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Kein Yin ohne Yang

Zivilisationserkrankungen nehmen zu, darunter Haut- und Krebserkrankungen, chronische Rückenschmerzen und Depressionen. Die Schulmedizin, die wir in der westlichen Welt kennen, stößt hier oft an ihre Grenzen. Immer mehr Menschen suchen nach Alternativen und dazu gehört die Traditionelle Chinesische Medizin.

Von Thekla Jahn |
    "Seit knapp einem Monat komme ich hierher. Das Schröpfen hilft mir. Ich fühle mich besser danach. Ich habe einen Bandscheibenvorfall im Lendenwirbelbereich. Als ich das erste Mal herkam, konnte ich mich kaum bewegen. Es ging mir so schlecht, dass ich vor Schmerzen geweint habe. Es war unerträglich. Ich habe sogar vor dem Doktor geweint. Aber der sagte, er könne mir helfen. Er gab mir wieder Selbstvertrauen. Und sehen Sie mal, wie gut ich jetzt gehen kann."

    Li Guixiang kann sich tatsächlich wieder ganz normal bewegen, sich selber hinsetzen, aufstehen, Treppen steigen. Und das ohne schmerzverzerrtes Gesicht.

    "Schon nach sieben oder acht Behandlungen war alles anders. Es geht ihr jetzt so viel besser. Zuerst wurde nur akupunktiert, dann kam das Schröpfen hinzu und die Schröpfmassage","

    erzählt der Ehemann der 60 jährigen Li Guixiang. Er begleitet sie jedes Mal in die Akupunkturklinik der Akademie für Chinesische Medizinwissenschaft in Peking. Zwei bis dreimal die Woche, je nachdem, ob genügend Termine frei sind. Mit Akupunkturnadeln akute und chronische Schmerzen zu lindern – diese chinesische Behandlungsmethode ist auch in der westlichen Schulmedizin anerkannt, sie wird bei Rückenschmerzen, aber auch bei Kopfschmerzen oder Migräne mittlerweile oft eingesetzt - teilweise komplementär zu anderen Therapien. Das Schröpfen weniger: Schröpfen um das Immunsystem anzuregen, den Stoffwechsel und den Lymphfluss. So soll das Gewebe "entstaut" werden, das Blut kann besser zirkulieren und vor allem: das Qi fließt wieder . Nur dann, so die Chinesische Medizin, kann der Mensch gesunden. Das Qi ist die Energie. Es ist die Lebenskraft im Universum, die sich im Körper der Menschen fortsetzt. Lebt der Mensch im Einklang mit dem Universum und kann das Qi fließen, dann ist der Mensch körperlich und seelisch gesund. Ist der Qi-Fluss aber über längere Zeit gestört, entstehen Krankheiten.

    ""Die Chinesische Medizin ist eine Energiemedizin. Das heißt, sie arbeitet in erster Linie im Feinstofflichen, also:der Geist, das Qi, die Energie, um die Materie des Körpers zu beeinflussen","

    erklärt Professor Heiner Frühauf, vom National College of Natural Medicine in Portland, Oregon. Seit 30 Jahren arbeitet er in China und den USA mit der Chinesische Medizin, - die den Menschen als Ganzes sieht; die in erster Linie auf die Selbstheilungskräfte im Menschen setzt, die mit einer individuellen Behandlung angeregt werden sollen. Operative Eingriffe, sie gehören in das Reich der westlichen Schulmedizin.

    ""Ich war mit meinem Bandscheibenvorfall in mehreren großen Kliniken, die westliche Medizin anbieten. Alle haben mir gesagt: bei Ihnen hilft nur eine Operation. Da waren alle einer Meinung. Sie sagten, ohne Operation wäre es kaum möglich, dass ich mich von dem schweren Bandscheibenvorfall noch einmal erhole","

    erinnert sich Li Guixiang. Aber sie hat sich gegen den Eingriff entschieden. Nicht weil Bandscheibenoperationen umstritten sind, weil sie Nebenwirkungen oder spätere Nachoperationen fürchtet. Auch nicht, weil sie der chinesischen Medizin mehr vertrauen würde. Dann hätte sie ja gleich die Akupunkturklinik aufsuchen können.

