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Keine Chancengleichheit
Heimkinder werden häufiger vom Unterricht ausgeschlossen

Die Schulsysteme seien oft nicht vorbereitet auf die Herausforderung im Umgang mit Heimkindern, sagte die Sozialarbeiterin Severine Thomas im Dlf. Lehrkräfte würden mit der Situation oft allein gelassen, es bedürfe einer engeren Kooperation zwischen den Bereichen Schule und der Kinder- und Jugendhilfe.

Severine Thomas im Gespräch mit Benedikt Schulz |
Ein Schüler sitzt allein im Klassenraum und hält sich die Hände vors Gesicht
Heimkinder werden überdurchschnittlich oft vom Schulunterricht ausgeschlossen (Symbolbild) (imago images / photothek)
Schulz: Wie steht es um den Bildungserfolg von Care Leavern? Denn das deren Bedingungen schwierig sind, kann man ja zumindest vermuten. Die Diakonie in Nordrhein-Westfalen hatte jetzt eine aktuelle Untersuchung herausgegeben, die das zumindest untermauert. Demnach werden zwölf Prozent der Kinder und Jugendlichen, die in Einrichtungen der Diakonie untergebracht sind, regelmäßig vom Unterricht ausgeschlossen, bekommen weniger als 15 Schulstunden pro Woche. Und warum? Weil offenbar Lehrkräfte mit den Jugendlichen überfordert sein. Darüber und über die Bildungschancen dieser Jugendlichen insgesamt will ich sprechen mit Severine Thomas, die sich an der Uni Hildesheim zusammen mit einem ganzen Team seit vielen Jahren mit diesem Thema beschäftigt. Frau Thomas, fangen wir jetzt konkret noch mal mit den Zahlen der Diakonie NRW an. Wie kann es sein, dass Kinder, die in Einrichtungen untergebracht sind, das die in einer solchen Regelmäßigkeit vom Schulunterricht ausgeschlossen werden? Wie kann das passieren?
Severine Thomas: Es ist ja so, dass diese Kinder ja auch eine Geschichte mit bringen und nicht grundlos in den stationären Hilfen sind, insofern auch eine besondere Unterstützung brauchen und die Schulsysteme oft auf diese Herausforderung eben nicht vorbereitet sind. Und insofern die Schule da eben sehr schnell mit Ausschluss-Mechanismen reagiert. Und es das da, denke ich, eine engere Kooperation auch zwischen den Bereichen Schule und Kinder und Jugendhilfe, insbesondere stationäre Hilfen auch braucht.
Benedikt Schulz: Ja, das finde ich ein wichtiges Thema - Zusammenarbeit, Kooperation zwischen eben den verschiedenen Institutionen, zwischen der Bildungseinrichtung, zwischen der Wohneinrichtung und vielleicht auch den Jugendämtern. Liegen da die Probleme?
Thomas: Lässt sich natürlich nicht immer so ganz einfach beantworten. Es ist natürlich überall auch mit Personalknappheit zu kämpfen. Fachkräftemangel ist da eben ein großes Thema, mit dem insbesondere auch stationäre Einrichtungen zu tun haben, aber auch Jugendämter. Damit geht es eben schon los. Aber auch mit der Tatsache, dass es sich um unterschiedliche Systeme handelt. Kinder- und Jugendhilfe ist eben ein eigenständiger Bereich. Im Vergleich zu dem der Schule muss man eben solche Kooperationen aufbauen und ausbauen. Und da würde ich sagen, sind wir, was diesen Personenkreis betrifft, noch vielfach in den Anfängen, dort zu Beginn der Hilfe im Grunde schon auf eine enge Kooperation mit den Schulen auch zu setzen.
Kinder- und Jugendhilfe-System noch nicht gut eingestellt
Schulz: Also würden Sie denn sagen, das ist zu wenig Kooperation zwischen Schulen und Kinder- und Jugendhilfe gibt?
