Birgid Becker: In der Metall- und Elektroindustrie im Südwesten wurde ins Wochenende mit einem fertigen Tarifabschluss gegangen, der heute aber noch die Zustimmung der Gewerkschaftsgremien haben musste, was er erwartungsgemäß auch bekam. Bevor wir gleich im Gespräch mit einem Tarifexperten ausloten, ob dieser Abschluss mehr brachte als nur mehr Geld für die Stammbelegschaft, nämlich mehr Sicherheit auch für die Leiharbeiter der Branche, bevor wir das ausloten, Michael Brandt mit dem Votum der Metaller zum Verhandlungsergebnis ihrer Funktionäre.
Mitgehört hat der Koblenzer Sozialwissenschaftler und Tarifexperte Stefan Sell. Guten Tag.
Stefan Sell: Guten Tag!
Becker: 4,3 Prozent mehr Lohn für die Metallbeschäftigten – das ist nach den gut drei Prozent im öffentlichen Dienst nun der zweite Abschluss mit einem deutlichen Lohnplus. Als nächste wichtige Branche steht nun die chemische Industrie an. Ist das die erwartete Trendumkehr in der Lohnpolitik nach dem Motto "wettbewerbsfähig sind wir nun, jetzt darf auch wieder mehr verdient werden", also eine Trendumkehr, die ja mittlerweile auch höchste europapolitische Weihen bekommen hat?
Sell: Es ist zumindest eine Abkehr von der bisherigen Lohnzurückhaltung, die wir in den letzten 15 Jahren mit ein, zwei Ausnahmen gesehen haben, gerade in wirtschaftsstarken Bereichen wie der Metall- und auch der Chemieindustrie. In der Ökonomie gibt es sozusagen einen Spielraum: das ist der verteilungsneutrale Lohnerhöhungsspielraum, ein schreckliches Wort. Das sagt also, bis wohin kann man die Löhne erhöhen, ohne dass es zu größeren Arbeitsmarktschäden kommt oder überhaupt Arbeitsmarktschäden. Das wäre die Zwei-Prozent-Ziel-Inflationsrate der Europäischen Zentralbank und die mittelfristige Produktivitätsentwicklung. Und wenn man dieses Maß zugrunde legt, dann sind die 4,3 Prozent, die ja nicht wirklich real 4,3 Prozent sind, sondern wir haben ja einen Nullmonat im April - das heißt das schrammt gerade so knapp unterhalb der vier Prozent, dieser Lohnabschluss, wenn man den richtig liest -, dann wird dieser verteilungsneutrale Lohnerhöhungsspielraum nicht voll ausgeschöpft. Insofern ist das jetzt kein richtiger Schluck aus der Pulle, wenn ich das so sagen darf.
Becker: Was hätte nach Ihrer Einschätzung noch draufkommen können?
Sell: Zumindest in diesem Bereich wäre sicherlich ein Abschluss, der real zwischen vier und fünf Prozent gelegen hätte, eher in die Richtung fünf, durchaus auch noch vertretbar gewesen – vor dem Hintergrund nicht nur der aktuellen Situation in diesem Bereich Metall- und Elektroindustrie, sondern auch und vor allem, weil die Arbeitnehmer berechtigterweise das Gefühl haben, dass sie ein Stück weit auch jetzt mal ausgeglichen werden müssen für ihre Lohnzurückhaltung, also ein psychologisches Argument, was man nicht unterschätzen darf. Da wäre schon noch was drin gewesen.
Becker: Nun sollte es ja nicht alleine um mehr Geld gehen in dieser Runde; es sollte auch um mehr Sicherheit gehen für die Auszubildenden der Branche und es sollte um mehr Sicherheit gehen für die Leiharbeiter. Es gibt nun Regelungen, wie eben gehört. Was taugen die Regelungen?