    ""Hier ist es billiger, sehr billig, ja."

    "Billiger als die westliche Medizin. Sie müssen sich mal überlegen: eine Operation, die kostet mindestens mehrere 1000 Yuan. Und hier, da zahle ich weniger als 100 Yuan pro Behandlungssitzung."

    In China haben viele Menschen keine Krankenversicherung. Seit die Marktwirtschaft eingeführt wurde, ist die Landbevölkerung weitgehend ohne Versicherung, und in Megacities wie Peking hat auch nur jeder zweite eine "Minimal"-Versicherung. Die Kosten entscheiden deshalb die Frage: westliche oder chinesische Medizin?
    Je nach Krankheit fällt die Antwort mal so, mal so aus.

    "Chinesische Medizin ist nicht unbedingt das Billigste, auch wenn wir das denken. Also Aspirin ist billiger wie chinesische Decoct oder jeden Tag Akupunkturbehandlungen zu haben."

    Chinesische Decoct, von denen Dr.Volker Scheid von der University of Westminster in London hier spricht, das sind Kräutermischungen, die aufgekocht und als Tee getrunken werden. Das hört sich zunächst günstig an. Aber in der chinesischen Medizin bleibt keine Behandlung von Anfang bis Ende gleich. Und so wird während des Gesundungsprozesses die Zusammensetzung der Kräuter immer wieder verändert und den neuen Verhältnissen im Körper angepasst. Das bedeutet: mehrere Besuche beim Arzt. Scheid:

    "Und das Zweite ist in China die Idee: akute Erkrankungen verhindern, dass man arbeiten kann."

    So ist für viele Chinesen klar: Schnell wirkende westliche Medikamente belasten den Geldbeutel letztlich am wenigsten.

    "Die chinesische Regierung hätte es gerne, wenn im ganzen Land Chinesische Medizin und Schulmedizin gleichberechtigt wären. Deswegen gibt es auch zwei Ministerien, für jede dieser Medizinrichtungen eine. Aber derzeit sind die wichtigen Positionen in medizinischen Institutionen mit westlich ausgerichteten Medizinern besetzt und auch in der Allgemeinbevölkerung steht die Schulmedizin in größerem Ansehen. Egal ob Stadt oder Land, jung oder alt. Schließlich sind wir Chinesen in den vergangenen Jahrzehnten in der Schule mit einem modernen Wissenschaftsbegriff aufgewachsen, erleben ihn im Alltag","

    sagt Professor Liu Lihong von der Medizinischen Universität für Traditionelle Chinesische Medizin in Guangxi. Das Reich der Mitte erlebte eine Turbomodernisierung. Doch gerade die westlich geprägten, gebildeten und reicheren Schichten in den Megacities entdecken ihre kulturellen Wurzeln wieder. Professor Liu ist daran nicht unbeteiligt. 2003 hat er ein Buch geschrieben: "Die Renaissance der chinesischen Medizin". Das Buch hat bei jungen Chinesen einen regelrechten Boom ausgelöst.

    ""Die Städter interessieren sich wieder für ein Medizinwissen, das auf 3000 Jahren Erfahrung fusst. In Peking, Chengdu, Chongqing, Shanghai oder Shenzhen sind die Kliniken für Chinesische Medizin immer voll, mehrere 1000 Patienten werden pro Tag behandelt."

    Manche Ärzte der Chinesischen Medizin sind so berühmt im Land, dass eine Behandlung bei Ihnen der reinste Luxus ist. Reiche Patienten fliegen für Konsultationen schon mal quer durchs Land. Dr. Volker Scheid:

    "Es gibt ein Sprichwort in China: Wenn man westliche Medizin möchte, dann schaut man auf die Qualität der Institution, wenn man Chinesische Medizin möchte, dann schaut man auf die Reputation des Arztes."

