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Kenia
Düstere Bilanz nach 50 Jahren Unabhängigkeit

50 Jahre nach Kenias offizieller Unabhängigkeit von Großbritannien deutet vieles im Land auf einen Rückschritt hin: Journalisten demonstrieren gegen eine geplante Medienaufsichtsbehörde, Politik und Verwaltung sind von Korruption durchzogen, und Kritiker befürchten die Schaffung eines neuen autoritären Regimes unter Präsident Kenyatta.

Von Antje Diekhans | 11.12.2013
    Kenia feiert seine Helden. Militärtruppen ziehen im Stechschritt durch das Stadion in der Hauptstadt Nairobi. Die meisten in roten Uniformjacken mit dunklen Hosen. Sie paradieren vor den Rängen, die an einer Seite für alte Freiheitskämpfer reserviert sind. Viele von ihnen sind allerdings nicht mehr gekommen. 50 Jahre nach der offiziellen Unabhängigkeit von Großbritannien am 12.12.1963 lichten sich die Reihen der Heroen.
    Ein Kinderchor besingt den ersten Präsidenten Jomo Kenyatta. Über Bildschirme flackern Fotos, die ihn in Siegerpose zeigen. In Kenia sind diese Bilder in den Schulbüchern zu sehen. Auch wer damals noch nicht auf der Welt war, kennt sie.
    "Ich war noch jung und kann mich an nichts erinnern. Aber meine Eltern haben mir viel von unserem ersten Präsidenten erzählt."
    "Ich kenne vor allem seine berühmte Rede, als er sich zum ersten Mal an die Nation wandte. Als er Harambee sagte und damit meinte, dass wir alle ein Volk sind."
    Während viele in Erinnerungen an alte Zeiten schwelgen, fährt Kenyatta junior mit großem Tamtam ins Stadion ein. Sein offener Wagen ist der erste in einer ganzen Kolonne dunkler Limousinen und Landrover. Staatsmännisch winkt Uhuru Kenyatta zu den Rängen hinauf. Er dreht eine Ehrenrunde, bevor er über einen roten Teppich zur Rednertribüne schreitet. Seit Anfang dieses Jahres ist er Präsident und tritt damit in die Fußstapfen seines Vaters.
    "In diesem Jahr sieht unsere Republik ein goldenes Jubiläum. Wir wollen die Unabhängigkeitsfeiern begehen, indem wir uns an unsere Triumphe erinnern und über weiteren Fortschritt nachdenken."
    Kritiker befürchten neues autoritäres Regime unter Präsident Kenyatta
    Uhuru Kenyatta hat in den vergangenen Monaten schon viel über Kolonialismus geredet – meist im Zusammenhang mit einem Verfahren vor dem Internationalen Strafgerichtshof, dem er sich stellen soll. Im Prozess geht es um die Unruhen in Kenia nach den Wahlen vor sechs Jahren. Damals waren mehr als 1000 Menschen getötet worden. Lange schwelende Konflikte zwischen den Volksgruppen brachen sich Bahn; vor allem Kikuyu und Luo gingen aufeinander los.
    Kenyatta wird vorgeworfen, die Auseinandersetzungen angestachelt zu haben. Doch er versucht, sich dem Prozess zu entziehen. Er fährt eine Kampagne gegen das Gericht und stellt es als neues Instrument dar, Afrika zu unterwerfen. Auch den Tag der Helden nutzt er, um diese Sichtweise zu verbreiten.
    "Unsere Vorfahren haben Kolonialismus und imperiale Vorherrschaft abgelehnt. Wir müssen ihr Vermächtnis ehren und uns den Kräften entgegenstellen, die uns wieder zurückwerfen wollen. Sie mögen mächtig und reich sein – aber das waren auch die Kolonialisten. Genau, wie wir damals gesiegt haben, müssen wir auch jetzt siegen. Das ist die Aufgabe für alle Kenianer und alle Menschen in Afrika."
    Die kenianische Regierung hat den Tonfall im Umgang mit den europäischen Ländern verschärft. Kenyatta junior spricht von einem neuen afrikanischen Selbstbewusstsein. Kritiker befürchten, dass er die Grundlage für ein autoritäres Regime legt und dabei alle Gegner mundtot machen will – egal ob im Ausland oder in Kenia selbst.
