- Sven Hanuschek: Keiner blickt dir hinter das Gesicht. Das Leben Erich Kästners Hanser, 494 Seiten Preis: 49,80 Mark
- Erich Kästner: Als ich ein kleiner Junge war Atrium Verlag, 224 Seiten Preis: 48 Mark
- Isa Schikorsky: Erich Kästner dtv, 160 Seiten Preis: 14,90 Mark
"Unser Gast, meine Damen und Herren, ist gar kein Schöngeist, sondern ein Schulmeister. Er ist ein Moralist, er ist ein Rationalist, er ist ein Urenkel der deutschen Aufklärung, spinnefeind der unechten Tiefe, die im Lande der Dichter und Denker nie aus der Mode kommt, untertan und zugetan den drei unveräußerlichen Forderungen nach der Aufrichtigkeit des Empfindens, nach der Klarheit des Denkens und nach der Einfachheit in Wort und Satz." Der Gast, dem diese Laudatio galt, ist der Schriftsteller Erich Kästner. Und der, der sie 1956 verfaßt hat, ist der Journalist Erich Kästner. Der Moralist aus Dresden, der eigentlich Lehrer werden wollte und wohl deshalb sein Leben lang Schulmeister blieb, war aber nicht nur Romancier und Journalist, sondern auch Lyriker, Epigrammatiker, Essayist, Satiriker, Literatur-, und Theaterkritiker, Drehbuchautor, Kabarettist, Werbetexter, und nicht zuletzt ein weltberühmter Kinderbuchautor.
Rechtzeitig zu seinem 100. Geburtstag sind drei Biographien erschienen: die dichte, akribisch recherchierte, wissenschaftlich genaue Abhandlung von Sven Hanuschek "Und keiner schaut Dir hinter das Gesicht", die im leichten Plauderton, jovial vorgetragene Biographie: "Erich Kästner" von Franz Josef Görtz und Hans Sarkowicz und das knappe, preiswerte und alle wirklich wichtigen Fakten enthaltende dtv - Portrait von Isa Schikorsky.
Als hätten sich die Autoren untereinander verständigt, setzen alle drei Biographien dieselben Schwerpunkte und lassen dieselben Dinge weg: so streifen sie die letzten fünfzehn Jahre im Leben des Erich Kästner nur am Rande, so hinterfragen sie nicht, warum der Mann, dessen Lyrik wir doch vor allem schätzen, nach dem Krieg kaum noch ein Gedicht verfaßte – sieht man von der Auftragsarbeit "13 Monate" einmal ab. Ausführlich recherchierten Hanuschek wie Görtz/Sarkowicz und Schikowski etwa Kästners Affairen, Kästners Leben in der NS-Zeit, Kästner als Romancier, Kästners Vater- und Mutterbeziehung. Letztere hat Kästner ein Leben lang geprägt. In seinen Kindheitserinnerungen "Als ich ein kleiner Junge war" zeigt er auf, daß die Mutter die wichtigste Person in seinem Leben ist. Und sie bleibt es. Keine Frau kann je auch nur annäherungsweise an die Mutter heranreichen, der er Briefe und seine schmutzige Wäsche schickt, der er von jedem Liebensabenteuer haarklein berichtet. Görtz/ Sarkowicz meinen, daß nur noch das Tabu Inzest zwischen diesem Liebespaar auf Korrespondenzebene stünde. "Meine Mutter war kein Engel und sie wollte auch keiner sein. Ihr Ideal war handgreiflicher. Ihr Ziel lag in der Ferne, doch nicht in den Wolken. Es war erreichbar. Und weil sie energisch war wie niemand sonst und sich von niemandem reinreden ließ, erreichte sie es. Ida Kästner wollte die vollkommene Mutter ihres Jungen werden und weil sie das werden wollte, nahm sie auf niemanden Rücksicht – auch auf sich selber nicht und wurde die vollkommene Mutter. All ihre Liebe und Phantasie, ihren ganzen Fleiß, jede Minute und jeden Gedanken, ihre gesamte Existenz setzte sie fanatisch wie ein besessener Spieler auf eine einzige Karte: auf mich. Ihr Einsatz hieß: Ihr Leben mit Haut und Haar, die Spielkarte war ich. Deshalb mußte ich gewinnen. Deshalb durfte ich sie nicht enttäuschen. Deshalb wurde ich der beste Schüler und der bravste Sohn. Ich hätte es nicht ertragen, wenn sie ihr großes Spiel verloren hätte. Da sie die vollkommene Mutter sein wollte und war, gab es für mich, die Spielkarte, keinen Zweifel, ich mußte der vollkommene Sohn sein."