    Chinesische Medizin ist eine vorbeugende Medizin, eine die sich den Lebenswandel anschaut und darauf bedacht ist, dass kein Ungleichgewicht herrscht. Im modernen, hektischen China fällt es vielen schwer, Yin und Yang in der Balance zu halten. Yin und Yang sind die gegensätzlichen Kräfte, die allem Leben zugrunde liegen. Sie ergänzen sich wie Tag und Nacht, Aktivität und Ruhe, Ein- und Ausatmen, Geben und Nehmen. Mal ist das Yin stärker, mal das Yang. Das Gleichgewicht zwischen ihnen muss ständig neu gefunden werden – dann kann Qi, die Energie, frei fließen. Ein dauerhaftes Ungleichgewicht hingegen führt zu Krankheiten. Die Chinesische Medizin als Modell zur gesunden Lebensführung wird im modernen China wieder populär, wie der TCM-Mediziner Volker Scheid festgestellt hat.

    "Einige der Bestseller in China sind der 'Huang di Nei Jing' – der gelbe Kaiser. Das ist das Grundlagenwerk der Chinesischen Medizin von vor 2000 Jahren. Angewandt auf Bereiche wie Management, Lebensführung, da sind Lehrer der Chinesischen Medizin nicht als Kliniker, sondern als Gesundheitsberater im Fernsehen, et cetera."

    Körperübungen wie Tai Chi oder Chi Gong, Kräutertees, eine energetisch ausgeglichene Ernährung – mit diesen alten Methoden läßt sich eben auch so mancher Zivilisationskrankheit von heute vorbeugen. Sei es nun Erkrankungen des Herz-Kreislaufsystems, der Haut oder Problemen des Bewegungsapparates – wie bei Li Guixiang. Bei Parkinson-Patienten hat eine gerade im "New England Journal of Medicine" veröffentlichte Studie ergeben: Tai Chi hilft besonders gut gegen die Gleichgewichtsstörungen, die Patienten stürzen seltener und bewältigen ihren Alltag länger alleine. Im Laufe von drei Jahrtausenden hat die Chinesische Medizin Wissen angesammelt: Es waren Zeiten, als es noch keine modernen molekularbiologischen Nachweismethoden gab, keine bildgebenden Diagnoseverfahren. Im Laufe dieser "vorwissenschaftlichen" Zeit wurde natürlich auch über die Böswilligkeit von verstorbenen Ahnen spekuliert, die Krankheiten verursachen oder über den Einfluss von Dämonen. Nachdem Mao Zedong am 1. Oktober 1949 die Volksrepublik China ausrief, war er der Chinesischen Medizin gegenüber eher skeptisch und sie landete zunächst auf dem "Misthaufen der Nation".

    "Allerdings war es zahlenmäßig damals so, dass etwa 250 000 chinesische Ärzte etwa 20.000 westlich ausgebildeten Ärzten gegenüberstanden – für ein Volk von damals schätzungsweise 500 Millionen Menschen. Das heißt die chinesische Medizin war nötig, um die Gesundheitsversorgung aufrecht zu erhalten."

    Mao setzte deshalb auf die alt hergebrachte Heilkunst, die gerade in der ländlichen Bevölkerung verbreitet war. Allerdings verpasste er ihr eine Entschlackungskur: Dämonen, Ahnen und was sonst noch irrational schien, wurde aus der Lehre entfernt. So entstand die: "Traditionelle Chinesische Medizin", wie sie seither genannt wird. In Kurzlehrgängen bildete man TCM-Ärzte aus, die als "Barfußärzte" die medizinische Versorgung im ganzen Reich übernahmen. Die Volksgesundheit in China verbesserte sich in den 60er und 70er Jahren des vergangenen Jahrhunderts deutlich. Mao war ganz pragmatisch an einer kostengünstigen Gesundheitsversorgung interessiert. Aber in den USA und Europa kam der Erfolg anders an. Er führte dazu, dass sich immer mehr Menschen für die TCM, die Traditionelle Chinesische Medizin interessierten, als Alternative oder als Ergänzung der Schulmedizin. In China hingegen wünschten sich die meisten eine fortschrittliche Medizin, und als solches sahen und sehen viele die westliche Schulmedizin.Professor Gustav Dobos, Chefarzt der Klinik für Naturheilkunde und Integrative Medizin Essen-Mitte:

    "Die größere potenzielle Veränderung zeichnete sich vor vier Jahren ab, als ein Politikprofessor aus der Hubei Provinz eine Internetumfrage durchgeführt hat in China mit Fragen über die Sinnhaftigkeit und Akzeptanz der chinesischen Medizin in der Bevölkerung; und sich letztendlich herausgestellt hat, dass die Mehrzahl der Bevölkerung eher zurückhaltend bis skeptisch zu sein schien bezüglich der chinesischen Medizin."