Thomas: Ich kann das aus meiner Erfahrung sagen. Ich mache viele Projekte in dem Feld, bin auch in kommunalen Projekten unterwegs, und es wird immer wieder beklagt, das zum Beispiel Schulsozialarbeiter sich zu wenig durch diese Themen angesprochen fühlen. Da muss man jetzt erst mal keinen Schuldigen suchen, sondern ich glaube, man muss einfach stärker daran arbeiten, diese unterschiedlichen Fachkreise auch miteinander zu vernetzen, an einen Tisch zu bringen. Für die Schulsozialarbeiter sind eben Jugendliche aus stationäre Hilfen natürlich nur ein Personenkreis neben vielen anderen, mit denen sie es zu tun haben, eben inklusive Schule. Wenn man das jetzt mal als große Schlagwort nimmt, erfordert natürlich auch den Blick auf andere junge Menschen in der Schule. Und da muss man, glaube ich, sehr auch dafür werben, diesen Personenkreis auch nochmal besonders in den Blick zu nehmen, wo eben keine Eltern im Hintergrund sind, sondern wo eben öffentlicher Einrichtungen begleitend tätig sind. Da auch zu zeigen, auch diese jungen Menschen brauchen eine besondere Förderung in der Schule.
Schulz: Ich habe gerade zu Beginn gesagt, dass man sich ja denken kann, das die schwierigere Bedingungen haben. Das klingt plausibel auf den ersten Blick. Versuchen wir es mal sozusagen aus Ihrer wissenschaftlichen Arbeit heraus konkret zu machen. Mit welchen Startschwierigkeiten haben Care Leaver denn zu kämpfen?
Thomas: Na ja, wenn man ein bisschen früher ansetzen, weiß man ja, dass in Deutschland die Bildungserfolge ganz stark von den familiären Ausgangsbedingungen abhängen, und das ist eben bei jungen Menschen, die in stationären Hilfen aufwachsen, eben in der Regel schon nicht gegeben. Viele von ihnen wachsen in Alleinerziehenden-Haushalten auf und wachsen mit sogenannten Transferleistungen auf, also eben SGB II-Leistungen oder anderen Förder-Instrumenten. Und da sieht man eben auch, dass schon die materielle und soziale Ausstattung häufig nicht die beste ist. Und das beeinflusst eben auch ihre Bildungsperspektiven. Die Schule setzt stark voraus, dass sich Eltern eben in den Bildungserfolgen ihrer Kinder finanziell und auch sozial engagieren. Und da sind diese Kinder eben oft schon nicht mit den besten Bedingungen am Start. Und das müsste im Grunde eigentlich die Schule, Ganztagsschulen, aber auch die Kinder- und Jugendhilfe viel stärker auffangen, im Grunde die Bildungserfolge auch von jungen Menschen möglich zu machen. Und darunter sind viele Kinder und Jugendliche, die sehr viele Talente haben und die auch ein starkes Interesse an ihren eigenen Bildungsperspektiven haben. Aber das Kinder- und Jugendhilfe-System hat eben bisher noch nicht die passenden Antworten, diesem auch Raum zu geben. Aber wir arbeiten eben auch mit dem Care Leaver e.V., dem Verein, der sich eben für die Interessen dieser jungen Menschen einsetzt, zusammen und dort sind viele junge Menschen aktiv, die ein Hochschulstudium anstreben oder schon abgeschlossen haben, die eben sagen, ich fühlte mich in meinen Bildungsinteressen in der Wohngruppe, in der ich war, nicht besonders gut unterstützt. Nachhilfe wird nicht gefördert oder nur dann, wenn die Versetzung gefährdet ist. Nur dann finanziert das Jugendamt eine Nachhilfe. Ich musste sehr darum kämpfen, dass sich ein Ort in der Wohngruppe hatte, wo ich in Ruhe Hausaufgaben machen konnte oder wo mich mal jemand unterstützt hat bei den Hausaufgaben. Da geht es oft um viele andere Alltagsthemen, die dort bestritten werden müssen. Und man bräuchte im Grunde meiner Einschätzung nach nochmal vielmehr auch personelle Ressourcen, um gerade dieses Thema Bildung auch noch mal stärker auf die Agenda zu setzen.
Man muss viel differenzierter auf den Einzelnen schauen
Schulz: Klingt aber auch ein bisschen so, als ob sozusagen die Bildung oder der Bildungserfolg dieser jungen Menschen tatsächlich einfach nicht im Vordergrund steht und auf gar nicht so interessiert.