Da hat ein Vater nicht viel zu suchen. Görtz/ Sarkowicz sowie Isa Schikorsky behaupten gar, Kästners Vater sei gar nicht der Schuster Emil Kästner, Idas Mann, sondern der Hausarzt der Familie und wiederholen damit, was Werner Schneyder in einer früheren Biographie geschrieben hatte. Auch Sven Hanuschek widmet Vater Kästner ein ganzes Kapitel, an dessen Ende man so klug ist wie zuvor. Da heißt es: "Ein bißchen Hund, ein bißchen Kater, keiner weiß, wer ist der Vater." Hanuschek ist der akribischste der Biographen. Nichts, was er nicht wirklich belegen kann, läßt er gelten. Spekulation ist seine Sache nicht. Er ist auch derjenige der Biographen, der am wenigsten wertet, dafür die meisten Fakten bietet - auf daß sich der Leser selbst ein Bild machen kann.
Erich Kästner verliebt sich und verliert die Liebe wie andere einen Stock oder Hut. Er geht nach Berlin, hat zahlreiche Affairen, aus – wie er seiner Mutter schreibt - sozialhygienischen Gründen. Bald schreibt er für den Simplicissimus, die Weltbühne, das Berliner Tagblatt, verfaßt Gedichte, arbeitet fürs Kabarett. Im Sommer 1929 beendet Erich Kästner das Buch, das neben "Drei Männer im Schnee" sein größter Erfolg werden soll: "Emil und die Detektive". Bis heute ist es das bekannteste deutsche Kinderbuch des 20. Jahrhunderts geblieben. Autobiographisch sind beide Romane – der für Erwachsene und der für die Kinder: eine starke Mutter, ein mustergültiger Sohn. 1931 steht Kästner, der sich selbst stets als Gebrauchsschriftsteller verstanden hat, im Zenit seines Schaffens. Er flitzt zwischen Zeitungsredaktionen, Filmstudios, Rundfunkstationen und Theaterbühnen hin und her. Er schreibt den "Fabian". "Fabian", der Moralist ist arbeitslos geworden. Ruhelos durchquert er Berlin, besucht Cafès, Tanzpaläste, Bordells und Bars, einen Rummelplatz. Kästner möchte den Leser mit "Fabian" einen Zerrspiegel vors Gesicht halten. Fabian wird ein großer Erfolg. Mit der Hoffnungslosigkeit, der Sinnlosigkeit des Lebens hat Kästner voll ins Schwarze getroffen.