    Das Ergebnis der Internetumfrage, bewog den Politikprofessor, bei der chinesischen Regierung einen offiziellen Antrag zu stellen, die Chinesische Medizin zu verbieten. Dobos:

    "…was eine ganz interessante Entwicklung zur Folge hatte, dass sich die Regierung vor die chinesische Medizin gestellt hat und Milliarden in die Erforschung investiert."

    Und so kommen jetzt immer mehr Untersuchungen aus China, die den Erfolg von TCM Behandlungen belegen: Bei Allergien, bei Burnout, bei chronischen Schmerzen, bei Parkinson, bei Problemen in der Menopause. Was dabei rauskommt macht stutzig, meint Gustav Dobos:

    "Auf alle Fälle sind die Ergebnisse von Studien, die in China publiziert werden, in der Regel deutlich besser als eine Vergleichsstudie im Westen zum gleichen Thema. Interessanterweise trifft das nur für die chinesische Medizin zu und chinesische Arbeiten von chinesischen Wissenschaftlern im konventionellen Bereich bei denen trifft das nicht zu."

    Woran das liegt? Der Essener Mediziner und Vorsitzende der Deutschen Gesellschaft für Naturheilkunde, Prof. Gustav Dobos , meint, dass sicherlich der politische Erwartungsdruck eine Rolle bei den durchweg positiven Studien zur TCM in China spiele. Andererseits hielten viele chinesische Mediziner wissenschaftliche Studien nur aus einem Grund für notwendig: um westlichen Wissenschaftlern einen Wirksamkeitsbeleg zu liefern. Und Volker Scheid, Autor und TCM-Arzt in London, erinnert sich:

    "Ein ganz berühmter Arzt, mit dem ich gelernt habe, sagt: Ich mache die Akupunktur seit 60 Jahren. Jeden Tag kommen hunderte von Patienten zu mir. Ich weiß, dass es funktioniert: warum muss ich jetzt diese kleinen Mäuse fragen, ob die Akupunktur wirkt oder nicht?"

    "Die Farbe ist ein eher blass und auf beiden Seiten haben wir Zahnabdrücke. Strecken Sie Ihre Zunge noch etwas weiter raus. Hier: ein Zahnabdruck nach dem nächsten. In der Mitte ist die Zunge ölig und sie ist insgesamt geschwollen. Rollen Sie die Zunge hoch. Ah – die Vene auf der Unterseite …. Die Milz ist schwach und Feuchtigkeit herrscht vor, außerdem gibt es einen Stau im Leber-Chi. Was heißt das? Der Magen und vor allem der Darm, die sind nicht in Ordnung. Die schwache Milz läßt sie schnell ermüden. Das gestaute Leber-Qi zeigt, dass ihre Gefühle nicht sehr stabil sind und sie lassen sich schnell verunsichern."

    Li Guixiang ist wieder in die Akupunkturklinik der Pekinger Akademie der chinesischen Medizinwissenschaften gekommen. Heute schaut sich Professor Wu Zhongchao die Patientin noch einmal genau an. Er beurteilt die Zunge, dann den Puls, begutachtet die Ohrmuschel, hört genau hin, ob Kraft in der Stimme steckt, achtet auf den Geruch der Patientin.

    "Und jetzt nehmen wir uns auch noch genau das Gesicht vor. Die leicht gerötete Farbe ist in Ordnung, es ist heiß hier im Raum. Die Haut ist ein bisschen rau und großporig. Es gibt einige rote Flecken und insgesamt ist die Gesichtshaut nicht so frisch, wie sie sein müsste. Das deutet auch wieder auf eine schwache Milz und Feuchtigkeit hin."