    Neues Mediengesetz: "Ein Maulkorb für die Presse"
    Eine Gruppe Demonstranten zieht durch die Innenstadt von Nairobi. Alle sind Journalisten – für Zeitungen, Radio, Fernsehen. Sie tragen Plakate, auf denen "No Mr. President" steht. Einige haben sich den Mund zugeklebt, andere fordern lauthals Medienfreiheit. Sie protestieren gegen ein neues Gesetz, das vom kenianischen Parlament verabschiedet wurde. Es soll eine Medienaufsichtsbehörde eingesetzt werden, die drakonische Strafen verhängen kann, erklärt Aktivist Boniface Mwangi:
    "Einzelne Journalisten sollen Bußgelder von 6.000 Dollar zahlen, wenn sie für schuldig befunden werden, etwas Falsches geschrieben zu haben. Darüber entscheidet ein Tribunal, das von Kenyatta eingesetzt wird. Der Präsident will so verhindern, dass die Medien die Wahrheit schreiben."
    Der 30-Jährige ist ein mehrfach ausgezeichneter Fotojournalist. Während der Unruhen nach den Wahlen 2007 in Kenia machte er Bilder, die weltweit gedruckt wurden. Schonungslose Aufnahmen der Gewalt und Verzweiflung. Aber Boniface Mwangi will nicht nur dokumentieren, sondern selbst in die Geschehnisse eingreifen. Seit Kenyatta junior an der Macht ist, organisierte er mehrere Proteste gegen die Regierung – und trug die Konsequenzen:
    "Ich bin zweimal festgenommen worden – oder genauer gesagt dreimal, in zwei Fällen wurde ich geschlagen. Es laufen im Moment noch Gerichtsverfahren gegen mich."
    Er lässt sich nicht einschüchtern und fordert auch an diesem Tag das Recht ein, protestieren zu dürfen. Die Kenianer haben schon einmal Zeiten erlebt, in denen es gefährlich war, offen die Meinung zu sagen. Bis 2002 regierte Daniel arap Moi, der zweite Präsident des Landes, mit eiserner Hand. Er schaltete Gegner aus und sperrte sie in die berüchtigten Folterkammern, die auch heute noch unter einem Regierungsgebäude in der Innenstadt liegen. Die Zeitungen waren Staatspostillen. Boniface Mwangi befürchtet: Mit Kenyatta könnte sich vieles wiederholen:
    "Wir fallen zurück in dunkle Zeiten. Die neunziger, achtziger Jahre, als Moi alles bestimmt hat. Auch Uhuru Kenyatta will zum Alleinherrscher werden. Aber wir werden das nicht zulassen."
    Schon Kenyattas erste Monate als Präsident hätten viele Befürchtungen wahr werden lassen:
    Der Mann ist gerade mal gut sechs Monate im Amt. Er will der Presse einen Maulkorb anlegen und das kenianische Volk zum Schweigen bringen."
    "Wir fallen zurück in dunkle Zeiten"
    "Keine Belagerung mehr" skandieren die Demonstranten – Worte, die auch vor einigen Wochen benutzt wurden, als Kenia ein Trauma durchlebte. Im September überfielen Terroristen das Einkaufszentrum Westgate in Nairobi. Ein Shoppingparadies für die Gutbetuchten im Land. Auch viele Mitarbeiter der Vereinten Nationen und Botschaftsangestellte verkehrten hier. Der Schock über den Anschlag hält für viele bis heute an.
    Samstag, 21. September. Um die Mittagszeit sind die ersten Schüsse zu hören. Blutüberströmte Menschen rennen in Panik aus der Shopping Mall. Auf den Terrassen der Cafés liegen Tote.
    "Überall wurde geschossen. Es hörte einfach nicht auf. Wir haben uns in der Umkleidekabine in einem Laden versteckt, bis jemand gesagt hat, dass wir rauskommen können."
    "Kunden, Angestellte - so viele Menschen sind getötet worden. Ich habe direkt gesehen, wie jemand erschossen wurde."
    Schwer bewaffnete Terroristen haben das Zentrum gestürmt. Sie schießen um sich und werfen Granaten. Schnell ist klar, dass sie zur radikal-islamischen Shabaab-Miliz aus dem benachbarten Somalia gehörten. Ein Sprecher der Islamisten meldet sich zu Wort:
    "Wir haben das Einkaufszentrum angegriffen, weil Kenia die Waffen gegen uns erhoben hat. Die Kenianer sind unsere Feinde. Wir werden sie treffen, wo immer wir können."
    Offiziell 67 Tote bei Terrorangriff auf Einkaufzentrum Westgate in Nairobi
    Etwa zwei Jahre zuvor waren kenianische Truppen in Somalia einmarschiert, um die dortige Regierung im Kampf gegen Al Shabaab zu unterstützen. Seitdem drohten die Islamisten mit schweren Anschlägen in Nairobi. Der Angriff auf das Westgate ließ die schlimmsten Befürchtungen Realität werden.