Die Nazis kommen an die Macht. Bücher werden verbrannt. Auch Erich Kästners Bücher. Kästner bleibt in Deutschland. Die ganzen zwölf Jahre lang. Er richtet sich ein, geht Kompromisse ein. Offiziell darf er nicht publizieren, unter Pseudonym veröffentlicht er weiter, darf sogar 1941 am gigantischen Münchhausenfilm mitarbeiten. Zweimal wird er verhaftet, wieder freigelassen. Doch er wird erleben, daß etliche seiner Freunde weniger Glück haben. Erich Knauf und Erich Ohser, der die Bildergeschichten von Vater und Sohn schuf, werden zum Tode verurteilt, Ohser begeht Selbstmord, Knauf wird hingerichtet. Die beiden hatten sich im Luftschutzkeller darüber unterhalten, wie sinnlos der Krieg sei. Bei der Verleihung des Büchnerpreises 1957 beschreibt Kästner die Zeit zwischen 1933 und 45: "Im Herbst 1927 erscheint mein erstes Buch, ein Gedichtband. Im Mai 1933 fand die Bücherverbrennung statt, und unter den 24 Namen, mit denen der Minister für literarische Feuerbestattung seinen Haß artikulierte, war auch der meine. Jede künftige Veröffentlichung in Deutschland wurde mir streng untersagt, im Laufe der nächsten Jahre wurde ich zweimal verhaftet und bis zum Zusammenbruch der Diktatur stand ich unter Beobachtung. Nach jenem Zusammenbruch war ich einige Jahre Redakteur und dann erst nach rund 15jähriger Pause erschien in Deutschland mein nächstes neues Buch. Das ist die Karriere eines, wie es 1933 hieß, unerwünschten und politisch unzuverlässigen Schriftstellers, der fast sechzig Jahre alt ist - und mit dem Schicksal der meisten andern unerwünschten Autoren verglichen, war das seinige ein Kinderspiel. Ihre Literaturpreise bestanden in Verfolgung und Verbot, ihre Diplome lauteten auf Ausbürgerung, ihre Akademien waren das Zuchthaus und das Lager und mit noch höheren Ehren, auch mit der letzen wurde nicht gespart. Diejenigen unter uns, die von der Fülle solcher Auszeichnungen nicht erdrückt worden sind, sondern noch atmen, tragen diese Ordenslast nicht am Frack.
Warum ist Kästner nicht emigriert? Warum bleibt er in Berlin und hält sich mit seichten Publikationen über Wasser? Die Biographen sind sich einig: der Mutter wegen. Sie hat ihren Sohn im Krieg ein Jahr nicht gesehen und nichts von ihm gehört. Das ist schlimmer für sie als Hunger und Kälte, als die Angst vor den Bomben und dem Tod. Wäre Kästner emigriert, sie hätte es nicht überlebt. Kästner lernt 1940 Luiselotte Enderle kennen. Sie wird später seinen literarischen Nachlaß herausgeben, gesäubert von allem, was ein schlechtes Licht auf Erich Kästner werfen könnte. Als seine Wohnung ausgebombt wird, zieht er zu ihr. Sie wird seine Gefährtin bis zu seinem Tode 1974 bleiben, auch als Kästner 1957 einen Sohn von Friedel Siebert bekommt. Er pendelt zwischen den beiden Frauen hin und her, aber er verleugnet seine kleine Familie offiziell, eine für alle Beteiligten zermürbende Situation. Vielleicht wollen die Biographen deshalb wenig zu den letzen 15 Jahren des Erich Kästner sagen. Luiselotte Enderle betäubt sich mit Alkohol, und Kästner trinkt mit. In realiter ist er ein ebenso abwesender Vater wie die Väter in seinen Kinderbüchern. Doch als Schriftsteller gibt er einen wunderbaren Vater ab. Für seinen Sohn Thomas schreibt er seine beiden letzen Bücher: "Der kleine Mann" und "Der kleine Mann und die kleine Miß", entspannte, lebendige, kindgemäße Alterswerke.
Kästner kehrt mit "Der kleine Mann" zurück zu "Emil und die Detektive", zum Kinderbuch. Er fordert, daß die besten der guten Autoren für Kinder schreiben sollen. Und er tut in "Der kleine Mann" noch einmal seine Überzeugung kund, daß die Kinder dem Guten noch so nahe sind wie Stubennachbarn, daß man sie nur lehren müsse, die Tür behutsam aufzuklinken. In seinen Kinderbüchern sind die Kinder stets die Vernünftigen. Und der Schriftsteller Erich Kästner glaubt an die Vernunft, sein Leben lang, sagt der Journalist Erich Kästner: "Er glaubt an den gesunden Menschenverstand wie an ein Wunder. Und so wäre alles gut und schön, wenn er Wunder glaubte. Doch eben das verbietet ihm der gesunde Menschenverstand."