    Feuchtigkeit muss ausgeglichen werden, damit das Gleichgewicht von Yin und Yang wiederhergestellt ist. Auch das gestaute Leber-Qi und die schwache Milz sollen so nicht bleiben. In der Chinesischen Medizin sind die fünf Elemente wichtig: Feuer, Wasser, Metall, Holz und Erde. Sie beschreiben die unterschiedlichen Zustände in der Natur. Diese stehen in einem bestimmten Wechselspiel zueinander. Die Organe des menschlichen Körpers und ihre Funktionen lassen sich diesen fünf Elementen zuordnen. Bei einem gesunden Menschen sind die Kräfteverhältnisse zwischen den Organen ausgewogen. Der Chinesische Arzt Wu Zhongchao sucht nach Hinweisen auf gestörte Kräfteverhältnisse. Anders als die Schulmedizin mit ihren bildgebenden Diagnoseverfahren und Laboruntersuchungen spürt die alte chinesische Heilkunde Krankheitssyndrome über einen verräterischen Puls oder verändertes Aussehen des Gesichtes, der Zunge oder der Ohrmuschel auf. Wu Zhongchao berät seine Patientin, bespricht ihre Ernährung, sucht nach einer Kräutermischung, die genau auf ihre Bedürfnisse zugeschnitten ist. Schließlich liegen die Ursachen für ihren Bandscheibenvorfall tiefer. Die westliche Schulmedizin würde versuchen den Bandscheibenvorfall zu beheben, mehr nicht.

    "Wir behandeln Menschen mit Erkrankungen, nicht Erkrankungen per se. Das ist der Riesenunterschied. Akupunktur oder Kräuter ist auf die Wurzel der Erkrankung ausgerichtet, die spezifische Manifestation hat in der Person. Wir behandeln die Einzigartigkeit","

    sagt Barbara Kirschbaum zum grundsätzlichen Unterschied im Denken der westlichen und der chinesischen Medizin. Die TCM-Ärztin aus Hamburg hält dieses alte chinesische Heilkonzept deshalb gerade auch bei modernen Zivilisationserkrankungen für wirksam – wie Colitis ulcerosa – einer chronischen Darmentzündung.

    ""Wenn wir jetzt einen Patienten mit Colitis ulcerosa haben, der eine, da werden die Schübe durch Stress ausgelöst, beim anderen durch Alkohol und Fleisch – die würden wir absolut unterschiedlich behandeln, obwohl die Schulmediziner würden die gleiche Medikation verordnen."

    Außerdem wird auch noch bei jedem einzelnen Patienten im Krankheitsverlauf jeweils neu entschieden, ob Akupunktur und/oder Heilkräuter und welche jeweils gerade weiter-helfen.

    "Wenn jemand einen akuten Colitis-Schub hat, also mit viel Durchfall, viel Blut, aber darunter sehr schwach ist, würdest Du zuerst das Symptom, den blutigen Durchfall behandeln. Wäre der weg, dann würdest Du die darunter liegende Schwäche behandeln."

    In der chinesischen Medizin gibt es zahllose Heilkräutern, die über die Jahrtausende in der Praxis erprobt wurden – in den verschiedensten Kombinationen. Kirschbaum:

    "Es geht nicht um Ingredienzien, sondern um die Vermischung der Extrakte der Kräuter durch das Kochen. Die lösen die Wirkung aus in den Patienten. Genauso wie eine Gemüsesuppe … .. das Problem ist immer: das Vielstoffgemisch…was gibt Vitalität?"

    Das genau ist die Frage. Sowohl für den behandelnden TCM Arzt, der für seine Patienten jeweils die geeigneten Kräutergemische finden muss; als auch für die Wissenschaftler, die TCM- Therapien überprüfen wollen. In Europa dürfen fertige Kräutergemische seit April 2011 nur noch verkauft werden, wenn ihre Wirksamkeit wie bei chemischen Arzneien nachgewiesen ist. Untersucht man aber nach westlichen Wissenschaftsstandards die einzelnen pharmakologischen Stoffe dann wird die tatsächliche Wirksamkeit von Chinesischer Medizin nur zu einem kleinen Teil erfasst. Das Ganze ist eben mehr als die Summe seiner Teile.

