Archiv


Kein Pass, kein Haus, keine Hilfe

In Pakistan, das noch immer vom Kastendenken geprägt ist, leben etliche Millionen Menschen ausgegrenzt von der Gesellschaft. Ohne Ausweis und Geburtsurkunde existieren sie für den Staat nicht. Zu den Vergessenen zählen vor allem die rund eine Million Roma.

Von Thomas Kruchem |
    Lahore, Pakistan; eine von Erosionsrinnen durchzogene Ödfläche am Ufer eines stinkenden Kanals. In den Rinnen Müll; dazwischen Hütten aus Bambusbögen und darüber geworfenen Säcken, vor denen Frauen Dungfladen auf offene Feuerstellen legen, umgeben von Kühen, Eseln und nackt am Boden spielenden Kindern.

    Eine Siedlung von "Gypsies", wie das Volk der Roma in Pakistan genannt wird. Eine Siedlung, wo heute eine hundert Schar von Kindern, Frauen und alte Männern wie gebannt vor einem in schwarzes Tuch gehüllten Puppentheater sitzen, auf dem Figuren mit bunten Gesichtern und riesigen Mündern heftig diskutieren. Usman Aktar, Mitarbeiter der lokalen Hilfsorganisation "Godh", hat die Szenen mit jungen "Gypsies" einstudiert.

    "Das Stück, das wir heute spielen, thematisiert auf unterhaltsame Weise alltägliche Probleme der Gypsies. Sie haben keine festen Unterkünfte, kein Wahlrecht und keine Schulen für ihre Kinder. Insbesondere um die Schulbildung der Kinder kreisen etliche Dialoge in dem Theaterstück, das die Leute motivieren soll, ihre Probleme selbst in die Hand zu nehmen. ’Godh’ kann ihnen helfen; aber lösen müssen die Gypsies ihre Probleme letztlich selbst."

    "Probleme zuhauf", sagt die in einen leuchtend roten Shalwar Khamiz gekleidete Bezira Bebe und deutet auf einen Eimer ölig schimmernden Wassers, das sie eben aus dem Grundwasserbrunnen der Siedlung gepumpt hat.

    "Unsere Kinder haben dauernd Fieber; und viele sterben, so wie das 14-jährige Mädchen heute. Es hatte angeblich eine Hirnhautentzündung, vielleicht von den vielen Moskitos und Fliegen hier. Außerdem sammeln die Kinder ja den ganzen Tag Müll. Würden sie das nicht tun, hätten wir noch weniger Geld für Essen und für die Mitgift unserer Töchter."

    Seit vier Jahren leben die 30 Familien auf dem Stück Ödland nahe der "Multan Kalani Road", die in die Innenstadt Lahores führt. "Jederzeit", sagt Beziras Cousin Abdul Shakur, "kann der Besitzer des Grundstücks uns fortjagen, wenn er, zum Beispiel, eine Mietskaserne bauen will."

    "Wir haben schon so oft auf dem Amt Ausweise beantragt. Manchmal sagen sie: ’Ja, Du kriegst einen’; dann aber verlangen sie eine feste Adresse, die wir nicht haben, und eine Geburtsurkunde. Die haben wir auch nicht, weil Geburtsurkunden nur für Kinder ausgestellt werden, deren Eltern schon einen Ausweis besitzen."

    In Lahore bevölkern 40.000 "Gypsies" Flussufer, Felder und Baubrache; verdingen sich als Müllsammler, Straßenkehrer und Bauarbeiter. "Auch als Trickkünstler und Musiker sind wir immer noch gut", sagt Muhammad Rafi, derweil seine Freunde auf dem "Nal-Dulkie" spielen, einer Trommel aus Holz und Ziegelfell, und auf dem "Canjerie", einer Art Rassel.

    "Unsere Instrumente benutzen wir seit Jahrhunderten; vor allem beim Straßentheater, wo wir klassische Geschichten spielen, von denen viele schon tausend Jahre alt sind. Auch unsere alten Tänze führen wir noch häufig auf, bei Hochzeiten, in Kaufhäusern und an großen Straßen. Bei uns, in der Kaste der ’Qalander’ dürfen übrigens nur Männer öffentlich tanzen und singen; anders als bei den ’Bakibas’, wo dies Männern und Frauen erlaubt ist."

    "Odh" oder "Khana Badosh", "die mit dem Haus auf den Schultern", werden "Gypsies" in Pakistan genannt. Im hier noch überall spürbaren Kastenwesen gelten sie als "Dalit", als schmutzige, stehlende und bettelnde Unberührbare. Man gibt ihnen nicht die Hand, isst und feiert nicht mit ihnen, benutzt jedoch "Gypsie"-Frauen und Kinder für sexuelle Vergnügen. "Ja, Prostitution und Kindesmissbrauch sind ein Problem in den für jedermann offenen Hütten", sagt Abdul Shakur, empört sich jedoch über die verbreitete Unterstellung, die "Gypsies" lebten freiwillig als Nomaden.

    "”Das stimmt doch gar nicht, dass wir Gypsies gern als Nomaden auf freiem Feld leben. Auch wir hätten gern feste Unterkünfte, Strom, Telefon und Schulen für unsere Kinder. Meinen Sie, es macht uns Spaß, in diesen Verschlägen aus Tüchern und Brettern zu hausen, wo während des Monsuns Gewitterstürme all unser Hab und Gut davon reißen und im Schlamm versinken lassen?""

    All das wird sich erst ändern, wenn junge "Gypsies" sich aus dem Elend heraus arbeiten können, meint Nazir Ghazi, Chef der Organisation "Godh", die für die Rechte der "Gypsies" kämpft, unterstützt vom deutschen katholischen Hilfswerk "Misereor".

    Um jungen "Gypsies" eine Chance zu geben, hat "Godh" bislang 28 Schulen in deren Elendsquartieren gebaut. An der Multan-Kalani-Road unterrichten derzeit drei engagierte Lehrer 45 Kinder - in einem Gebäude, das sich schnell zerlegen und wieder aufbauen lässt, wenn die "Gypsies" mal wieder vertrieben werden. Mühsam versucht Ghazi, Absolventen seiner Grundschulen an weiter führende staatliche Schulen zu vermitteln - ohne jede Hilfe seitens der Behörden.

    "”Die Behörden schüren die Diskriminierung der ’Gypsies’ durch die Allgemeinheit noch, indem sie sich überhaupt nicht um sie kümmern. Die Distriktsverwaltung von Lahore, zum Beispiel, hat in ihrem Budget keinerlei Geld für die ’Gypsies’ vorgesehen: kein Geld für ihre Unterbringung in menschenwürdigen Behausungen, kein Geld für die Schulausbildung ihrer Kinder, keins für ihre Gesundheitsversorgung. In unserem Theaterstück fragen wir deshalb: ’Warum kümmert Ihr Euch nicht um die Probleme der ’Gypsies’? Warum gebt Ihr ihnen keine Geburtsurkunden und keine Ausweise? Warum impft Ihr ihre Kinder und Frauen nicht gegen Polio und andere gefährliche Krankheiten?’ Und immer wieder laden wir Vertreter der Verwaltung bis hin zum Chief Minister ein, Lager wie dieses zu besuchen.""