Stefan Koldehoff: Heute erschien in der Wochenzeitung „Die Zeit“ ein offener Brief von 60 deutschen Migrationsforschern, die unter der Überschrift „Gerechtigkeit für die Muslime“ behaupten, die deutsche Integrationspolitik der letzten Jahre sei falsch, denn sie stütze sich auf Vorurteile. Auf Vorurteile, die in Erlebnisberichten von Autorinnen wie Necla Kelek oder der Berliner Rechtsanwältin Seyran Ates verbreitet würden. Diese Frauen gäben Einzelerfahrungen wieder, so heißt es, die in der öffentlichen Debatte unzulässig verallgemeinert würden. Seyran Ates etwa hat in einem Buch mit dem Titel „Die große Reise ins Feuer“ ihr Aufbegehren gegen die türkisch-kurdischen Eltern und deren Rollenerwartungen beschrieben, die fast zu Ende gewesen wären, als sie vor 20 Jahren von einem Türken in einem Berliner Frauenladen niedergeschossen worden ist. Multikulti ist die organisierte Verantwortungslosigkeit, hat sie gesagt und darauf hingewiesen, viele muslimische Frauen und Mädchen seien nichts weiter als Sklavinnen auf dem muslimischen Heiratsmarkt. Frau Ates, verbreiten Sie damit Vorurteile?
Seyran Ates: Nein, das tue ich auf keinen Fall. Im Gegenteil. Diese 60 Migrationsforscher tun eben genau das, was sie uns vorwerfen. Sie haben Vorurteile mehr als 30 Jahre lang geduldet und geschürt, indem sie eine vermeintlich wissenschaftliche Arbeit vorgelegt haben. Und sie haben dabei übersehen, dass es um Menschen geht, die in dieser Gesellschaft nie die Chance hatten, richtig anzukommen. Sie haben sich um die Menschen gar nicht gekümmert. Vielleicht kann man da dieses Bild von einem Wissenschaftler sich vorstellen, der in der Uni an seinem Schreibtisch sitzt, so Schreibtischtäter eben, und keinerlei Ahnung vom Leben hat. Und nicht anders empfinde ich diese Migrationsforscher.
Denn wer tatsächlich gewissenhaft und seriös Forschung auf diesem Gebiet betreiben würde, hätte vor 30 Jahren schon gesagt: Hey Leute, da gibt es Zwangsverheiratungen in diesen Kreisen, da gibt es sexuellen Missbrauch in Migrantenfamilien, da müssen wir uns mal drum kümmern. Wie ist denn überhaupt das mit der Gewalt? Wieso ist da so eine erhöhte Gewaltbereitschaft? Die Jugendlichen sind so aggressiv, woher kommt das? Das hatten wir schon vor 30 Jahren. Und wenn diese 60 Migrationsforscher Geld, Mittel und Zeit zur Verfügung bekommen, an Universitäten zu sitzen und zu diesem Thema zu forschen, warum sind sie nicht zu diesen Ergebnissen gelangt?
Koldehoff: Was ist Ihre Erklärung? Hat man es nicht gesehen? Oder hat man es vielleicht auch nicht sehen wollen?
Ates: Man hat es nicht sehen wollen. Das ist ja auch sehr bequem. Und ich gehe auch ganz stark davon aus, dass es sich bei diesen 60 Migrationsforschern um Menschen handelt, die in einer gewissen Schicht aufgewachsen sind oder zu einer gewissen Schicht gehören beziehungsweise sich sogar – ich denke, dass sie Identitätsprobleme haben, womöglich auch noch – abgrenzen, wenn sie von der Herkunftskultur kommen. Also wenn sie aus Migrantenkreisen kommen, dann spalten sich einige Leute gerne auch ab und sagen: Also zu dieser Unterschicht gehören wir nicht, wir sind in der Oberschicht. Und eigentlich sind die Migranten ja schon hier in dieser Gesellschaft angekommen. Sie sind integriert.
Also wenn jemand aus dem Migrationshintergrund heraus aus dem Milieu kommt und sagt: Wir sind integriert, dann will er ja damit sagen: Es gibt kein Migrationsproblem und ich gehöre im Übrigen auch schon auf die positive Seite, auf die Sonnenseite. Diese Frau Yasemin Karakasoglu zum Beispiel behauptet, die Jugendlichen würden sich doch alle sehr wohl fühlen in ihren Familien, und zwar die Mehrheit. Da kann ich nur sagen: Diese Frau hat wirklich keine Ahnung von der Realität.
Koldehoff: Und das ist eine Aussage, die Sie treffen, beispielsweise auf Grund Ihrer Tätigkeit als Anwältin? Oder woher rühren Ihre Erkenntnisse?