    "Das ist das größte Problem in der wissenschaftlichen Erforschung der Chinesischen Medizin, dass man ein Wissenschaftssystem benutzt, um ein anderes zu beleuchten und zu erforschen. Im Englischen würde man sagen: comparing apples with oranges."

    Professor Heiner Frühauf vom National College für Natural Medicine in Portland deutet damit an: Bei naturwissenschaftlichen Studien zu einer Therapie muss sich in ausführlichen klinischen Tests mit einer möglichst hohen Zahl an Teilnehmern mit möglichst ähnlichem Krankheitsbild und einer entsprechenden Kontrollgruppe herausstellen, dass eine Behandlung wirksam und verträglich ist. Wie aber läßt sich allein schon die hohe Fallzahl realisieren bei der Chinesische Medizin, die ja gerade die Individualität des Patienten im Blick hat? Selbst bei den Studien zur Schulmedizin zeichnet sich in jüngster Zeit ein Paradigmenwechsel ab: Sogenannte "Real world Studies" sind gefragt – sie orientieren sich an den Patienten in einer normalen Arztpraxis – und die sind ja höchst unterschiedlich. Professor Jiang Jianyun von der Universität Chengdu

    "Chinesische Medizin ist ein holistisches Konzept: ein ganzheitliches Konzept, wie ein Patient individuell behandelt werden kann. Dabei muss sein Zentrum geheilt werden, die Yin und Yang Balance muss im Menschen wiederhergestellt werden und da trennen wir nicht zwischen Körper und Geist, sondern sehen ihn als Ganzes."

    Im holistischen Konzept der Chinesischen Medizin herrschen im Universum fünf positive Schwingungen. Sie setzen sich in den 5 Elementen Holz, Feuer, Erde, Metall und Wasser fort, denen auf der Ebene der Emotionen 5 Handlungen entsprechen.

    "Für das Element Holz wäre das die Güte und Nächstenliebe, das Feuerelement wäre die heilige Einsicht, dass wir mit der Natur eins sind und das immer mitberücksichtigen sollen. Und für die Erde ist das Integrität und für das Metall ist das die Selbstlosigkeit und Gerechtigkeit und Brüderlichkeit und Schwesterlichkeit die daraus stammt und für das Wasser ist es die Weisheit. Wenn wir in Resonanz mit dem Universum stehen, dann leben wir diese Qualitäten in Alltag.","

    erläutert Professor Heiner Frühauf von der Klinik für Naturmedizin in Portland. Wer dies auf Dauer nicht tut, der erkrankt. Zum Gesamtkonzept der Chinesischen Medizin gehört es, dass auch die Emotionen behandelt werden. Dass der Patient durch Einsicht eine Balance findet zwischen sich und anderen, seinem Leben und dem Leben der Natur. Der Körper, das Irdische, macht in der Chinesischen Medizin den kleinsten und am wenigsten bedeutsamen Teil des Menschen aus. Herz, Geist, Emotionen sind weit anspruchsvoller. Sie stehen in der Mitte und gleichen aus zwischen dem Körper und der Inneren Natur des Menschen, der Seele. Dieser Sicht entsprechend werden die Ärzte in China gesehen: Wer sich mit dem Körper befasst, steht auf unterster Ebene, wer mit Geist und Emotionen zu arbeiten versteht, ist weit angesehener. Ganz oben aber stehen diejenigen, die sich mit der Seele des Menschen auskennen, mit der Einheit von Mensch und Natur.

    In der globalisierten Welt wachsen die Anforderungen an den einzelnen Menschen, in den Megacities auch in Asien nehmen Burnout und Depressionen zu. Die TCM kann gerade in diesem Bereich einen wichtigen Beitrag zu psychischen Volksgesundheit leisten – so sieht es die chinesische Regierung, die in den Medien TCM Ärzte als Lebensratgeber auftreten läßt. Aber auch die chinesischen Firmenbosse haben die Möglichkeiten der alten Heilkunde für sich entdeckt. Dr. Volker Scheid, Direktor von Eastmedicine, einem interdisziplinären Zentrum zur Erforschung von ostasiatischen medizinischen Traditionen in London:

    ""Chinesische Medizin, je nachdem wie man das auslegen würde, ist ein Denken mit dem man komplexe Systeme beschreiben kann und in komplexen Systemen effektiv eingreifen kann und das kann man natürlich auch im Management übernehmen: das gibt es heutzutage auch: Chinesische Medizin als Managementstrategie."