- Erich Kästner: Als ich ein kleiner Junge war Atrium Verlag, 224 Seiten Preis: 48 Mark
- Isa Schikorsky: Erich Kästner dtv, 160 Seiten Preis: 14,90 Mark
"Unser Gast, meine Damen und Herren, ist gar kein Schöngeist, sondern ein Schulmeister. Er ist ein Moralist, er ist ein Rationalist, er ist ein Urenkel der deutschen Aufklärung, spinnefeind der unechten Tiefe, die im Lande der Dichter und Denker nie aus der Mode kommt, untertan und zugetan den drei unveräußerlichen Forderungen nach der Aufrichtigkeit des Empfindens, nach der Klarheit des Denkens und nach der Einfachheit in Wort und Satz." Der Gast, dem diese Laudatio galt, ist der Schriftsteller Erich Kästner. Und der, der sie 1956 verfaßt hat, ist der Journalist Erich Kästner. Der Moralist aus Dresden, der eigentlich Lehrer werden wollte und wohl deshalb sein Leben lang Schulmeister blieb, war aber nicht nur Romancier und Journalist, sondern auch Lyriker, Epigrammatiker, Essayist, Satiriker, Literatur-, und Theaterkritiker, Drehbuchautor, Kabarettist, Werbetexter, und nicht zuletzt ein weltberühmter Kinderbuchautor.
Rechtzeitig zu seinem 100. Geburtstag sind drei Biographien erschienen: die dichte, akribisch recherchierte, wissenschaftlich genaue Abhandlung von Sven Hanuschek "Und keiner schaut Dir hinter das Gesicht", die im leichten Plauderton, jovial vorgetragene Biographie: "Erich Kästner" von Franz Josef Görtz und Hans Sarkowicz und das knappe, preiswerte und alle wirklich wichtigen Fakten enthaltende dtv - Portrait von Isa Schikorsky.
Als hätten sich die Autoren untereinander verständigt, setzen alle drei Biographien dieselben Schwerpunkte und lassen dieselben Dinge weg: so streifen sie die letzten fünfzehn Jahre im Leben des Erich Kästner nur am Rande, so hinterfragen sie nicht, warum der Mann, dessen Lyrik wir doch vor allem schätzen, nach dem Krieg kaum noch ein Gedicht verfaßte – sieht man von der Auftragsarbeit "13 Monate" einmal ab. Ausführlich recherchierten Hanuschek wie Görtz/Sarkowicz und Schikowski etwa Kästners Affairen, Kästners Leben in der NS-Zeit, Kästner als Romancier, Kästners Vater- und Mutterbeziehung. Letztere hat Kästner ein Leben lang geprägt. In seinen Kindheitserinnerungen "Als ich ein kleiner Junge war" zeigt er auf, daß die Mutter die wichtigste Person in seinem Leben ist. Und sie bleibt es. Keine Frau kann je auch nur annäherungsweise an die Mutter heranreichen, der er Briefe und seine schmutzige Wäsche schickt, der er von jedem Liebensabenteuer haarklein berichtet. Görtz/ Sarkowicz meinen, daß nur noch das Tabu Inzest zwischen diesem Liebespaar auf Korrespondenzebene stünde. "Meine Mutter war kein Engel und sie wollte auch keiner sein. Ihr Ideal war handgreiflicher. Ihr Ziel lag in der Ferne, doch nicht in den Wolken. Es war erreichbar. Und weil sie energisch war wie niemand sonst und sich von niemandem reinreden ließ, erreichte sie es. Ida Kästner wollte die vollkommene Mutter ihres Jungen werden und weil sie das werden wollte, nahm sie auf niemanden Rücksicht – auch auf sich selber nicht und wurde die vollkommene Mutter. All ihre Liebe und Phantasie, ihren ganzen Fleiß, jede Minute und jeden Gedanken, ihre gesamte Existenz setzte sie fanatisch wie ein besessener Spieler auf eine einzige Karte: auf mich. Ihr Einsatz hieß: Ihr Leben mit Haut und Haar, die Spielkarte war ich. Deshalb mußte ich gewinnen. Deshalb durfte ich sie nicht enttäuschen. Deshalb wurde ich der beste Schüler und der bravste Sohn. Ich hätte es nicht ertragen, wenn sie ihr großes Spiel verloren hätte. Da sie die vollkommene Mutter sein wollte und war, gab es für mich, die Spielkarte, keinen Zweifel, ich mußte der vollkommene Sohn sein."
