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Kein Ort nirgends

Mit dem Beitritt von Bulgarien und Rumänien in diesem Jahr, kommen fast drei Millionen Roma zusätzlich in die Europäische Union. Damit sind sie die größte ethnische Minderheit auf diesem Kontinent. Die Menschen sind so verschieden, wie ihre Herkunftsländer und ihre Lebensgeschichten.

Von Doris Arp |
    " Als ich gegen Mittag an diesem Werktag nicht ohne Beklommenheit hinaufging, standen auf der vom Frühjahrsregen aufgeweichten, braunen Wiese zwischen den Häusern gewiss fünfhundert Leute. Ständig wanderten kleinere Gruppen zur Bushaltestelle hinunter, von wo andere mit gefüllten Einkaufstaschen heraufkamen, aber die allermeisten der Leute, diese Hunderten gingen nicht weg und kamen nicht her, sondern standen, sie standen alleine, zu zweit, zu zwanzig auf dem Streifen Asphalt vor ihren Häusern oder im Matsch zwischen den Häusern, sie standen, rauchten, schienen sich nur ausnahmsweise miteinander zu unterhalten und auf mich nicht im geringsten zu achten. "

    Der Journalist Karl-Markus Gauß hat in den letzten Jahren mehrfach die Slowakei bereist. Dabei hat er eines der größten Roma-Ghettos besucht und in seinem Buch "Die Hundesser von Svinia" beschrieben. In Lunik IX auf einem Hügel, zehn Busminuten von der prächtigen Stadt Kosice entfernt, leben 4000 bis 6000 Roma. Sie haben keine Arbeit, sie leben im Müll am Rande der Stadt, die meisten Kinder gehen nicht zur Schule, sie werden vom Staat notdürftig am Leben gehalten und die Mehrheit der Slowaken wäre sie gerne los.

    " Überall standen große Mistkübel, die aber nicht von jedem, der etwas wegzuwerfen hatte, genutzt wurden. Zwischen ihnen und dem Mist, der nicht im Kübel gelandet war, wieselte eine unüberschaubare Zahl von Kindern durcheinander, und auf meinem Rundgang kamen mir zahllose bleiche Kinder entgegen, die selbst bereits wieder Kinder hatten oder, heftig rauchend, mit solchen schwanger gingen. (...) Die Leute betrachteten mich nicht feindselig, sondern gar nicht. Es geschah nichts, weder Gefährliches noch Aufregendes, aber je länger ich dort war, umso stärker spürte ich, wie schwer und lähmend dieses Nichts auf der Siedlung lastete. "

    Mit dem Beitritt von Bulgarien und Rumänien in diesem Jahr, kommen fast 3 Millionen Roma zusätzlich in die Europäische Union. Damit sind sie die größte ethnische Minderheit. Nach unterschiedlichen Schätzungen leben zwischen 8 bis 10 Millionen Roma auf diesem Kontinent, rund drei Viertel in den Ländern Mittel-, Ost- und Südosteuropas. Die Menschen sind so verschieden, wie ihre Herkunftsländer und ihre individuellen Lebensgeschichten. Gemeinsam ist ihnen, dass sie als Roma seit Jahrhunderten verfolgt und im besten Fall immer nur Geduldete sind. Eine halbe Million Sinti und Roma wurden im 2. Weltkrieg ermordet.
    Roma haben keinen Ort nirgends in Europa. Peter Widmann, vom Zentrum für Antisemitismusforschung der TU Berlin, spricht von einer langen Tradition der Ausgrenzung. Sie nahm im späten 19. Jahrhundert an Schärfe zu, als die Nationalstaaten sich durch Behörden und Polizei organisierten.

    " Seither gibt es eigentlich eine Ausgrenzung, die auf bestimmte Stereotypen beruht, nämlich die Idee, die Zigeuner, wie es dann heißt, seien heimatlose Nomaden, die herumziehen, die nicht integrierbar wären, getrieben von einem Wandertrieb, zu Kleinkriminalität neigend, fern den bürgerlichen Institutionen vor allem der Schule. Das verheerende an diesen Stereotypen ist ja, dass sie sich ständig selber stabilisieren. "

    So wie im riesigen slowakischen Ghetto Lunik IX, wo fast 6000 Menschen auf einem Hügel vor der Stadt mehr oder weniger sich selbst überlassen sind. Oder die Einstellungen gegenüber Roma-Flüchtlingen aus Bosnien, dem Kosovo oder Rumänien, die seit vielen Jahren unter extremen Bedingungen in so genannten Übergangsheimen in Deutschland leben. Wer möchte solche Nachbarn?