Sell: Grundsätzlich gilt natürlich, Tarifverhandlungen sind ja immer Kompromissveranstaltungen. Und ist das Glas jetzt halb voll, oder halb leer? Die Gewerkschaft kann zumindest für sich in Anspruch nehmen, dass Sie – lassen Sie es mich mit einem Bild sagen – jetzt den Fuß stärker in der Tür hat über ihre Betriebsräte. Es wurde ja im Beitrag dargestellt, beispielsweise wenn die Auszubildenden nicht übernommen werden, dann muss das begründet werden gegenüber dem Betriebsrat. Da hat es eine Verschiebung im Machtgefüge gegeben. Aber ich könnte jetzt auch etwas zynisch sagen, gerade die Leiharbeitsvereinbarungen haben doch eher den Charakter einer kosmetischen Vereinbarung, denn man muss einfach sehen: die dürfen jetzt auch nach der Neuregelung 18 Monate dort in den Unternehmen arbeiten. Wir wissen aus den bisherigen Daten, dass über die Hälfte der Leiharbeitsverhältnisse gar nicht länger als drei Monate dauern. Nur 14 Prozent dauern länger als eineinhalb Jahre. Das heißt also, wenn das Unternehmen will, dann tauscht es einfach die Leiharbeiter vorher aus, sodass mich da schon irgendwie der Eindruck beschleicht, man wollte zu einem vorzeigbaren Ergebnis kommen, was aber relativ wenig materiellen Regelungsgehalt haben wird.
Becker: Das was Sie nannten, war aber nun genau das Argument der Arbeitgeber, um zu sagen, die Leiharbeiter-Problematik ist ja gar nicht so drängend. Ist dem so?
Sell: Nein. Das Problem ist, dass die Leiharbeits-Problematik eine neue Qualität bekommen hat. Wir haben ja in einigen Unternehmen der Metallindustrie einen hohen Anteil von Leiharbeitern, denken Sie an BMW beispielsweise, also einen extrem hohen Anteil, der auch nicht gerechtfertigt ist durch Auftragsspitzen, sondern wo ganz klar eine Zwei-Klassen-Belegschaft geschaffen werden sollte oder auch geschaffen wurde. Das Problem ist nur: die Leiharbeit wird jetzt auch durch diesen Abschluss bei aller Kritik stärker reguliert durch die Gewerkschaften. Wir haben ja auch gleichzeitig einen Branchenmindestlohn für die Leiharbeit seit dem 1. Januar und jetzt passiert leider folgendes, was oft in der Wirtschaft passiert: es werden sofort neue Umgehungsstrategien gesucht und es wird eine dritte Arbeitnehmerklasse aufgemacht, zunehmend aufgemacht, das sind die sogenannten Werkvertragsarbeitnehmer, weil für die gilt gar kein Branchenmindestlohn, und da hat auch der Betriebsrat keinerlei Mitbestimmungsrechte. Da sehen wir schon einen Anstieg bei der Inanspruchnahme von Werkverträgen, sodass dann wahrscheinlich in der nächsten Tarifrunde die IG Metall sich um dieses Problem kümmern muss.
Becker: Bräuchte man denn nach Ihrer Einschätzung doch eine gesetzliche Missbrauchsbremse, oder einfach nur einen engeren Regelungsrahmen?
Sell: Ja, ich glaube natürlich. Was die jetzt vereinbart haben, auch bei aller meiner Kritik, dass das eher kosmetisch ist, ist aber doch im Prinzip der Versuch, die Entscheidung damals 2003 nach den Hartz-Reformen in der Leiharbeit, völlige Freigabe, dass man das jetzt wieder zurückholen will, einfangen will. Ich glaube, wir könnten uns die ganze Debatte um den möglichen und tatsächlichen Missbrauch der Leiharbeit sparen, wenn wir die Leiharbeit in Richtung Equal Pay bringen würden, das heißt gleiche Bezahlung, weil dann würde sich die Leiharbeit erheblich verteuern und man würde sie nur einsetzen, da wo sie wirklich Sinn macht, wenn ich Produktionsspitzen abfangen muss, wenn ich temporäre Ausfälle habe, und es lohnte sich dann für mich als Unternehmen nicht mehr, diese Leiharbeiter zu missbrauchen, um ein Lohnniveau meiner Stammbelegschaft durch eine zweite Belegschaftsschicht zu unterlaufen. Aber auch wenn das gelänge, darf ich noch mal darauf hinweisen: man muss das Gesamtpaket sehen. Wenn dann ausgewichen wird auf neue Umgehungstatbestände wie Werkverträge, dann verschiebt man sozusagen nur die Kampffront.