Da hat ein Vater nicht viel zu suchen. Görtz/ Sarkowicz sowie Isa Schikorsky behaupten gar, Kästners Vater sei gar nicht der Schuster Emil Kästner, Idas Mann, sondern der Hausarzt der Familie und wiederholen damit, was Werner Schneyder in einer früheren Biographie geschrieben hatte. Auch Sven Hanuschek widmet Vater Kästner ein ganzes Kapitel, an dessen Ende man so klug ist wie zuvor. Da heißt es: "Ein bißchen Hund, ein bißchen Kater, keiner weiß, wer ist der Vater." Hanuschek ist der akribischste der Biographen. Nichts, was er nicht wirklich belegen kann, läßt er gelten. Spekulation ist seine Sache nicht. Er ist auch derjenige der Biographen, der am wenigsten wertet, dafür die meisten Fakten bietet - auf daß sich der Leser selbst ein Bild machen kann.
Erich Kästner verliebt sich und verliert die Liebe wie andere einen Stock oder Hut. Er geht nach Berlin, hat zahlreiche Affairen, aus – wie er seiner Mutter schreibt - sozialhygienischen Gründen. Bald schreibt er für den Simplicissimus, die Weltbühne, das Berliner Tagblatt, verfaßt Gedichte, arbeitet fürs Kabarett. Im Sommer 1929 beendet Erich Kästner das Buch, das neben "Drei Männer im Schnee" sein größter Erfolg werden soll: "Emil und die Detektive". Bis heute ist es das bekannteste deutsche Kinderbuch des 20. Jahrhunderts geblieben. Autobiographisch sind beide Romane – der für Erwachsene und der für die Kinder: eine starke Mutter, ein mustergültiger Sohn. 1931 steht Kästner, der sich selbst stets als Gebrauchsschriftsteller verstanden hat, im Zenit seines Schaffens. Er flitzt zwischen Zeitungsredaktionen, Filmstudios, Rundfunkstationen und Theaterbühnen hin und her. Er schreibt den "Fabian". "Fabian", der Moralist ist arbeitslos geworden. Ruhelos durchquert er Berlin, besucht Cafès, Tanzpaläste, Bordells und Bars, einen Rummelplatz. Kästner möchte den Leser mit "Fabian" einen Zerrspiegel vors Gesicht halten. Fabian wird ein großer Erfolg. Mit der Hoffnungslosigkeit, der Sinnlosigkeit des Lebens hat Kästner voll ins Schwarze getroffen.