    Widmann: " Weil jeder hingehen kann mit dem Finger auf die Roma zeigen kann und sagen kann, schau wie schmutzig die leben, schau wie wenig sie sich eigentlich interessieren für die Standards, die bürgerliche Normalität eigentlich gebietet. So dass die Ausgrenzung neue Scheinbelege liefert und so ein Teufelskreis entsteht, den wir in ganz vielen Vorurteilskomplexen beobachten können. Wo man dann eigentlich gar keine neuen Belege braucht, sondern wo sich das Vorurteil von selber stabilisiert und das über Generationen hinweg. "

    Während des Kommunismus in Osteuropa wurden Roma zwangsintegriert. Ihre angestammten Siedlungen wurden geschleift, die Bewohner in verschiedene Industriereviere verschickt und in proletarische Siedlungen gesteckt. Ihre Berufe wurden überflüssig. Kesselflicker, Korbflechter, Landarbeiter, Hufschmiede - all das wurde kaum noch gebraucht. Karl-Markus Gauß berichtet über diese Zeit von der Slowakei:

    " Viele Roma zogen herum, aber sie wurden nirgendwo mehr erwartet; andere waren so undankbar, in den schönen Plattenbausiedlungen inmitten der werktätigen Klasse nicht glücklich zu werden, nahmen Reißaus und bildeten an den Rändern der Städte und Dörfer neue Siedlungen, die sie ohne Anschluss an Kanalisation wie Stromnetz errichteten. "

    Als dann 1989 Europa wieder zusammenwuchs, waren erneut die Roma die größten Verlierer dieser Entwicklung. Sie wurden überall zum Sündenbock für negative Entwicklungen. An vielen Orten brach offener Hass aus. Dörfer brannten, Arbeitsplätze gingen verloren, neue wurden ihnen verweigert. Hunderttausende flohen und landeten in Elendssiedlungen. In der ganzen Region gerieten Roma an den untersten Rand der Gesellschaft. Der Europarat hat auf diese Entwicklung 1993 mit einer Resolution hingewiesen, in der Roma als "Echte europäische Minderheit" anerkannt sind. Inzwischen ist diese Minderheit zahlreich und etwa die Hälfte sind Kinder und Jugendliche, sagt Rudi Tarnenden, Sprecher von UNICEF-Deutschland:

    " Es ist ein Katastrophenszenario, dass Millionen Kinder vor allem in den Staaten Südosteuropas in Verhältnissen aufwachsen, die vergleichbar sind mit denen armer Entwicklungsländer. Das ist eine persönliche Tragödie für die Kinder, weil sie keine Chance haben sich zu bilden, einen Arbeitsplatz zu haben. Sie sind zu einem Leben am Rande der Gesellschaft verurteilt. Und zweitens ist es so, dass wenn die Probleme nicht angegangen werden, dann werden sich Ablehnung, Aggression und Frustration gegenseitig verstärken und das wird große politische und soziale Folgeprobleme für alle betroffenen Staaten nach sich ziehen. "

    Das Kinderhilfswerk der Vereinten Nationen hat deshalb in einer Studie die Situation von Roma Kindern in acht Ländern Südosteuropas untersucht. Parallel dazu gab Unicef eine Fall-Studie über Roma-Kinder in Deutschland beim Zentrum für Antisemitismusforschung in Auftrag. Beide Untersuchungen wurden Anfang dieser Woche in Berlin im Bundestag erstmals vorgestellt. Besonders dramatisch ist die Situation der Kinder im Kosovo. Ähnlich wie schon in den Zerfallskriegen in Bosnien werden Roma hier zwischen den Fronten der Albaner und Serben zerrieben.

    Tarneden: " Die Roma wurden von den Albaner und den Serben als Verräter verfolgt, misshandelt. Sehr viele Roma mussten den Kosovo verlassen. Heute leben etwa noch 38.000 dort. Die Situation dieser Menschen ist sehr schwierig. Sie leben in slumartigen Unterkünften, am Rande der Gesellschaft. Aufgrund der Konflikte sind die Roma-Kinder im Kosovo besonderen Benachteiligungen ausgesetzt. Der Schulbesuch ist für sie sehr viel schwieriger als für alle anderen Kinder. Der Anteil der Roma, die nicht lesen und schreiben können in der jungen Altergruppe also zwischen 15 und 25 Jahren ist sogar weiter gewachsen. Es gibt mehr ältere als junge, die lesen und schreiben können. Das ist ein Indiz dafür, dass diese Kinder massiv von Bildung ausgeschlossen worden sind. "