    Und in einem so großen Land wie dem Chinesischen, in dem die meisten Megastädte der Welt liegen mit jeweils zig Millionen Einwohnern, ist die Chinesische Medizin auch als logistische Hilfestellung denkbar. China ist gerade für Europäer ein riesiges Land. Ein Land mit verschiedenen Zeit- und Klimazonen. Ein Land, in dem verschiedene Epochen nebeneinander bestehen. Archaisches neben hochmodernem, globalisiertem Denken und Leben existieren. Durch den westlichen Lebensstil vor allem in den Megazentren nehmen stressbedingte und lebensartassoziierte Erkrankungen zu. Dazu gehört auch Brustkrebs. Professor Gustav Dobos , Chefarzt der Klinik für Naturheilkunde und Integrative Medizin der Kliniken Essen-Mitte:

    "Es gibt ja recht gute epidemiologische Untersuchungen. Wenn zum Beispiel Asiaten, die ein sehr geringes Risiko haben an Brustkrebs zu erkranken, wenn die in westliche Gebiete ziehen, in die USA oder nach Australien, dass die nach einer Generation das gleiche Risiko haben , das gleiche Brustkrebsrisiko, das gleiche Risiko an Prostatakrebs zu erkranken, das um den Faktor 50 etwa höher ist. Und das liegt dann mit großer Wahrscheinlichkeit an der Veränderung des Lebensstils."

    Welche Bedeutung wird der TCM in China bei der Behandlung manifester Erkrankungen wie Brustkrebs zukommen? Barbara Kirschbaum - in China ausgebildet und nun in Hamburg und vor allem mit Brustkrebspatientinnen tätig - ist da ganz realistisch.

    "Nach über 30 Jahren Praxis weiß ich auch um die Limitation von chinesischer Medizin. Dass man versucht hat, vielen Menschen zu helfen, und es hat nicht geholfen. Das wollen wir auch mal ganz ehrlich sagen, und wo man auch immer beeindruckt ist von dem, was die Schulmedizin leistet: Sie rettet Leben. Die chinesische Medizin ist effektiv in der Behandlung von chronischen Erkrankungen, sie ist nur bedingt effektiv für akute Zustände."

    Operation und Chemotherapie zum Beispiel bei Brustkrebs – in vielen Fällen sieht Barbara Kirschbaum keine Alternative. Aber: mit zusätzlicher TCM-Behandlung lassen sich die Schmerzen und die Nebenwirkungen besser ertragen.

    "Ich setze ganz gezielt die Akupunktur sowohl nach der OP – nach der Entfernung eines Knoten - ein als auch die Akupunktur am Tage der Chemo und danach gegen Übelkeit, Schmerzen, auch Ängste, depressive Verstimmungen und auch chinesische Heilkräuter, wenn es sehr schwere Nebenwirkungen gibt nach der Chemo."

    Wobei manche Kräuter auch kontraproduktiv sein können: Johanniskraut oder grüner Tee beispielsweise hebeln die Wirkung von Chemotherapeutika aus. Ein gut geschulter TCM-Arzt ist gefragt, der die chinesischen Heilkräuter nicht kritiklos einsetzt. Denn: manche können auch gefährlich sein. So hat eine gerade in der Fachzeitschrift "PNAS" veröffentlichte Studie bestätigt, dass Präparate, die Osterluzeigewächse enthalten, Krebs verursachen können. Das liegt an der darin enthaltenen Aristolochiasäure- In Deutschland sind diese Heilmittel schon seit dreißig Jahren verboten, in Asien jedoch nach wie vor beliebt. Andere Studien wiederum belegen einzigartige Effekte der chinesischen Kräuterkunde. So berichtete "Nature Chemical Biology" unlängst, wie die Substanz Halofuginone bei Autoimmunerkrankungen und Entzündungen wirkt. Während die Frage noch vor einigen Jahren lautete: Ist die Schulmedizin besser als die Chinesische Medizin oder andersherum? Ist das Interesse jetzt ein anderes. Volker Scheid:

