Es waren nicht nur die Riffs. Sie wissen schon ...
The Rolling Stones, "(I Can’t Get No) Satisfaction"
... oder ...
The Rolling Stones "Jumping Jack Flash"
... oder ...
The Rolling Stones, "Start Me Up"
... oder hundert andere, die Sie alle kennen.
Emotionales musikalisches Schwergewicht
Es war auch, wie er in die Saiten langt. "Ich hab mal den Refrain zu 'Beast of Burden' gespielt", sagt Nils Lofgren von der E-Street-Band, "es waren exakt die richtigen Akkorde, aber bei mir klangen kein bisschen wie Keith." Er habe Richards auch mal in dessen Garderobe besucht, erzählt Lofgren, selbst exzellenter Gitarrist; da habe der ein Lick seines Lehrmeisters Chuck Berry angestimmt, und es habe geklungen "wie noch nie. Besser als bei Berry. Nicht technisch, aber mit mehr emotionalem Gewicht."
Sehen Sie ihn vor sich? Auf der Stadionbühne? Wie er, so aus dem Unterarm, die Akkorde schlägt? Ungewöhnlich weit oben, am Übergang vom Gitarrenkorpus zum Hals. Den Kopf legt er schief, links, rechts, und geht so tief in die dünnen Knie, wie es das Alter erlaubt. Stirnband, Ohrringe, Armreifen, vielleicht noch irgendwas Bimmelndes in die zottigen Haare geflochten; Kajal unterm Auge; die Füße in Chucks, dem Leinenschuhwerk der Jugend. Irgendwas zwischen einer faltigen Indianerin und einer sehr coolen Eidechse. Halb alter Mann, halb Kind.
"Weniger Möglichkeiten erzwingen mehr Ideen"
Kennen Sie seine drei Soloalben? Kaum ein Song darauf, der nicht auch ein Stones-Album geschmückt hätte (ein Kompliment, das Mick Jagger eher selten hört). Da singt Keith Richards selber. Nicht wirklich "gut", und okay, es hat manche Stones-Ballade ruiniert, dass sie ihn ans Mikro ließen. Aber sehr direkt und charismatisch. Und natürlich: reduziert. Alles hat er reduziert; drei Töne nur umfasst das Riff von "Satisfaction"; fünf Saiten nur, statt sechs, spannt er auf seine Telecaster. "Weniger Möglichkeiten", hat er mal gesagt, "erzwingen mehr Ideen".
Kein bisschen reduziert war legendärer Weise Keith Richards' Drogenkonsum. Heroin in den 70ern, Kokain und allerlei anderes davor, daneben und danach. Zumindest bis 2006, bis zu seinem viel kolportierten Sturz von einer "Palme" (die dann doch nur der Ast eines Baumes war). Seither (heißt es): nur noch der eine oder andere Joint sowie natürlich Alkohol - und dem habe er nun auch weitgehend abgeschworen, wie er vor ein Paar Tagen erst verriet.
Insgesamt jedenfalls ein Pensum, mit dem andere Leute eher nur 27 werden. Wohlgemerkt: Schon länger existieren glaubhafte Berichte von Interviews, bei denen Keith Richards mit scheinbarer Schlagseite lallende Antworten gibt - und abrupt hellwach und glasklar wird, sobald das Band nicht mehr läuft. Oder bei denen er die Eiswürfel klingeln lässt im unvermeidlichen Drink - der sich dann als Saft entpuppt. Vielleicht bedient der Mann unser Bild von ihm mehr, als dass es ihm noch entspräche.
Seine Autobiografie "Life" ist da sehr erhellend. Man erfährt, wie gewaltig seine Leidenschaft für Musik ist. Wie ehrgeizig und fleißig er von Anfang an nicht reich, nicht berühmt werden wollte, sondern zuerst und vor allem: gut! Der Meisterschüler von Chuck Berry und Bo Diddley. Und wie er umgekehrt nach zu vielen autoritären Übergriffen von Mutter und Lehrern irgendwann beschloss, nicht mehr nach anderer Leute Regeln zu spielen. Er ist nicht von jeder Schule geflogen, aber er hat es versucht. Mit einer Furchtlosigkeit, die er bis heute ausstrahlt. In Würde altern - so geht’s.
Keith Richards hat alles gesehen und alles genommen und alles erlebt, er hat vier Kinder und fünf Enkel und 250 Millionen Alben verkauft, er steht auf der Bühne mit der langlebigsten, größten Band der Welt, allein bei ihrer seit 2017 laufenden "No Filter"-Welttour vor über 1,5 Millionen Zuschauern jeden Alters. Wippt in den Knien und spielt "Gimme Shelter". Nicht übel für 75.