    Die meisten Roma in Osteuropa, so zeigt die Studie, leben in großer Armut. Fast alle haben keine Arbeit. Mehr als die Hälfte, im Kosovo bis zu 70 %, leben von weniger als 100 Euro im Monat. Sie haben kaum Zugang zum Gesundheitswesen, ihre Lebenserwartung ist um etwa zehn Jahre geringer, als bei der Mehrheitsbevölkerung. Etwa zwei Drittel der Roma hat weder eine Toilette noch ein Badezimmer. Viele müssen ohne Strom und fließendes Wasser auskommen

    " Roma-Kinder in Südosteuropa sind in starkem Maße vom Schulbesuch ausgeschlossen. In Bosnien-Herzegowina gehen beispielsweise 80% der Roma-Kinder überhaupt nicht in die Schule, in Rumänien ist es etwas besser, da liegen die Zahlen so zwischen 20 und 40 Prozent die ausgeschlossen sind, das sind enorm hohe Zahlen. "

    Die Studie zeigt, dass Roma-Kinder oft in schlechte Schulen gehen und sie bleiben auch dort unter sich. Viele können nach vier Jahren Schule noch nicht lesen und schreiben, so Tarneden:

    " Der Schlüssel muss es sein, den Einstieg, wenn Kinder in die Schule gehen zu verbessern. Da entscheidet sich, ob sie es schaffen aus einer bildungsfernen Umgebung aus einer Umgebung, die Ablehnung, Hass und Ressentiments erfahren hat und wo die Eltern misstrauisch sind, ob diese Kinder den Schritt schaffen in die Schule. In eine Schule, die ja wesentlich von der Mehrheitsgesellschaft geprägt ist. Ein zentraler Punkt der Studie ist, dass diese Kinder besser auf die Schule vorbereitet werden müssen, in Vorschulen und Kindergärten, wo sie möglichst gemeinsam mit Kindern aus der Mehrheitsgesellschaft lernen und spielen sollten. Die Vorurteilsforschung sagt ja auch, dass der beste Weg etwas für den Abbau von Ängsten das gemeinsame Tun, die gemeinsamen Ziele sind. "

    Vorurteile entstehen vor allem aufgrund von Fremdheit, erklärt Peter Widmann vom Zentrum für Antisemitismusforschung:

    " Wenn wir sehen woher diese Vorurteile kommen, dann ist das ja in der Regel nicht ne negative Erfahrung, die man mit Roma gemacht hat aufgrund derer man dann bestimmte Ideen entwickelt, sondern man bekommt durch die Sozialisation, durch Gespräche der Eltern, auch durch die ganze Kultur, dazu gehört ja auch die so genannte Zigeunerromantik, auch was in Oper und Büchern verbreitet wird, man bekommt sozusagen ein Wissen schon mit, völlig unabhängig davon, ob man je irgendeinen realen Rom oder Sinto begegnet ist. "

    Vorurteile gegenüber Roma existieren europaweit, auch in Deutschland. Zurzeit leben hier 100 - 200.000 Sinti und Roma. Vor 600 Jahren erreichten Roma-Völker auf ihrer Wanderung von Indien nach Westen Mitteleuropa. Sie nennen sich Sinti, haben aber denselben indischen Ursprung und auch die gemeinsame Sprache Romanes, wie die Roma. Eine Urkunde im Stadtarchiv von Hildesheim belegt, dass sie im Jahr 1407 zum ersten Mal in Deutschland wahrgenommen wurden. Sinti leben also seit Jahrhunderten in Deutschland. Sie sind deutsche Staatsbürger und rechtlich nicht benachteiligt. Die meisten sind integriert. Allerdings stoßen sie immer noch auf Widerstände. Ihre Kinder gehen auf schlechter qualifizierende Schulen. In Baden-Württemberg zum Beispiel erreichen nicht einmal 2/3 der Sinti-Kinder wenigstens den Hauptschulabschluss. Auch bei der Arbeits- und Wohnungssuche werden sie immer noch oft als "Zigeuner" abgewiesen. Viel schlimmer aber ist die Lage der Roma, die in den 90er Jahren als Kriegsflüchtlinge und Asylsuchende aus dem Balkan kamen. Brigitte Mihok vom Zentrum für Antisemitismusforschung an der TU Berlin hat die Deutschland-Studie erstellt:

    " Wir sprechen vor allen Dingen über geduldete Flüchtlinge und Asylbewerber. Denen wird gesetzlich vorgeschrieben, dass sie nicht arbeiten gehen dürfen, dass sie in den Unterkünften leben müssen, die man ihnen vorgibt und dass sie gekürzte Sozialleistungen haben. Nehmen wir die Wohnsituation als Beispiel, dann kommt es natürlich darauf an, wie Roma untergebracht werden. Wenn wir uns zum Beispiel erinnern, dass bis 2003 Romakinder in Köln in Container-Siedlungen, Wohnschiffen und Zelten untergebracht wurden, hat man sich nie gefragt, wie die Aufnahmebereitschaft der umliegenden Schule für diese Kinder aussieht. "

    Es geht um etwa 40.000 Flüchtlinge, darunter etwa 20.000 Roma-Kinder, die in Deutschland leben. Viele von ihnen schon seit sechs bis 10 Jahren. Die allermeisten sind Geduldete. Das bedeutet ein Leben auf Abruf alle zwei bis drei Monate.