Ates: Mehr als 20 Jahre Tätigkeit gerade im Bereich von Mädchen- und Frauenarbeit, insbesondere auch Migrantinnen. Meine Arbeit ist nicht nur die 8 Jahre anwaltliche Tätigkeit, sondern mehr als 20 Jahre in politischen Zusammenhängen – und aus dem Kiez. Ich lebe mit diesen Leuten. Ich habe mit ihnen zusammengelebt, lebe weiterhin mit ihnen und habe ein Eins-zu-eins-Gespräch immer wieder, tagtäglich. Auch wenn ich mich mit dem Dönerbuden-Besitzer hier um die Ecke mich unterhalte, habe ich genau all das, was ich beschreibe, wieder als Realität vor Augen.
Koldehoff: Frau Ates, man kann ja zum Teil schon den Eindruck haben, dass einem sprachlich gar nicht klar ist, worüber überhaupt geredet wird. Einige sprechen von der zweiten Migrantengeneration, andere von der dritten Migrantengeneration – machen solche Einteilungen eigentlich Sinn, oder?
Ates: Die machen auf jeden Fall Sinn. Wir haben hier keine homogene, einheitliche Generationsgruppe. Aber was wir haben, ist ein roter Faden, der sich durchzieht von der ersten bis zur dritten Generation, wenn wir über veraltete Praktiken und Traditionen reden. Eine Vermischung von Religion, Tradition und Kultur et cetera. Das alles bezeichnen wir – Necla Kelek, ich, Serap Cileli, Fatma Bläser – Frauenrechtlerinnen, die sagen: Ihr habt so lange weggeguckt, das reicht. Und wieso bezeichnet man Frauen wie uns als „mutig“, wenn wir über diese Themen sprechen? Und diese 60 Migrationsforscher haben so wenig mutig, Mut bewiesen, auf ihren Sesseln gesessen, haben dafür monatlich Geld kassiert und unterstellen uns jetzt finanzielle Motive, dass wir diese Themen an die Öffentlichkeit bringen. Mutig ist das nicht, was diese Damen und Herren machen. Nur, uns persönlich anzugreifen, also wenn es da heißt, wir sind. wie nennen sie das? „biografisch begründete Herangehensweise“, also das ist doch eine, das ist doch eine Beleidigung. Im Grunde genommen wird uns unterstellt, wir sind doch nicht ganz normal, wir haben hier ein ganz persönliches, privates Problem und verallgemeinern das auf die gesamten Migranten. Wenn das so wäre, wieso habe ich so viele zwangsverheiratete Frauen hier? Wieso melden sich so viele Frauen in den entsprechenden Beratungsstellen?
Koldehoff: Was hätte stattdessen geschehen müssen? Was sollte geschehen? Es ist immer die Rede von der so genannten Leitkultur, von einem Kanon verbindlicher Werte – ist das eine Lösung?
Ates: Ich habe damit überhaupt kein Problem, einen Wertekanon zu erarbeiten, eine gemeinsame Leitkultur zu erarbeiten. Das ist ja nicht nur die deutsche, die urdeutsche, sondern es ist die Kultur der Menschen, die hier lebt. Wir gemeinsam vereinbaren etwas, so wie jetzt in der Schule geschehen hier in Berlin, dass dort gemeinsam vereinbart wird: Wir sprechen Deutsch, aus Höflichkeit und weil wir uns gegenseitig verständigen wollen.
Seyran Ates: Nein, das tue ich auf keinen Fall. Im Gegenteil. Diese 60 Migrationsforscher tun eben genau das, was sie uns vorwerfen. Sie haben Vorurteile mehr als 30 Jahre lang geduldet und geschürt, indem sie eine vermeintlich wissenschaftliche Arbeit vorgelegt haben. Und sie haben dabei übersehen, dass es um Menschen geht, die in dieser Gesellschaft nie die Chance hatten, richtig anzukommen. Sie haben sich um die Menschen gar nicht gekümmert. Vielleicht kann man da dieses Bild von einem Wissenschaftler sich vorstellen, der in der Uni an seinem Schreibtisch sitzt, so Schreibtischtäter eben, und keinerlei Ahnung vom Leben hat. Und nicht anders empfinde ich diese Migrationsforscher.
Denn wer tatsächlich gewissenhaft und seriös Forschung auf diesem Gebiet betreiben würde, hätte vor 30 Jahren schon gesagt: Hey Leute, da gibt es Zwangsverheiratungen in diesen Kreisen, da gibt es sexuellen Missbrauch in Migrantenfamilien, da müssen wir uns mal drum kümmern. Wie ist denn überhaupt das mit der Gewalt? Wieso ist da so eine erhöhte Gewaltbereitschaft? Die Jugendlichen sind so aggressiv, woher kommt das? Das hatten wir schon vor 30 Jahren. Und wenn diese 60 Migrationsforscher Geld, Mittel und Zeit zur Verfügung bekommen, an Universitäten zu sitzen und zu diesem Thema zu forschen, warum sind sie nicht zu diesen Ergebnissen gelangt?
Koldehoff: Was ist Ihre Erklärung? Hat man es nicht gesehen? Oder hat man es vielleicht auch nicht sehen wollen?