Thomas: Nein, es gibt da halt unterschiedliche Herangehensweisen und vielleicht auch Notwendigkeiten. Bei manchen Kindern ist es sicherlich so, dass es erstmal auch erforderlich ist, ein Kind zu stabilisieren, vielleicht auch Therapien möglich zu machen, weil die Erfahrungen im Vorfeld einfach so gravierend waren, das jetzt erst mal der Schulerfolg nicht vordringlich ist. Es gibt aber auch junge Menschen, das wissen wir aus eigenen Untersuchungen, bei denen sich abzeichnet, dass Bildung im Grunde auch ein Vehikel sein kann. Das sind Kinder und Jugendliche, die in der Schule eigentlich gut sind und auch sagen, meine schulischen Leistungen und mein Freundeskreis in der Schule hat mir sehr geholfen, mit meinem biografischen Erfahrungen und auch Schwierigkeiten umzugehen und hat mir auch ein Stück Normalität gegeben. Und da sehr differenziert zu gucken, wie viel Bildung ist möglich, und wie viel Bildungsförderung müssen wir leisten? Und bei den Kindern, die vielleicht erst mal was anderes brauchen, wo man vielleicht an die Bildung im zweiten Schritt denkt, die sollen das ja auch bekommen. Aber ich glaube, man muss sehr viel differenzierter auch nicht nur die schulischen Bildungserfolge, sondern auch auf die informellen Bildungsgelegenheiten gucken. Und das ist natürlich eine hohe Herausforderung, und ich denke, da darf man auch nicht nur den Fachkräften in den Hilfsangeboten diese Aufgabe zuschreiben, sondern im Grunde müssen alle an einen Tisch. Auch der Bereich der Ganztagsschulen, aber auch der Förderung der Bildungsmöglichkeiten in den Einrichtungen müsste eben viel stärker in den Blick genommen werden., denn dafür braucht es letztendlich Ressourcen. Und das ist etwas, was viele Fachkräfte eben auch beklagen, dass man zuwenig Zeit für die Kinder und Jugendlichen hat.
Hochschulzugang scheitert oft wegen mangelnder Hilfe
Schulz: Lassen Sie uns doch kurz über das Thema Hochschulzugang und Studium sprechen. Vor welchen Schwierigkeiten stehen Care Leaver denn da? Also einerseits eben beim Hochschulzugang, aber eben dann auch beim anschließenden Studium selbst?
Thomas: Genau, es ist ein schwieriges Thema, denn junge Menschen, die in Wohngruppen und Pflegefamilien aufwachsen, müssen sich eben häufig schon sehr viel früher damit auseinandersetzen, ein eigenverantwortliches Leben zu führen, also dort, wo andere Kinder und Jugendliche da noch gar nicht drüber nachdenken, junge Menschen noch bei ihren Eltern wohnen oder, selbst wenn sie schon im Studium sind, noch bei den Eltern unterschlüpfen können. Diesen Vorteil genießen Care Leaver eben häufig nicht. Da kommt das Thema Eigenständigkeit mit 17, spätestens mit 18 eben auch in der Hilfeplanung auf die Tagesordnung. Und das erschwert vielen jungen Menschen auch den Zugang an die Hochschulen, weil sie einfach sehr früh sich um viele Angelegenheiten selbst kümmern müssen. Und allen voran ist das die eigene Finanzierung oder überhaupt eine eigene Wohnung zu finden.
Und sie sind mit so viel anderen Themen beschäftigt, dass der Zugang an die Hochschule dadurch so ein bisschen verbaut wird. Das ist das eine, und das andere ist eben, dass Hochschulen oft gar nicht darauf vorbereitet sind, dass junge Menschen zu ihnen kommen, sozusagen eine Hochschulzulassung wollen, die mit nicht ganz leichten Startbedingungen kommen. Und da gibt es andere Länder, die uns zeigen, dass es dort bessere Strukturen geben könnte. Wenn man zum Beispiel eben mit der Immatrikulation sich als Care Leaver outen kann, wenn man das möchte, und dadurch einen gewissen Nachteilsausgleich bekommt, indem man zum Beispiel leichter einen Zugang zu einem Studentenwohnheim-Platz bekommt oder man vielleicht auch einen Tutor an die Seite gestellt bekommen kann, um bestimmte Themen, die mit dem Hochschulzugang auch verbunden sind, mit Unterstützung zu bearbeiten. Und allen voran eben auch die finanzielle Ausstattung, die für viele Care Leaver oft schwierig ist. Also die Gewährung von BAföG ist für manche hoch problematisch, weil sie Einkommensnachweise der Eltern brauchen, die sie häufig nicht vorweisen können. Und entweder führt das dazu, dass sie gar kein BAföG bekommen oder dass es eben mit dem Bafög gar nicht reicht und sie noch andere Leistungen brauchen und manche das zum Anlass nehmen, das Studium wieder abzubrechen, weil sie eben die Anforderungen des Studiums und die eigene finanzielle Existenzsicherung eben gar nicht gewährleisten können.
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.