Philipp May: Verzweifelte Menschen an ihrer Belastungsgrenze, einige mit Weinkrämpfen – das sind die Bilder, die das spanische Fernsehen von Bord des Rettungsschiffs Open Arms mit 107 Migranten in die Wohnzimmer sendet. Seit fast drei Wochen wartet das Schiff einer spanischen NGO auf Anlegeerlaubnis im Hafen der italienischen Insel Lampedusa. Zwar hat Spanien angeboten, seine Häfen für das Schiff zu öffnen, doch der Kapitän besteht darauf, in Italien an Land zu gehen. Wie die Geschichte auch ausgehen wird: Der Fall Open Arms belastet die Beziehungen zwischen Italien und Spanien enorm.
Es ist immer wieder das gleiche Gezerre, das sich abspielt, sobald ein Schiff im Mittelmeer Flüchtlinge aufgenommen hat, und so werden die Rufe nach einer neuen staatlichen Seenotrettungsmission wieder lauter. Am Wochenende brachte Kanzlerin Angela Merkel eine Wiederaufnahme der EU-Mission ins Spiel, und darüber rede ich jetzt mit Gerald Knaus, Leiter des Think Tanks Europäische Stabilitätsinitiative und einer der Vordenker des EU-Türkei-Abkommens. Schönen guten Morgen, Herr Knaus.
Gerald Knaus: Guten Morgen!
May: Herr Knaus, gerade das Gezerre um die Open Arms. Ähnliches steht für das Hilfsschiff Ocean Viking zu befürchten. Da sind sogar noch mehr Migranten an Bord: 360 Menschen. Das kreuzt ebenfalls auf dem Mittelmeer. Geht das jetzt immer so weiter?
Knaus: Es wird so lange so weitergehen, bis die Regierungen, denen daran gelegen ist, dass Seenotrettung stattfindet, eine bessere Lösung finden. Es ist absehbar, dass jedes dieser Schiffe ohne eine dauerhafte Einigung etwa mit Malta, das sich bereit erklärt, die von den privaten Seenotrettern Geretteten aufzunehmen, und ohne eine klare Zusage anderer Regierungen, von Malta Leute dann auch aufzunehmen, dass es so immer weitergeht. Das Ganze schadet allen. Es schadet natürlich denen, die gerettet sind und 18 Tage auf diesem Boot ausharren. Es schadet den Seenotrettern selbst. Es schadet Europa und es nützt eigentlich nur Matteo Salvini, weil der sich als jemand profilieren kann, der die Heuchelei von Europäern aufdeckt und gleichzeitig Italien vor, wie er das sagt, nordeuropäischen Schleppern schützt. Das Absurde an dem Ganzen ist: Jeder weiß es, jeder sieht es. Es gab vor Wochen schon Diskussionen darüber, wie man darauf reagieren sollte, mit einer Koalition von willigen Staaten. Doch aus diesem Gespräch ist nichts geworden und so dreht sich das Rad immer weiter.
"Es gibt ein konkretes Problem"
May: Sie haben von Heuchelei gesprochen. Wen meinen Sie damit und was meinen Sie damit konkret?
Knaus: Na ja, ich rede vom Vorwurf von Matteo Salvini. In Wirklichkeit ist es natürlich ein schwieriges Problem für europäische Regierungen. Aber was Salvini sagt ist: Seht her, mir wird vorgeworfen, ich schließe meine Häfen, aber niemand will diese Leute aufnehmen. Das ist die Botschaft von Salvini, mit der er seit über einem Jahr in Italien immer mehr Leute überzeugt, dass er sagt, Europa ist insgesamt heimlich auf meiner Seite, dass man alles tun muss, um Leute zu stoppen. Tatsächlich gibt es ein konkretes ernsthaftes Problem, nämlich, wie kann man alle die, die in Seenot sind, sofort retten und möglichst schnell in Sicherheit bringen, und das heißt nicht, für ein europäisches Schiff ist es rechtlich ausgeschlossen, sie nach Libyen zurückzubringen, ohne ein neues Signal zu setzen, dass etwa junge Menschen aus Westafrika sich wieder auf den Weg nach Libyen machen wie im Jahr 2016.
May: Es gibt einen Pulleffekt? Das gibt es schon?
Knaus: Es gibt die Angst vor dem Pulleffekt. In diesem Jahr ist vollkommen klar, dass die Zahl der Leute, die von Libyen aufgebrochen sind, im Mittelmeer nach Europa, so niedrig war, wie in sechs Jahren noch nicht, trotz der NGO-Boote. Aber im Jahr 2016, als es eine große Armada von Rettungsschiffen gab, vor allem staatliche, da gab es rund *180.000 Leute, die gerettet wurden. Die Regierungen haben Angst davor, dass wir zurückkehren zum Jahr 2016, mit den höchsten Zahlen von Toten und der höchsten Zahl von Ankommenden. Die NGOs weisen zurecht darauf hin, dass wir in diesem Jahr nur von einer sehr kleinen Zahl von Menschen reden, dass in diesem Jahr von Libyen im Durchschnitt pro Monat um die tausend Leute überhaupt nur in See aufgebrochen sind, und die meisten wurden zurückgebracht von der libyschen Küstenwache. Dazwischen verharren alle und warten.