Ates: Man hat es nicht sehen wollen. Das ist ja auch sehr bequem. Und ich gehe auch ganz stark davon aus, dass es sich bei diesen 60 Migrationsforschern um Menschen handelt, die in einer gewissen Schicht aufgewachsen sind oder zu einer gewissen Schicht gehören beziehungsweise sich sogar – ich denke, dass sie Identitätsprobleme haben, womöglich auch noch – abgrenzen, wenn sie von der Herkunftskultur kommen. Also wenn sie aus Migrantenkreisen kommen, dann spalten sich einige Leute gerne auch ab und sagen: Also zu dieser Unterschicht gehören wir nicht, wir sind in der Oberschicht. Und eigentlich sind die Migranten ja schon hier in dieser Gesellschaft angekommen. Sie sind integriert.
Also wenn jemand aus dem Migrationshintergrund heraus aus dem Milieu kommt und sagt: Wir sind integriert, dann will er ja damit sagen: Es gibt kein Migrationsproblem und ich gehöre im Übrigen auch schon auf die positive Seite, auf die Sonnenseite. Diese Frau Yasemin Karakasoglu zum Beispiel behauptet, die Jugendlichen würden sich doch alle sehr wohl fühlen in ihren Familien, und zwar die Mehrheit. Da kann ich nur sagen: Diese Frau hat wirklich keine Ahnung von der Realität.
Koldehoff: Und das ist eine Aussage, die Sie treffen, beispielsweise auf Grund Ihrer Tätigkeit als Anwältin? Oder woher rühren Ihre Erkenntnisse?
Ates: Mehr als 20 Jahre Tätigkeit gerade im Bereich von Mädchen- und Frauenarbeit, insbesondere auch Migrantinnen. Meine Arbeit ist nicht nur die 8 Jahre anwaltliche Tätigkeit, sondern mehr als 20 Jahre in politischen Zusammenhängen – und aus dem Kiez. Ich lebe mit diesen Leuten. Ich habe mit ihnen zusammengelebt, lebe weiterhin mit ihnen und habe ein Eins-zu-eins-Gespräch immer wieder, tagtäglich. Auch wenn ich mich mit dem Dönerbuden-Besitzer hier um die Ecke mich unterhalte, habe ich genau all das, was ich beschreibe, wieder als Realität vor Augen.
Koldehoff: Frau Ates, man kann ja zum Teil schon den Eindruck haben, dass einem sprachlich gar nicht klar ist, worüber überhaupt geredet wird. Einige sprechen von der zweiten Migrantengeneration, andere von der dritten Migrantengeneration – machen solche Einteilungen eigentlich Sinn, oder?
Ates: Die machen auf jeden Fall Sinn. Wir haben hier keine homogene, einheitliche Generationsgruppe. Aber was wir haben, ist ein roter Faden, der sich durchzieht von der ersten bis zur dritten Generation, wenn wir über veraltete Praktiken und Traditionen reden. Eine Vermischung von Religion, Tradition und Kultur et cetera. Das alles bezeichnen wir – Necla Kelek, ich, Serap Cileli, Fatma Bläser – Frauenrechtlerinnen, die sagen: Ihr habt so lange weggeguckt, das reicht. Und wieso bezeichnet man Frauen wie uns als „mutig“, wenn wir über diese Themen sprechen? Und diese 60 Migrationsforscher haben so wenig mutig, Mut bewiesen, auf ihren Sesseln gesessen, haben dafür monatlich Geld kassiert und unterstellen uns jetzt finanzielle Motive, dass wir diese Themen an die Öffentlichkeit bringen. Mutig ist das nicht, was diese Damen und Herren machen. Nur, uns persönlich anzugreifen, also wenn es da heißt, wir sind. wie nennen sie das? „biografisch begründete Herangehensweise“, also das ist doch eine, das ist doch eine Beleidigung. Im Grunde genommen wird uns unterstellt, wir sind doch nicht ganz normal, wir haben hier ein ganz persönliches, privates Problem und verallgemeinern das auf die gesamten Migranten. Wenn das so wäre, wieso habe ich so viele zwangsverheiratete Frauen hier? Wieso melden sich so viele Frauen in den entsprechenden Beratungsstellen?
Koldehoff: Was hätte stattdessen geschehen müssen? Was sollte geschehen? Es ist immer die Rede von der so genannten Leitkultur, von einem Kanon verbindlicher Werte – ist das eine Lösung?
Ates: Ich habe damit überhaupt kein Problem, einen Wertekanon zu erarbeiten, eine gemeinsame Leitkultur zu erarbeiten. Das ist ja nicht nur die deutsche, die urdeutsche, sondern es ist die Kultur der Menschen, die hier lebt. Wir gemeinsam vereinbaren etwas, so wie jetzt in der Schule geschehen hier in Berlin, dass dort gemeinsam vereinbart wird: Wir sprechen Deutsch, aus Höflichkeit und weil wir uns gegenseitig verständigen wollen.