eigentlich an einen Tisch sollte, sie umbringt. Auf der anderen Seite ist es so, dass die Blutrache verhindert, dass das tschetschenische Volk irgendwann mal zur Ruhe kommt und tatsächlich sieht, dass nicht jeder Gewaltakt von russischer Seite eben mit einer über Jahre und Jahrzehnte andauernden Blutrache gerecht werden kann. Denn natürlich hört so dieser Kreislauf nicht auf. Und sehr, sehr
viel Hoffnung braucht man auch aus dem Grund, dass an diesem Krieg ja so wahnsinnig viele verdienen - auf beiden Seiten -, und solange so gut verdient wird, hat natürlich auch niemand Interesse daran, diesen Krieg zu beenden und das ist das eigentlich nicht hoffnungslose - man soll die Hoffnung ja nie aufgeben -, aber das macht das so schwierig.
Frage: Sie schreiben als letzten Satz, Frau Adler: "Der Kaukasus ist traumhaft schön. Ist es die Landschaft, sind es auch die Menschen, vielleicht der Freiheitswille der Menschen dort?"
Adler: Also den Freiheitswillen als traumhaft schön zu bezeichnen, davon kann überhaupt nicht die Rede sein, denn dieser Freiheitswillen, der nimmt eben auch jeden Preis dafür in Kauf. Für mich stellte sich eigentlich die tschetschenische Gesellschaft als eine Gesellschaft dar, die im Kaukasus ungemein gefürchtet wird - die Tschetschenen sind ein sehr gefürchtetes Nachbarvolk. Man unterstützt es irgendwie, fühlt sich auch solidarisch, aber man fürchtet es zugleich. Und man fürchtet es, weil die Tschetschenen - wenn sie sich ungerecht behandelt fühlen - eben auch sehr hart reagieren, wie man das eben jetzt in diesem jahrelangen Krieg schon sieht. Aber die Tschetschenen sind nicht nur hart gegen andere, sie sind zunächst hart gegen sich selbst. Und das ist eine Härte gekoppelt mit dem Freiheitswillen, wo ich - ehrlich gesagt - zurückzucke und sage: Also dann ist mir weniger Freiheitswille vielleicht denn doch lieber. Ich weiß es nicht, jedenfalls nicht gepaart mit dieser Härte. Das Menschenleben zählt für sie dann eben in diesem Kampf auch nicht viel. Landschaftlich ist der Kaukasus wunderschön. Aber es ist kreuzgefährlich für jeden Fremden, wenn er nicht weiß, welche Nationalitäten, welche Clans, welche Stämme wo welches Gebiet besetzen, sich dort
zu bewegen. Das ist kreuzgefährlich, und das geht im Grunde überhaupt nicht ohne die Hilfe der Einheimischen.
Das Buch von Sabine Adler "Ich sollte als schwarze Witwe sterben.
Die Geschichte der Raissa und ihrer toten Schwestern" ist erschienen bei der Deutschen Verlags-Anstalt in München, 349 Seiten zu 19 Euro neunzig.
Adler: "Guten Abend."
Frage: Frau Adler, Ihr Buch heißt: "Ich sollte als schwarze Witwe sterben - Die Geschichte der Raissa und ihrer toten Schwestern." Es ist ein romanhaftes Tatsachenbuch oder auch ein historischer Roman, wie man diese Gattung nennt, die neuerdings stark im Trend liegt. Sie schildern in diesem Buch die Geschichte einer jungen Tschetschenin. Zunächst die Frage: Was ist Tatsache und was ist Fiktion?