    " Hallo ich bin Boby Jordanovski. Ich bin zehn Jahre alt. Ich komme aus Mazedonien, auch meine Familie. Ich bin da geboren und drei Jahre bin ich hier in Deutschland. "

    Glücklich wären seine Eltern, wenn sie bleiben dürften, sich eine Arbeit suchen und das Übergangsheim am Hansaring gegen eine eigene Wohnung tauschen könnten. Das alles dürfen sie nicht. Der jetzige Aufenthaltsstatus erlaubt nur wenig selbständige Entscheidungen. Eigentlich nur darüber, wofür sie die auf 70% gekürzte Sozialhilfe ausgeben und wie sie mit ihren Kindern umgehen. Auf jeden Fall sollen ihre beiden Söhne die Schule besuchen, sagt Bobys Mutter der Schulmediatorin von Amaro Kehr.

    Amaro Kehr bedeutet in Romanes, der Sprache der Roma, Unser Haus. Eigentlich ist es eher ein Häuschen im Kölner Norden, mit einer Schul-Baracke auf dem Hof und demnächst einem Anbau für den Kindergarten. 30 Roma-Kinder gehen hier jeden Tag zur Schule. Amaro Kehr ist das Schul- und Integrationsprojekt des Rom e.V. Seit fast 20 Jahren setzen sich Kölner Bürger in diesem Verein für die Interessen und Rechte der hier lebenden Roma ein.

    Der zehnjährige Boby geht erst seit einem halben Jahr in die Schule Amaro Kehr. Im Sommer wird er auf eine Hauptschule wechseln. Am liebsten würde er bleiben und weiter nur mit anderen Roma-Kindern in die Schule gehen. Angst und Vorurteile gibt es auf beiden Seiten, erzählt die Schulmediatorin Magdalena Lovric. Die jüngste Vertreibung hat auch viele Roma-Eltern misstrauisch gemacht. Die Sozialpädagogin arbeitet an der Schule, besucht aber auch die Familien in ihren Unterkünften. Sie ist Vermittlerin zwischen den deutschen Behörden und den Roma-Familien.

    " Ich bin selber Roma. Meine Mutter ist Romni aus Serbien, mein Vater ist Gadsche, er ist ein Serbe. Das heißt ich bin von zwei Kulturen sozialisiert und aufgewachsen. Aber im Grunde ist es auch ein Teil von mir, dass ich lange Jahre gezwungen war, meine Familie und ich, dass wir nach außen nicht gesagt haben, dass wir Roma sind. Deswegen habe ich mir auch das Ziel gesetzt, mich dafür einzusetzen, dass diese Zeit auch vorbei ist, dass ein Rom voller Stolz sagen kann, er ist Rom, er ist ein Mensch und er möchte auch Bildung haben für sich, für seine Kinder und trotzdem weiterhin die Tradition und die Sprache pflegen. "

    Die Studie des Instituts für Antisemitismusforschung belegt, dass entgegen der landläufigen Vorurteile, die meisten Roma-Flüchtlinge ihre Kinder gerne in Kindergärten und Schulen schicken würden. Aber im Saarland dürfen Schulen Roma-Kinder abweisen. Und in Hessen und Baden-Württemberg sind sie nicht schulpflichtig. Das heißt ihr Schulbesuch hängt von dem Engagement der Eltern, Sozialarbeitern und Lehrern ab. Eine entscheidende Rolle spielt der Aufenthaltsstatus, ist das Fazit der Studie von Brigitte Mihok.

    " Denn das größte Problem ist, dass sie jetzt in einem Schwebezustand sind, das heißt sie werden nicht für das hier Bleiben vorbereitet, aber auch nicht für das Gehen vorbereitet. Und das ist auf jeden Fall nicht im Interesse der Flüchtlinge selber und auch nicht der Gesellschaft hier, falls sie noch länger bleiben. "

    Entsprechend stand über der gemeinsamen Tagung von Unicef-Deutschland und der Kinderkommission des Deutschen Bundestag vor allem eine politische Forderung: das Bleiberecht für Flüchtlinge, die schon viele Jahre hier leben.