    Die kenianische Regierung schickt außer einer Spezialeinheit der Polizei auch das Militär. Panzer rollen vor der Shopping Mall auf. Hubschrauber kreisen in der Luft. Doch auch die Soldaten scheinen gegen die Terroristen nicht viel ausrichten zu können. Viele fürchten um das Leben ihrer Angehörigen, die noch im Westgate sind. Präsident Uhuru Kenyatta sagt, die Einsatzkräfte sollten kein Risiko eingehen.
    "Ich bin mir bewusst, dass viele ungeduldig werden. Natürlich wollen wir die Situation bald klären. Aber ich bitte um Verständnis, wenn das nicht so schnell geht."
    Doch das Verständnis nimmt ab, je deutlicher wird, dass der Einsatz im Westgate schief geht. Der kenianische Innenminister verkündet mehrfach ein Ende des Angriffs – jedes Mal sind kurz darauf wieder Schüsse aus der Mall zu hören. Die Angaben zu Geiseln und Vermissten sind konfus. Es ist unklar, wie viele Terroristen im Zentrum sind und ob einige von ihnen entkommen konnten. Viele dieser Fragen stellen sich die Kenianer noch bis heute. Der Geschäftsmann Permod Malhotra hatte einen Laden im Westgate:
    "Die Regierung und die übrigen Behörden haben ein großes Durcheinander angerichtet. Niemand sagt uns, wie viele Menschen umgekommen sind, wie viele noch vermisst werden und wie viele Terroristen dabei waren. In der Regierung erzählt jeder ständig etwas anderes."
    Die Zahl der Toten wird offiziell mit 67 angegeben. Darunter viele Kenianer, aber auch Briten, Franzosen, Niederländer, Australier. Auch von den Einsatzkräften wurden einige getötet – die Frage ist von wem. In der Mall kam es zum Streit zwischen Polizei und Militär. Sie sollen aufeinander gefeuert haben. Große Teile des Einkaufszentrums sind eingestürzt. Vermutlich durch Sprengungen des Militärs. Als Material aus Überwachungskameras veröffentlicht wird, kommt noch Unglaublicheres ans Tageslicht.
    Die Aufnahmen zeigen, wie Soldaten mit vollen Plastiktüten aus einem Supermarkt kommen. Sie stecken Handys ein. Auf Fotos sind außerdem die Tresen der Cafés und Bars zu sehen, auf denen sich leere Bier- und Schnapsflaschen drängen. Alles deutet auf ein Gelage der Soldaten hin. Sie tranken und plünderten. Sogar die Taschen von Toten sollen sie ausgeräumt habe. "Wölfe im Westgate" heißt die Dokumentation im kenianischen Fernsehen über das Verhalten der Armee:
    "Die Veröffentlichungen sind der Auslöser für das neue Mediengesetz. Die Regierung will unter Verschluss halten, was im Westgate geschah, sagt Benji Ndolo von einer Organisation, die mehr Rechte für das kenianische Volk einfordert."
    "Es war eine große Katastrophe. Sie zeigt, dass alles bei uns auf tönernen Füßen steht. Die Sicherheitskräfte machen ihre Arbeit nicht. Das Land ist auf so einen Angriff von Terroristen überhaupt nicht vorbereitet."
    Eines der größten Probleme in Kenia ist die Landfrage
    Der Aktivist ist bei der Demonstration gegen das Mediengesetz dabei. Als die Journalisten zum Parlamentsgebäude ziehen, treffen sie auf eine andere Gruppe. Etwa fünfzig Frauen und Männer in einfacher Kleidung. Sie kommen vom Land und sind extra in die Hauptstadt gereist, um zu protestieren:
    "Wir sind von unserem Land vertrieben worden. Jetzt campieren wir in einem ausgetrockneten Flussbett."
    Die Siedler lebten seit rund zwanzig Jahren auf einem Landstück östlich von Nairobi. Jetzt will dort eine Universität neue Gebäude hochziehen. Die Hütten waren im Weg.
    "Unsere Häuser wurden niedergebrannt. Wir haben überhaupt nichts mehr. Keine Kleidung und nichts zu essen. Auch unsere Kühe haben sie uns genommen."
    Die Landfrage ist eins der größten Probleme in Kenia. Die Hoffnungen der Menschen, nach der Kolonialzeit endlich wieder selbst Grund und Boden ihr Eigen nennen zu können, haben sich zerschlagen. Große Landstriche gehören den Familien der früheren Präsidenten. Über die Kenyattas heißt es nur halb scherzhaft, sie hätten sich halb Kenia angeeignet.