Adler: Also, die Raissa, die Hauptfigur, die im Mittelpunkt des Buches steht und ihre beiden Schwestern. Raissa gibt es wirklich als Person. Ich habe sie selbst getroffen und habe mit ihr Interviews führen können, habe um sie herum sozusagen, was ich an Informationen bekommen konnte, auch aufgenommen, recherchiert. Ihre beiden Schwestern habe ich nicht gekannt, denn die Schwestern waren tot. Man hat erst von ihrem Schicksal erfahren, nachdem die Geiselnehmer im Musicaltheater Nordost im Oktober 2002 alle erschossen worden sind. Da hat man angefangen zu identifizieren: Wer gehört eigentlich zu diesen schwarzen Witwen, die
damals die Hälfte dieses Geisel-Kommandos ausgemacht haben. Und dann ist es gelungen, eben zurückzuverfolgen: Aus welchen Familien kommen die eigentlich? Bei Raissa ist es so gewesen, dass sie von ihren Brüdern - wie ihre beiden Schwestern - dann nach dem Musicaldrama rekrutiert werden sollte als nächste schwarze Witwe. Und als die Brüder das erste Mal die beiden Schwestern fragten, ob sie sich eben diesem Geiselkommando anschließen würden, da haben die Schwestern zugestimmt. Raissa wäre auch gerne mitgegangen, aber als sie dann wusste und gesehen hat, was tatsächlich dort geschehen kann, dass das eben nicht nur eine riskante Aktion ist, sondern das man dabei sein Leben verliert, da hat sie gezögert und ist dann letzten Endes soweit gegangen: Sie hat sich gefürchtet vor den Brüdern, hat sich versteckt, und hat sich von der russischen Armee beschützen lassen. Soweit: Das ist die Wahrheit. Was ich in den Bereich der Fiktion legen musste - notgedrungen - war: Wer waren eigentlich die Schwestern? Was hat ihre Charaktere ausgemacht? Was waren ihre Beweggründe? Da konnte ich nur praktisch symptomatisch in diese beiden Schwestern legen, was wohl typisch für die schwarzen Witwen ist, was wir eben wissen aus dem Umfeld, aus den Aussagen von den Familienangehörigen usw. Und das habe ich versucht in diese Charaktere zu legen. Wahr ist in dem Buch jeder Anschlag, der dort eine Rolle spielt, der zu diesem Teil dieses Ausschnittes der tschetschenischen Geschichte gehört. Das sind also Anschläge, die haben tatsächlich stattgefunden. Über diese Anschläge habe ich ja jeweils - auch im Deutschlandfunk unter anderem - berichtet als Korrespondentin. Und wahr ist natürlich auch, was an handelnden Personen von russischer Seite agiert. Also der Presseoffizier Schawalkin, der da in dem Buch vorkommt, den gibt es natürlich in Wahrheit.
Frage: Warum haben Sie denn diese literarische Form gewählt? Ist es zu riskant, anders die Wahrheit über Tschetschenien zu schreiben? Schließlich gehen Sie ja nicht gerade sanft mit den Russen um. Sie nennen sie Besatzer oder weisen öfters auf den hohen Grad an Korruption hin:
Adler: Ich bin auch als Korrespondentin nicht sanft mit der russischen Seite, mit dem russischen Präsidenten usw. umgegangen. Nein, das ist überhaupt nicht der Beweggrund. Der Beweggrund sanft oder mit Rücksicht diese Wahrheit zu verbreiten, damit hat das überhaupt nichts zu tun, das ist kein Beweggrund für mich gewesen. Der Beweggrund war: Ich wollte eine Darstellungsform finden, die mich zunächst erst mal nur selbst interessiert. Das ist, glaube ich, das Recht eines jeden Autors, zu wählen, worauf hat er eigentlich Lust, in welchem Stil möchte er gerne schreiben. Und da ich Reportagen eben fürs Radio nun wirklich reichlich geschrieben habe und es wirklich außerordentlich kluge Essays über Tschetschenien und die gesamte Problematik bereits gibt, habe ich mir vorgestellt - auch anhand dieses Schicksals von Raissa - dass das eigentlich eine sehr schöne, vor allem nachempfindbare Form sein könnte, wenn man eine Person bzw. ihre beiden Schwestern und eine Familie in den Mittelpunkt stellt, um das Ganze nachfühlbar, nacherlebbar zu machen und vielleicht auch die anzusprechen, die sich sonst nie ein Buch zu diesem Thema kaufen würden, also die einfach nur berührt sind von dem Frauenschicksal. Das war das, was mich interessiert hat und das war eigentlich auch so dieses Ausüben für mich, mal in eine etwas vielleicht nicht so streng festgelegte disziplinierende Darstellungsweise zu gehen, wie das eben der Journalismus erfordert.
