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Kein Raum in dieser Zeit

Hans Jürgen von der Wense (1894-1966) führte ein geheimes Leben zwischen Selbstbekenntnis und Fiktion. Er zeichnete unendlich viel auf, doch veröffentlichte er zu Lebzeiten kaum etwas. "Ich inventarisiere die Schöpfung", behauptete Wense im Alter von sich. Über 30.000 beidseitig beschriebene Blätter fanden sich in seinem Nachlass, an die 6000 Briefe; darüber hinaus 40 Tagebücher, ein Dutzend Kompositionen und 3000 Fotos.

Von Richard Schroetter |
    Von der Wense, der sich als junger Mann am Spartakus-Aufstand beteiligte und nach dem 1. Weltkrieg mit der Avantgarde seiner Zeit zusammentraf - mit Schönberg, Krenek, Toller, Ernst Heckel, Oskar Kokoschka und vielen anderen - zog sich mehr und mehr zurück. Wir erleben ihn als besessenen Wanderer und feinsinnigen Stubengelehrten, der eine intime Freundschaftskultur mit einigen Auserwählten pflegt.

    "Sie fragen mich, wer ich sei.", schreibt er aus Göttingen an einen Freund." Ich will es Ihnen ganz offen sagen: ich bin nichts, gar nichts. Ich bin nur ein Dichter und das heißt ein Mensch und das heißt ein Rebell! Ich habe nie etwas gelernt, nie etwas dauernd verdient, niemals Steuern gezahlt, habe auch obwohl ich ein Deutscher bin, keinerlei Titel - man nennt oder schimpft mich einen Privatgelehrten: das letzte Exemplar dieser heute ausgestorbenen Gattung, also ein Fabeltier - die Wahrheit ist, dass ich ein Mensch bin, der in seiner Zeit keinen Raum findet und der sehn muss, wie er unter verschiedenen Masken davonkommt."

    Spricht hier einer der großen Übergangenen einer längst "überfälligen Geschichte der geheimen deutschen Literatur" (Botho Strauß) oder ist dieses selbsternannte Fabeltier bloß ihr Phantom?

    Das Manuskript zur Sendung können Sie unter "Downloads" im PDF-Format herunterladen.