Becker: Danke! - Professor Stefan Sell war das, Sozialwissenschaftler am Rhein-Ahr-Campus der Uni Koblenz-Remagen.
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandradio macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.
Mitgehört hat der Koblenzer Sozialwissenschaftler und Tarifexperte Stefan Sell. Guten Tag.
Stefan Sell: Guten Tag!
Becker: 4,3 Prozent mehr Lohn für die Metallbeschäftigten – das ist nach den gut drei Prozent im öffentlichen Dienst nun der zweite Abschluss mit einem deutlichen Lohnplus. Als nächste wichtige Branche steht nun die chemische Industrie an. Ist das die erwartete Trendumkehr in der Lohnpolitik nach dem Motto "wettbewerbsfähig sind wir nun, jetzt darf auch wieder mehr verdient werden", also eine Trendumkehr, die ja mittlerweile auch höchste europapolitische Weihen bekommen hat?
Sell: Es ist zumindest eine Abkehr von der bisherigen Lohnzurückhaltung, die wir in den letzten 15 Jahren mit ein, zwei Ausnahmen gesehen haben, gerade in wirtschaftsstarken Bereichen wie der Metall- und auch der Chemieindustrie. In der Ökonomie gibt es sozusagen einen Spielraum: das ist der verteilungsneutrale Lohnerhöhungsspielraum, ein schreckliches Wort. Das sagt also, bis wohin kann man die Löhne erhöhen, ohne dass es zu größeren Arbeitsmarktschäden kommt oder überhaupt Arbeitsmarktschäden. Das wäre die Zwei-Prozent-Ziel-Inflationsrate der Europäischen Zentralbank und die mittelfristige Produktivitätsentwicklung. Und wenn man dieses Maß zugrunde legt, dann sind die 4,3 Prozent, die ja nicht wirklich real 4,3 Prozent sind, sondern wir haben ja einen Nullmonat im April - das heißt das schrammt gerade so knapp unterhalb der vier Prozent, dieser Lohnabschluss, wenn man den richtig liest -, dann wird dieser verteilungsneutrale Lohnerhöhungsspielraum nicht voll ausgeschöpft. Insofern ist das jetzt kein richtiger Schluck aus der Pulle, wenn ich das so sagen darf.
Becker: Was hätte nach Ihrer Einschätzung noch draufkommen können?
Sell: Zumindest in diesem Bereich wäre sicherlich ein Abschluss, der real zwischen vier und fünf Prozent gelegen hätte, eher in die Richtung fünf, durchaus auch noch vertretbar gewesen – vor dem Hintergrund nicht nur der aktuellen Situation in diesem Bereich Metall- und Elektroindustrie, sondern auch und vor allem, weil die Arbeitnehmer berechtigterweise das Gefühl haben, dass sie ein Stück weit auch jetzt mal ausgeglichen werden müssen für ihre Lohnzurückhaltung, also ein psychologisches Argument, was man nicht unterschätzen darf. Da wäre schon noch was drin gewesen.
Becker: Nun sollte es ja nicht alleine um mehr Geld gehen in dieser Runde; es sollte auch um mehr Sicherheit gehen für die Auszubildenden der Branche und es sollte um mehr Sicherheit gehen für die Leiharbeiter. Es gibt nun Regelungen, wie eben gehört. Was taugen die Regelungen?