In Wirklichkeit ist es relativ klar, was man tun müsste. Alle die, die von NGOs gerettet werden, sind am Ende in jedem einzelnen Fall von einer Gruppe von Staaten ausgewählt worden. Das könnte man einfacher und schneller machen. Gleichzeitig müsste man sicherstellen, dass nicht mehr Leute nach Libyen kommen, und das erreicht man dadurch, dass man etwa mit der libyschen Küstenwache verbindlich ausmacht, alle die, die die libysche Küstenwache zurückbringt an das Festland in Libyen, dass die sofort UNHCR oder IOM, internationalen Organisationen übergeben werden und dass man die sofort aus Libyen in ein anderes afrikanisches Land evakuieren kann. Das läuft auch bereits im Kleinen mit dem Niger. Man führt Verhandlungen mit Ruanda.
Da bräuchten die europäischen Regierungen mit Nachdruck Diplomatie, die dafür sorgt, dass alle die, die gerettet und zurückgebracht werden, weniger als 800 im Monat bisher im Jahr 2019, sofort evakuiert werden, dass die, die jetzt in diesen staatlichen Lagern sind, wo misshandelt wird, dass die ebenfalls evakuiert werden und dass man dafür mit den afrikanischen Ländern, mit denen man darüber spricht, dass man ihnen etwas anbietet. So ein Paket würde ein Signal senden, begebt euch nicht nach Libyen, und gleichzeitig könnten wir weiterhin die kleine Zahl, die sich noch auf den Weg macht von Libyen aus, die könnten wir natürlich retten. Und auch da wäre es gut, wenn wir zu Einigungen kämen, dass Herkunftsländer ihre Bürger, die keinen Schutz brauchen, die wir retten müssen, dann allerdings auch schnell zurücknehmen. So ein Paket, daran müsste man arbeiten, aber es gibt derzeit keine Regierung in Europa, die hier die Initiative ergreift.
"Wir haben keine Einigung mit Italien"
May: Ganz kurz. Retten wieder mit NGOs und mit der libyschen Küstenwache, oder auch mit staatlichen, mit einer EU-Mission?
Knaus: Ich habe ein bisschen das Gefühl, dass wir hier eine Scheindiskussion führen, denn das wirkliche Problem in diesem Moment ist ja nicht, ob das Schiff jetzt ein Handelsschiff ist, ein italienisches staatliches Schiff, oder ein NGO-Schiff. Das wirkliche Problem ist, dass wir keine Einigung haben über die Häfen. Wenn das jetzt ein europäisches Schiff wäre, sagen wir, wir haben eine neue europäische Rettungsmission, staatlich wie Sofia, die ja auch retten sollte, und wir haben keine Einigung mit Italien, wo diese Leute hingebracht werden, dann bringt uns das keinen Schritt weiter. Genau da sehe ich die Gefahr dieser Diskussion jetzt, dass wir jetzt wieder wertvolle Zeit verschwenden. Wir reden jetzt über etwas, was theoretisch passieren könnte, was aber nicht passieren wird, weil es keine Einigung in der EU gibt. Das steht fest unter den Mitgliedsstaaten. Das müsste eine kleine Gruppe sein, die diese Rettungsschiffe losschickt. Und wenn wir die Frage des Hafens, wo diese Leute hingebracht werden können, nicht klären, dann bringt uns die ganze Diskussion über staatliche Seenotrettung nicht weiter.
May: Wo könnte denn dieser Hafen liegen? In Italien wird er unter Matteo Salvini eher nicht liegen.
Knaus: Das ist relativ klar, auch wenn in Italien um diese Frage ein Machtkampf ausgebrochen ist. Man muss auch verstehen, dass manche der NGOs dachten – ich glaube, es war ein taktischer Fehler, aber sie dachten wohl, nach diesen Gerichtsentscheidungen in Italien, die sagen, dass man Seenotrettern doch Zugang geben muss, wäre es vielleicht doch noch möglich, nach Lampedusa zu fahren. Aber ich gebe Ihnen vollkommen recht: Matteo Salvini baut auf dem seit über einem Jahr seine gesamten politischen Kampagnen auf, auf dem Thema, dass er die Häfen sperrt. Man braucht andere Häfen. Es gibt Malta, es gibt Korsika. Darüber wurde in Frankreich vor eineinhalb Jahren gesprochen. Es gibt immer noch die Möglichkeit – das ist natürlich viel weiter weg - spanischer Häfen. Am besten wäre Malta, aber die entscheidende Frage ist ja die, dass die Malteser angeblich auch hier wieder angeboten haben, Leute aufzunehmen, dass das aber nicht von vornherein klar ist und dass auch nicht von vornherein klar ist, was dann mit den Leuten passiert, die dort hinkommen. Man hat tatsächlich das Gefühl, dass sich bei jeder Rettung die Diskussion auf Ebene der Minister, so wie jetzt wieder in Spanien, aufs Neue zu drehen beginnt.
*In der ersten Online-Version stand an dieser Stelle fälschlicherweise die Zahl 80.000 - tatsächlich sind es 180.000 Menschen, die gerettet wurden.
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.