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Keine deutsche Opferarithmetik

Christoph Bergner (CDU), Staatssekretär im Bundesinnenministerium, sieht keinen Anlass, die amtlichen Zahlen der Deutschen, die nach Kriegsende durch Flucht und Vertreibung ums Leben kamen, zu korrigieren. Die vom Historiker Ingo Haar ausgelöste Kontroverse, ob diese Zahl seit Jahrzehnten viel zu hoch angesetzt gewesen sei, beruhe möglicherweise auf einem Missverständnis, so Bergner.

    Stefan Koldehoff: Ein Artikel vor vierzehn Tagen in der "Süddeutschen Zeitung" hat für eine Debatte gesorgt. Für eine Debatte darüber - wir haben berichtet -, wie hoch denn die Zahl der deutschen Opfer sei, die nach Kriegsende durch Flucht und Vertreibung ums Leben kamen. Mit mehr als zwei Millionen, so behauptete der Historiker Ingo Haar, sei diese Zahl seit Jahrzehnten viel zu hoch angesetzt, aus politischen Gründen. Tatsächlich seien 500.000, vielleicht 600.000 Menschen an den Folgen gestorben. Das sei, entgegnet der Bund der Vertriebenen, BdV, deren Vorsitzende Erika Steinbach auch für die Opfer ein Zentrum gegen Vertreibungen in Berlin fordert, so wörtlich, "Zahlenklitterung" - ein neues Wort. 1982 schon habe das Bundesministerium des Inneren, so Erika Steinbach, festgehalten, dass die Zahlen der deutschen Vertreibungsopfer zwischen zwei und zweieinhalb Millionen liege. Das Bundesinnenministerium, das ist unter anderem Staatssekretär Christoph Bergner. An ihn die Frage: Welche Zahl stimmt denn jetzt?

    Christoph Bergner: Also ich kann die Angabe des BdV nur bestätigen: Die amtlichen Zahlen der bei Flucht und Vertreibung Umgekommenen liegen bei zwei bis zweieinhalb Millionen. Dies sind die mit hinlänglichen statistischen Möglichkeiten zeitnah ermittelten Opferzahlen. Es hat bisher nie irgendeinen Anlass gegeben, diese Zahlen zu korrigieren. Ich vermute, es ist möglicherweise ein Missverständnis Anlass dieser Kontroverse, das darauf zurückzuführen ist, dass sich Herr Haar auf die unmittelbaren Vertreibungsverbrechen bezieht. Das heißt, die Erhebungen, die gemacht wurden, um einen Wert zu bekommen für diejenigen, die ermordet, totgeschlagen, bei Vergewaltigung ums Leben gekommen sind und anderes - also unmittelbare physische Einwirkung -, diese Zahl wird auf etwa 400.000 geschätzt. Aber ich finde, es wäre problematisch, die Opfer von Flucht und Vertreibung auf diese Größe zu reduzieren ...

    Koldehoff: Was fehlt da? Wen müsste man noch mit einbeziehen?

    Bergner: Man müsste diejenigen, die also während der Flucht erfroren, verhungert, Opfer von Seuchen und Krankheiten geworden sind, auch Opfer von Kriegseinwirkungen während der Flucht - Tiefflieger und anderes. Wer die Tragödie vollständig schildern will, muss aus meiner Sicht schon die gesamte Opferzahl im Blick haben. Und ich verstehe ja das Anliegen des BdV nicht so, dass man es im Sinne einer Anklage macht, sondern das Anliegen besteht doch darin zu sagen: So etwas darf sich nicht wiederholen.

    Koldehoff: Jetzt haben Sie auch gesprochen von einer damals zeitnahen statistischen Erhebung. Genau das wirft Haar ja den Zahlen auch vor, dass eben statistisch erhoben worden sei, dass man ermittelt hat, wie viele Menschen haben mal in den Gebieten gelebt im Osten, wie viele sind anschließend im Westen angekommen, und die Differenz dann zu Opfern, zu Toten erklärt hat. Er sagt, es habe auch andere Zählverfahren gegeben, das der so genannten verbürgten Opfer. Das sei aber damals politisch nicht gewollt gewesen. Gibt es bei Ihnen im Hause Erkenntnisse dafür, dass die Zahl, die schnell nach '45, in den 50er Jahren erhoben wurde, vielleicht auch politische Hintergründe gehabt hat?

    Bergner: Nein. Es ist eine amtliche Zahl, die das Ergebnis der Arbeit einer unabhängigen wissenschaftlichen Kommission unter Leitung des Kölner Professor Schieder gewesen ist. Ich finde es wirklich sehr, sehr problematisch, hier einen Zahlenstreit zu führen. Unabhängig davon, ob ich jetzt von 400.000 oder von zwei Millionen spreche: Wir wissen dass dies Teil einer riesigen Tragödie war, die vom Nationalsozialismus ausgelöst, durch die deutschen Eroberungs- und Aggressionskriege und durch den deutschen Rassenwahn ausgelöst war. Und als Teil dieser Aufarbeitung betrachten wir nun das Flucht- und Vertreibungsgeschehen. So etwas darf sich nicht wiederholen. Wir wollen Vertreibungen ächten. Es gibt amtliche Zahlen. Die Zahlen sind in den nachfolgenden Jahren nie als amtliche Zahlen in Frage gestellt worden. Und wir sollten auch in Respekt vor den Opfern jetzt nicht anfangen, über Zahlen zu feilschen.

    Koldehoff: Was glauben Sie denn, Herr Bergner, warum diese Debatte zum jetzigen Zeitpunkt stattfindet? Warum die Zahlen jetzt in Frage gestellt werden?

    Bergner: Also ich habe den Aufsatz von Herrn Haar so verstanden, dass er sich natürlich sorgt um die Rezeption des Anliegens des BdV und des Anliegens der Ausstellung von Frau Steinbach auf polnischer Seite. Dafür habe ich ja auch Verständnis. Denn wir wollen ja die Aussöhnung mit Polen weiterentwickeln, wir wollen, dass diese Aussöhnung ehrlich ist. Aber wir wollen nicht unnötige Irritationen streuen.

    Koldehoff: Das heißt, es gibt aus Sicht des BMI auch keine Veranlassung, die Zahlen zu überprüfen, möglicherweise neue Forschungen zu den Opferzahlen anzustellen?

    Bergner: Also ich habe die damit befassten Referate konsultiert und die Antwort, die ich erhalten habe, gibt jedenfalls für mich keinen Anlass, jetzt, im viel größeren zeitlichen Abstand, hier noch einmal Ermittlungen und zusätzliche Erhebungen zu beginnen. Aber ich bin sehr dafür, dass wir den Prozess der Aussöhnung mit Polen fortsetzen und ernst nehmen.