    "Wenn man Akupunktur gleichzeitig mit einem Pharmakon gibt, kann man dann eine geringere Dosis des Pharmakons benutzen, ist die Effektivität besser, also mehr oder weniger die Chinesische Medizin als Supplement für Schulmedizin."

    Die Dosis zu reduzieren – so Volker Scheid - wird in Zukunft immer wichtiger werden. Denn: Der demographische Wandel führt auch in China dazu, dass chronische Erkrankungen zunehmen und damit die Nebenwirkungen von jahrelang eingenommenen Medikamenten. Sowohl die Schulmedizin als auch die chinesische Medizin haben Grenzen. –Sie können sich aber ergänzen.

    "Als Daumenregel kann man wohl sagen: Für akute Erkrankungen ist die westliche Medizin das Beste. Für chronische Erkrankungen die chinesische Medizin. Es gibt sehr viele Ausnahmen – aber grob gesagt trifft das zu."

    Und in dem Sinne, in dem es der TCM Forscher Mazin Alkhafaji aus Großbritannien beschreibt, wird weltweit geforscht. Die gebildeteren Chinesen holen sich die entsprechenden Informationen über das Internet. So wie in den Industrieländern die Menschen mit zunehmendem Wohlstand und zunehmender Bildung begonnen haben mehr Lebensqualität einzufordern und die Kontrolle über ihre Gesundheit nicht einfach blind in die Hände eines Mediziners zu geben, so werden auch die Chinesen zumindest in den Städten zu kritischen Patienten. Sie wollen ihre Gesundheit selbst in die Hand nehmen und da ist die Chinesische Medizin der Schulmedizin voraus. Denn: Sie setzt nicht auf Pillen und Gerätemedizin, sondern bindet den individuellen Patienten mit ein. Und, so Alkhafaji :

    "Es gibt nicht eine Theorie, sondern viele unterschiedliche Konzepte, die ineinandergreifen und sich nicht ausschließen müssen. Das ist der wichtigste Teil dessen, was chinesische Medizin ist: fuzzy around the edges! Nicht klar abgezirkelt, sondern offen. Das erlaubt auch die Flexibilität."

    Und darin sehen viele moderne Chinesen das Potential. Aber auch die chinesische Regierung hat dies erkannt. Dr. Volker Scheid von der Westminster Universität in London erinnert an die Sars-Krise im Jahr 2003, die er in China miterlebt hat. Eine drohende Epidemie, für die die Schulmedizin keine Antwort hatte.

    "Der Staat hat direkt die Chinesische Medizin benutzt als ein mögliches Werkzeug, um mit dieser Krise fertig zu werden. In Kanton, Shanghai, Bejing wurde die Chinesische Medizin sowohl in der Versorgung von kranken Leuten direkt mit einbezogen, als auch versucht zu sehen, was kann man da effektiv machen. Und das ist in der Berichterstattung über Sars im Westen total unterschlagen worden."

    Für die gesundheitliche Versorgung in China und gerade in den Megastädten des Landes wird die traditionelle chinesische Medizin eine wichtige Bedeutung haben, die Schulmedizin aber ebenso. Bei beiden gibt es ein Für und Wider. Ganz dem chinesischen Denken des Yin und Yang entsprechend, ergänzen sie sich mal so, mal so. Professor Gustav Dobos, Chefarzt der Klinik für Naturheilkunde und Integrative Medizin Essen-Mitte, blickt allerdings nicht ohne Skepsis auf die Perspektiven der beiden Medizinrichtungen in Chinas Metropolregionen:

    "Das chinesische System ist sehr stark kommerzorientiert, muss man sagen. Es wird sich letztendlich auch daran entscheiden, welche Form der Medizin für das Krankenhaus die größere Gewinnspanne mit sich bringt."