Frage: Man gewinnt den Eindruck, Frau Adler, dass es wohl unmöglich gewesen wäre, dass ein Mann solche Gespräche mit den Frauen in Tschetschenien hätte führen können. Wie fest gefügt ist denn die tschetschenische Gesellschaft? Ist die Moderne in Tschetschenien überhaupt noch nicht angekommen? Traditionen sind zwar schön, aber wer die Umstände der Hochzeit von Raissas Schwester Medina zum Beispiel liest, der muss den Eindruck haben, die Frauen sind nicht viel mehr als Sklaven:
Adler: Das war ein Eindruck, der hat sich mir zum Teil auch so dargestellt. Allerdings würde ich es doch etwas differenzieren wollen. Tschetschenien ist ein sehr zerrissenes Land. Tschetschenien ist in den Teilen immer noch ein modernes Land, wo sozusagen noch die Reste des Sowjetsystems nachwirken. Das heißt wir haben es immer noch mit ausgebildeten Frauen zu tun, die sich leider aber meistens in der Diaspora befinden. Und das, was wir jetzt in Tschetschenien selbst vorfinden, ist in der Tat ein Rückfall in fast veraltet wirkende Traditionen. Also wenn man eben die früheren moderneren Lebensweisen dagegen stellt, dann gibt es ein unglaublich strenges Sitten- und Regelwerk. Frauen und Männer müssen sich also an ganz bestimmte, nicht nur religiöse Gesetze halten, sondern sie müssen sich eben auch an einen Sittenkodex halten, der Frauen so gut wie keine Rechte einräumt, der sie zu den Sklaven der Männer macht. Und wie weit das fortgeschritten ist, das fand ich eigentlich sehr erschreckend. Egal, mit welchen Frauen ich gesprochen habe, egal, in welcher Runde: Es war ein ganz tief verwurzelter Begriff davon, eine Vorstellung davon, der Mann steht höher als die Frau. Das heißt also, die eigene Wertigkeit ist in der eigenen Vorstellungswelt der Frauen, in ihrer eigenen Moralvorstellung tatsächlich zweitrangig. Und das ist etwas, was sich durchzieht durch alle Generationen, und was ich natürlich als Vertreterin einer westlichen Gesellschaft, demokratischen Gesellschaft auch ganz erschreckend gefunden habe.
Frage: Könnte man denn ähnliche gesellschaftliche Strukturen auch in den anderen Ländern vorfinden, oder anders gefragt: Wären schwarze Witwen ein Modell für die Nachbarvölker?
Adler: Ich könnte es mir vorstellen. Also wenn wir weiterschauen wäre zum Beispiel das nächste Land Inguschetien. Inguschetien ist quasi nur das Brudervolk, künstlich getrennt von Tschetschenien. Dagestan hat unglaublich viele Nationalitäten. Es gibt wohl über einhundert Nationalitäten und Kleinstnationalitäten, die aber doch zumindest Eines gemeinsam haben, nämlich auch ein ganz strenges Sitten- und Regelwerk, auch eine zweitrangige Stellung der Frau, einen teilweise auch religiös - also auch mit dem Islam - unterfütterten Sittenkodex. Da könnte ich es mir auch vorstellen. Aber da muss man natürlich sagen: Um die schwarzen Witwen hervorzubringen, braucht eine Gesellschaft etwas völlig anderes - nämlich, es muss eine ausweglose Situation bestehen, eine Situation, die ein Volk ja geradezu verzweifeln lässt. Denn das würde ich gerne unterscheiden: Diese tschetschenischen Witwen, die sind zwar ein Produkt im Moment - zuallererst der russischen Gewalt als Antwort auf die russische Gewalt. Dann zweitens ein Produkt der sehr hierarchisch, sehr patriarchalisch strukturierten tschetschenischen Gesellschaft, das heißt also, die Frauen haben gar keine Wahlmöglichkeit, ob sie sich als schwarze Witwe rekrutieren lassen oder nicht, denn Raissa zum Beispiel hat das mit ihrem eigenen Schicksal insofern bezahlt, als das sie aus der tschetschenischen Gesellschaft heraus musste. Sie wird - wenn sie nicht getötet wird aus Rache der Brüder - verstoßen von dieser Gesellschaft, denn sie gilt jetzt als eine Außenseiterin, das heißt also, die Frauen haben überhaupt keine Wahl. Diese Verzweiflung, diese Hoffnungslosigkeit und natürlich auch dieses tief verwurzelte Bewusstsein: Unser Volk soll ausgerottet werden, es läuft ja ein Genozid am tschetschenischen Volk - das sind Gründe, weshalb schwarze Witwen überhaupt hervorgebracht werden können. Das ist in Dagestan nicht möglich, denn in Dagestan steht nicht die russische Armee, die das Land unter der Knute hält.