Die Nazis kommen an die Macht. Bücher werden verbrannt. Auch Erich Kästners Bücher. Kästner bleibt in Deutschland. Die ganzen zwölf Jahre lang. Er richtet sich ein, geht Kompromisse ein. Offiziell darf er nicht publizieren, unter Pseudonym veröffentlicht er weiter, darf sogar 1941 am gigantischen Münchhausenfilm mitarbeiten. Zweimal wird er verhaftet, wieder freigelassen. Doch er wird erleben, daß etliche seiner Freunde weniger Glück haben. Erich Knauf und Erich Ohser, der die Bildergeschichten von Vater und Sohn schuf, werden zum Tode verurteilt, Ohser begeht Selbstmord, Knauf wird hingerichtet. Die beiden hatten sich im Luftschutzkeller darüber unterhalten, wie sinnlos der Krieg sei. Bei der Verleihung des Büchnerpreises 1957 beschreibt Kästner die Zeit zwischen 1933 und 45: "Im Herbst 1927 erscheint mein erstes Buch, ein Gedichtband. Im Mai 1933 fand die Bücherverbrennung statt, und unter den 24 Namen, mit denen der Minister für literarische Feuerbestattung seinen Haß artikulierte, war auch der meine. Jede künftige Veröffentlichung in Deutschland wurde mir streng untersagt, im Laufe der nächsten Jahre wurde ich zweimal verhaftet und bis zum Zusammenbruch der Diktatur stand ich unter Beobachtung. Nach jenem Zusammenbruch war ich einige Jahre Redakteur und dann erst nach rund 15jähriger Pause erschien in Deutschland mein nächstes neues Buch. Das ist die Karriere eines, wie es 1933 hieß, unerwünschten und politisch unzuverlässigen Schriftstellers, der fast sechzig Jahre alt ist - und mit dem Schicksal der meisten andern unerwünschten Autoren verglichen, war das seinige ein Kinderspiel. Ihre Literaturpreise bestanden in Verfolgung und Verbot, ihre Diplome lauteten auf Ausbürgerung, ihre Akademien waren das Zuchthaus und das Lager und mit noch höheren Ehren, auch mit der letzen wurde nicht gespart. Diejenigen unter uns, die von der Fülle solcher Auszeichnungen nicht erdrückt worden sind, sondern noch atmen, tragen diese Ordenslast nicht am Frack.
Warum ist Kästner nicht emigriert? Warum bleibt er in Berlin und hält sich mit seichten Publikationen über Wasser? Die Biographen sind sich einig: der Mutter wegen. Sie hat ihren Sohn im Krieg ein Jahr nicht gesehen und nichts von ihm gehört. Das ist schlimmer für sie als Hunger und Kälte, als die Angst vor den Bomben und dem Tod. Wäre Kästner emigriert, sie hätte es nicht überlebt. Kästner lernt 1940 Luiselotte Enderle kennen. Sie wird später seinen literarischen Nachlaß herausgeben, gesäubert von allem, was ein schlechtes Licht auf Erich Kästner werfen könnte. Als seine Wohnung ausgebombt wird, zieht er zu ihr. Sie wird seine Gefährtin bis zu seinem Tode 1974 bleiben, auch als Kästner 1957 einen Sohn von Friedel Siebert bekommt. Er pendelt zwischen den beiden Frauen hin und her, aber er verleugnet seine kleine Familie offiziell, eine für alle Beteiligten zermürbende Situation. Vielleicht wollen die Biographen deshalb wenig zu den letzen 15 Jahren des Erich Kästner sagen. Luiselotte Enderle betäubt sich mit Alkohol, und Kästner trinkt mit. In realiter ist er ein ebenso abwesender Vater wie die Väter in seinen Kinderbüchern. Doch als Schriftsteller gibt er einen wunderbaren Vater ab. Für seinen Sohn Thomas schreibt er seine beiden letzen Bücher: "Der kleine Mann" und "Der kleine Mann und die kleine Miß", entspannte, lebendige, kindgemäße Alterswerke.
Kästner kehrt mit "Der kleine Mann" zurück zu "Emil und die Detektive", zum Kinderbuch. Er fordert, daß die besten der guten Autoren für Kinder schreiben sollen. Und er tut in "Der kleine Mann" noch einmal seine Überzeugung kund, daß die Kinder dem Guten noch so nahe sind wie Stubennachbarn, daß man sie nur lehren müsse, die Tür behutsam aufzuklinken. In seinen Kinderbüchern sind die Kinder stets die Vernünftigen. Und der Schriftsteller Erich Kästner glaubt an die Vernunft, sein Leben lang, sagt der Journalist Erich Kästner: "Er glaubt an den gesunden Menschenverstand wie an ein Wunder. Und so wäre alles gut und schön, wenn er Wunder glaubte. Doch eben das verbietet ihm der gesunde Menschenverstand."