Sell: Grundsätzlich gilt natürlich, Tarifverhandlungen sind ja immer Kompromissveranstaltungen. Und ist das Glas jetzt halb voll, oder halb leer? Die Gewerkschaft kann zumindest für sich in Anspruch nehmen, dass Sie – lassen Sie es mich mit einem Bild sagen – jetzt den Fuß stärker in der Tür hat über ihre Betriebsräte. Es wurde ja im Beitrag dargestellt, beispielsweise wenn die Auszubildenden nicht übernommen werden, dann muss das begründet werden gegenüber dem Betriebsrat. Da hat es eine Verschiebung im Machtgefüge gegeben. Aber ich könnte jetzt auch etwas zynisch sagen, gerade die Leiharbeitsvereinbarungen haben doch eher den Charakter einer kosmetischen Vereinbarung, denn man muss einfach sehen: die dürfen jetzt auch nach der Neuregelung 18 Monate dort in den Unternehmen arbeiten. Wir wissen aus den bisherigen Daten, dass über die Hälfte der Leiharbeitsverhältnisse gar nicht länger als drei Monate dauern. Nur 14 Prozent dauern länger als eineinhalb Jahre. Das heißt also, wenn das Unternehmen will, dann tauscht es einfach die Leiharbeiter vorher aus, sodass mich da schon irgendwie der Eindruck beschleicht, man wollte zu einem vorzeigbaren Ergebnis kommen, was aber relativ wenig materiellen Regelungsgehalt haben wird.
Becker: Das was Sie nannten, war aber nun genau das Argument der Arbeitgeber, um zu sagen, die Leiharbeiter-Problematik ist ja gar nicht so drängend. Ist dem so?
Sell: Nein. Das Problem ist, dass die Leiharbeits-Problematik eine neue Qualität bekommen hat. Wir haben ja in einigen Unternehmen der Metallindustrie einen hohen Anteil von Leiharbeitern, denken Sie an BMW beispielsweise, also einen extrem hohen Anteil, der auch nicht gerechtfertigt ist durch Auftragsspitzen, sondern wo ganz klar eine Zwei-Klassen-Belegschaft geschaffen werden sollte oder auch geschaffen wurde. Das Problem ist nur: die Leiharbeit wird jetzt auch durch diesen Abschluss bei aller Kritik stärker reguliert durch die Gewerkschaften. Wir haben ja auch gleichzeitig einen Branchenmindestlohn für die Leiharbeit seit dem 1. Januar und jetzt passiert leider folgendes, was oft in der Wirtschaft passiert: es werden sofort neue Umgehungsstrategien gesucht und es wird eine dritte Arbeitnehmerklasse aufgemacht, zunehmend aufgemacht, das sind die sogenannten Werkvertragsarbeitnehmer, weil für die gilt gar kein Branchenmindestlohn, und da hat auch der Betriebsrat keinerlei Mitbestimmungsrechte. Da sehen wir schon einen Anstieg bei der Inanspruchnahme von Werkverträgen, sodass dann wahrscheinlich in der nächsten Tarifrunde die IG Metall sich um dieses Problem kümmern muss.
Becker: Bräuchte man denn nach Ihrer Einschätzung doch eine gesetzliche Missbrauchsbremse, oder einfach nur einen engeren Regelungsrahmen?
Sell: Ja, ich glaube natürlich. Was die jetzt vereinbart haben, auch bei aller meiner Kritik, dass das eher kosmetisch ist, ist aber doch im Prinzip der Versuch, die Entscheidung damals 2003 nach den Hartz-Reformen in der Leiharbeit, völlige Freigabe, dass man das jetzt wieder zurückholen will, einfangen will. Ich glaube, wir könnten uns die ganze Debatte um den möglichen und tatsächlichen Missbrauch der Leiharbeit sparen, wenn wir die Leiharbeit in Richtung Equal Pay bringen würden, das heißt gleiche Bezahlung, weil dann würde sich die Leiharbeit erheblich verteuern und man würde sie nur einsetzen, da wo sie wirklich Sinn macht, wenn ich Produktionsspitzen abfangen muss, wenn ich temporäre Ausfälle habe, und es lohnte sich dann für mich als Unternehmen nicht mehr, diese Leiharbeiter zu missbrauchen, um ein Lohnniveau meiner Stammbelegschaft durch eine zweite Belegschaftsschicht zu unterlaufen. Aber auch wenn das gelänge, darf ich noch mal darauf hinweisen: man muss das Gesamtpaket sehen. Wenn dann ausgewichen wird auf neue Umgehungstatbestände wie Werkverträge, dann verschiebt man sozusagen nur die Kampffront.
Becker: Danke! - Professor Stefan Sell war das, Sozialwissenschaftler am Rhein-Ahr-Campus der Uni Koblenz-Remagen.
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandradio macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.