Frage: Ist Tschetschenien eine verlorene Nation, ein hoffnungsloser Fall gemessen an unseren Maßstäben für Demokratie?
Adler: Das würde ich so nicht sagen, denn es gibt in Tschetschenien immer noch sehr viele Kräfte, die erstens sehr offen schauen, was sonst noch in der Welt passiert, die sich auch sehr genau daran erinnern können, daß ein Leben unter moderneren Gesetzen und Strukturen wie zu Sowjetzeiten ja durchaus möglich war auch diese Gesellschaft. Aber ich glaube, bis es dahin kommt, da muss man wirklich verdammt viel Hoffnung aufbringen. Denn das, was sich jetzt bietet, welches Bild sich jetzt bietet in dieser Gesellschaft, das ist eine fatale verfahrene Situation. Auf der einen Seite ist der russische Präsident Putin, der Friedensgespräche ablehnt; der zwar wörtlich oder in Worten erklärt, dass er eine friedliche, eine politische Lösung möchte, de facto aber militärisch agiert, indem er das Land besetzt hält, indem er zum Beispiel mit militärischen Mitteln die Führer des tschetschenischen Volkes bzw. die Anführer der tschetschenischen Rebellenbewegung umbringen lässt. Das gehört nicht zu einer friedlichen Lösung, wenn man mit den Führern, mit denen man eigentlich an einen Tisch sollte, sie umbringt. Auf der anderen Seite ist es so, dass die Blutrache verhindert, dass das tschetschenische Volk irgendwann mal zur Ruhe kommt und tatsächlich sieht, dass nicht jeder Gewaltakt von russischer Seite eben mit einer über Jahre und Jahrzehnte andauernden Blutrache gerecht werden kann. Denn natürlich hört so dieser Kreislauf nicht auf. Und sehr, sehr
viel Hoffnung braucht man auch aus dem Grund, dass an diesem Krieg ja so wahnsinnig viele verdienen - auf beiden Seiten -, und solange so gut verdient wird, hat natürlich auch niemand Interesse daran, diesen Krieg zu beenden und das ist das eigentlich nicht hoffnungslose - man soll die Hoffnung ja nie aufgeben -, aber das macht das so schwierig.
Frage: Sie schreiben als letzten Satz, Frau Adler: "Der Kaukasus ist traumhaft schön. Ist es die Landschaft, sind es auch die Menschen, vielleicht der Freiheitswille der Menschen dort?"
Adler: Also den Freiheitswillen als traumhaft schön zu bezeichnen, davon kann überhaupt nicht die Rede sein, denn dieser Freiheitswillen, der nimmt eben auch jeden Preis dafür in Kauf. Für mich stellte sich eigentlich die tschetschenische Gesellschaft als eine Gesellschaft dar, die im Kaukasus ungemein gefürchtet wird - die Tschetschenen sind ein sehr gefürchtetes Nachbarvolk. Man unterstützt es irgendwie, fühlt sich auch solidarisch, aber man fürchtet es zugleich. Und man fürchtet es, weil die Tschetschenen - wenn sie sich ungerecht behandelt fühlen - eben auch sehr hart reagieren, wie man das eben jetzt in diesem jahrelangen Krieg schon sieht. Aber die Tschetschenen sind nicht nur hart gegen andere, sie sind zunächst hart gegen sich selbst. Und das ist eine Härte gekoppelt mit dem Freiheitswillen, wo ich - ehrlich gesagt - zurückzucke und sage: Also dann ist mir weniger Freiheitswille vielleicht denn doch lieber. Ich weiß es nicht, jedenfalls nicht gepaart mit dieser Härte. Das Menschenleben zählt für sie dann eben in diesem Kampf auch nicht viel. Landschaftlich ist der Kaukasus wunderschön. Aber es ist kreuzgefährlich für jeden Fremden, wenn er nicht weiß, welche Nationalitäten, welche Clans, welche Stämme wo welches Gebiet besetzen, sich dort
zu bewegen. Das ist kreuzgefährlich, und das geht im Grunde überhaupt nicht ohne die Hilfe der Einheimischen.
Das Buch von Sabine Adler "Ich sollte als schwarze Witwe sterben.
Die Geschichte der Raissa und ihrer toten Schwestern" ist erschienen bei der Deutschen Verlags-Anstalt in München, 349 Seiten zu 19 Euro neunzig.