    Eine neue Verfassung, die für mehr Gerechtigkeit sorgen sollte, wird nicht umgesetzt. Häufig haben mehrere Parteien Anspruch auf dasselbe Grundstück. Es setzt sich der durch, der am meisten Schmiergeld zahlen kann. Die Korruption in Kenia zieht sich durch die gesamte Politik und Verwaltung.
    "Es ist eine teuflische Abart. Die Politiker lassen sich wählen, um sich die Taschen vollzumachen. Es stört sie nicht, dass viele ihrer Wähler hungern und keine Arbeit haben."
    Nur als Präsident Mwai Kibaki 2002 zum ersten Mal ins Amt gewählt wurde, hatten die Kenianer kurz Hoffnung, dass sich das ändern könnte. Seine Regierung schrieb sich den Kampf gegen die Korruption auf die Fahnen – stolperte dann aber selbst bald über Bestechungsskandale. Benji Ndolo hält diese Jahre trotzdem für die besten in der Geschichte des unabhängigen Landes:
    "Damals haben wir es geschafft, uns von einer Ein-Parteien-Herrschaft in eine Demokratie zu entwickeln. Unsere Partner wie die USA, Frankreich und Deutschland haben an uns geglaubt und uns unterstützt. Und das ist wichtig für uns. Was nützt es, wenn wir sagen, dass wir niemanden brauchen? Das ist doch nur leere Rhetorik. Wir können noch viel über gute Regierungsführung lernen. Die westlichen Partner sollten fragen dürfen, wie es bei uns mit den Menschenrechten und der Demokratie aussieht und wie offen unsere Führung ist."
    Düstere Bilanz nach 50 Jahren Unabhängigkeit
    Präsident Kenyatta sieht das allerdings anders. Er verbittet sich jede Einmischung. Nur zu Ländern, die keine Fragen stellen, baut er die Beziehungen aus. Kenia orientiert sich Richtung China und der arabischen Welt.
    "Allen zu sagen, dass sie zur Hölle fahren können und dann nur Richtung Osten zu schauen, bringt doch nichts. China will ganz klar nur von Kenia profitieren. Wenn ich mir anschaue, was die Chinesen bisher auf dem Kontinent gemacht haben, gibt das kein gutes Bild ab."
    Die Bilanz des Aktivisten Benji Ndolo nach 50 Jahren Unabhängigkeit fällt düster aus:
    "Es ist schon ironisch, denn Kenyatta Senior hat für vieles, was in Kenia falsch läuft, die Grundlage geschaffen. Jetzt macht der Sohn weiter. Da kann man sich schon fragen, ob für Kenia überhaupt Hoffnung besteht. Es gibt keinen Grund zum Feiern."
    Zum Jubiläum deutet einiges auf Rückschritt statt auf Fortschritt. Der Terroranschlag auf das Westgate hat die Urlauberzahlen einbrechen lassen. Kenia scheint als Ziel für Safari und Strandferien nicht mehr sicher. Der ausstehende Prozess gegen den Präsidenten vor dem Internationalen Strafgerichtshof macht diplomatische Beziehungen schwierig. Die mehr als 40 Volksgruppen sind noch immer nicht zu einer Nation zusammengewachsen. Vieles, worauf die Freiheitskämpfer vor 50 Jahren hofften, ist nicht eingetreten.
    Am Unabhängigkeitstag sitzen die Helden von damals wieder auf der Tribüne. Ihr größter Anführer, Dedan Kimathi, war von den Kolonialherren gehängt worden. Aber seine Witwe verpasst die Feierlichkeiten nicht, auch wenn sie Schwierigkeiten hat, sich lange auf den Beinen zu halten.
    "Wir haben für unsere Freiheit und unser Land gekämpft. Wir wollten etwas verändern für die jungen Männer und Frauen, vor allem für die Kinder in Kenia. Wir haben auf Entwicklung gehofft. Kenia sollte gute Straßen, gute Schulen und gute Krankenhäuser haben."
    Vieles davon fehlt auch heute noch – zumindest für den großen Teil der Bevölkerung, der sich private Einrichtungen nicht leisten kann. Mukami Kimathi ist trotzdem stolz auf das freie Kenia. Für die nächsten Jahre hat sie einen großen Wunsch.
    "Wir sollten in Kenia endlich vereint sein und damit aufhören, uns als Luos, Kikuyus oder Kalenjin zu sehen. Wir müssen damit aufhören, uns gegenseitig zu bekämpfen."