An diesem Sonntagmorgen liegen die Straßen von Nairobi relativ ruhig. Die Sonne kämpft sich durch die Wolken. In der Luft hängt eine Mischung aus Dieselabgasen und Staub. Der Weg Richtung Karen, Nairobis abgeschottetem Stadtteil für die Superreichen, führt vorbei an winzigen Obstständen. Die Bananen hängen in Stauden herab, Mangos in allen Farben von grün bis rot, gelb, bis hin zu Orangetönen. Zwei Mädchen schneiden die Mangos auf und essen sie beim Gehen wie Äpfel. Mitten im Staub der Straße bieten Schmuckverkäufer bunte Ringe, Armreifen und Halsketten in den Farben der Maassai an, Kenias alter Kriegerstamm, dem vor einigen Jahrhunderten ein Großteil des heutigen Stadtgebietes von Nairobi gehörte.
Die Strecke vom Stadtzentrum bis Karen zieht sich 20 Kilometer lang, in Nairobi wohnen knapp vier Millionen Einwohner, offiziell. So genau weiß das niemand, allein in den Slums sollen rund 60 Prozent der Bewohner leben. Für sie ist Karen eine andere Welt. Der Taxifahrer schlängelt den alten Toyota an den Menschen vorbei.
Möbelhändler stellen Betten, Sofas, Stühle und Sessel direkt an die Straße. Auf der anderen Seite wäscht ein schmaler junger Mann an seiner sogenannten Autowaschanlage einen SUV-Geländewagen nur mit einem Schlauch. Bis ein großer Bus mit einer dicken Staubfahne vorbeifährt.
Dieser Stadtteil Karen, so steht es in Reiseführern, sei von den Kolonialherren vor 100 Jahren angelegt worden, damals noch außerhalb der Stadt. Fast nur Farmen von Briten, sogenannte Estates - Anwesen mit 500 Hektar und mehr Fläche. Auf fast 2.000 Metern Höhe gibt es hier keine Malariamücken, es ist kühl genug im afrikanischen Sommer, also im Dezember und Januar. Karen hieß das Gebiet damals noch nicht. Es gehörte zum Ngong County, benannt nach einem Höhenzug westlich von Nairobi, der an diesem Morgen im Dunst der verhangenen Sonne liegt. Weithin erkennbar an den typischen vier Gipfelkuppen wie bei einer geballten Faust.
Spätestens seit 1985 ist dieser Gebirgszug berühmt durch die dänische Schriftstellerin Karen Blixen.
"Wissen Sie, ich hatte eine Farm in Afrika am Fuße der Ngong-Berge."
So beginnt der Roman "Out of Africa", den sie in Dänemark 1937 schrieb, sechs Jahr nachdem sie ihre Farm aufgeben musste.
Zwischen Kult und Erinnerung
Auf wackligen Plastikstühlen sitzen kleine Gruppen im Park des Karen-Blixen-Museums, dessen hohe Eukalyptusbäume von der Dürre mattgrün erscheinen. Einige ältere Frauen sind in Old-Fashion-Safarilook gekleidet, beige Leinenhosen und Tropenhelm auf dem Kopf. Die Männer in Kakigrün, verhinderte Großwildjäger in memoriam der Kolonialzeit. Das Museumsgelände ist jeden Tag gut besucht von europäischen Reisegruppen. Die schwarzen Fahrer warten im Schatten auf dem kleinen Parkplatz voller Jeeps und Kleinbusse. Das Museum ist die Attraktion in Karen.
Im Park verteilt stehen alte Ochsenkarren, deren Holz verfault, die langen Eisenstangen, an denen die Ochsen in Zehnerpaaren die schweren Wagen mit Zentnerschweren Kaffeesäcken zogen, rosten vor sich hin.
Während des Ersten Weltkrieges soll die damals 30-jährige Karen Blixen viermal mit diesen Karren durch die Savanne zu den Soldaten und ihrem Mann Bror Blixen gefahren sein.
Auf einem freien Platz steht das Haus, in dem Karen Blixen von 1917 bis 1931 wohnte. Es wirkt klein, die Terrasse schmal. Das Gebäude wurde von einem schwedischen Architekten entworfen, eher ein länglicher Bungalow mit vorstehendem Dach als ein koloniales Herrenhaus. In der Ferne sind wieder die vier Gipfelkuppen der Ngong-Berge zu erkennen, wo die Blixen 1931 ihren Geliebten Dennis Finch Hatton begraben musste. Sein Grab kennzeichnete sie mit einer hohen Fahnenstange, um es von der Farm sehen zu können. Denn wirklich am Fuß dieser Berge liegt die Farm nicht.
Karen Blixen: Trotz Erfolglosigkeit bis heute auch in Kenia unvergessen
Die junge Kenianerin erzählt während der Führung stolz von der Dänin Blixen, der Stadtteil sei tatsächlich nach der Schriftstellerin benannt worden, 1931, nachdem die Farm an einen Remy Martin verkauft werden musste.
Jeden Tag werden die Bewohner also an die doch recht erfolglose Kaffeefarmerin Blixen erinnert - kein Problem, meint die junge Frau. Man unterscheide in Kenia zwischen Kolonialherren und weißen Siedlern. Die einen hätten das Land nur ausgebeutet und politisch ausgenutzt, die Siedler sorgten oft für Arbeitsplätze und wirtschaftlichen Aufschwung des Landes.
Karen Blixen hätte vielen Kenianern auf ihrer Farm Arbeit gegeben, zu einigen - darunter ihr somalischer Diener Farah und ihr Kikuyu-Koch Kamante - hatte sie eine tiefe Bindung, zeigen Originalfotos in ihrem ehemaligen Wohnhaus.
Museum und Partylocation
1963, kurz nach der Unabhängigkeit Kenias von Großbritannien, erwarb die dänische Regierung das Blixen-Haus, erfährt man während des Rundganges durch die teilweise originalgetreu nachgebauten Räume. Dänemark schenkte es im gleichen Jahr dem jungen Staat Kenia. Seit 1986 steht es Besuchern als Museum offen. Im Garten können Zelte für Feierlichkeiten gebucht werden.
An diesem Sonntag dringt Musik durch die weißen Planen. Eine indische Großfamilie feiert lautstark Hochzeit.
Die Kolonialzeit – in Karen ist sie omnipräsent. Viele weiße Siedler verließen zwar 1963 das Land, mussten ihre Farmen aufgeben – Nachwehen der Mau-Mau-Aufstände Mitte der 50er-Jahre.
In den Kolonial-Estates entlang der mit Sisalpflanzen, Jacaranda- und Pfeifenputzerbäumen bepflanzten fast menschenleeren Straßen von Karen wohnen seitdem – streng bewacht von bewaffneten Sicherheitskräften - Minister und Angehörige der kenianischen Regierung.
Hinter Stacheldraht bewehrten Mauern und meterhohen Hecken verstecken sich die Farmen der ehemaligen britischen Kolonialisten und Siedler. Fast unsichtbar drückt sich ein grüngekleideter Wachmann in die Hecke. Sein Kollege an der Nachbarvilla sitzt in einer schmalen Holzhütte. Kommt ein, meistens SUV vorgefahren – Besucher oder Bewohner der Villa - schaut der Wachmann durch das Guckloch in dem schmiedeeisernen Tor.
Zwiespältiges Kolonialerbe als Kassenmagnet
Das zwiespältige Kolonialerbe - es sorgt für volle Kassen: In Blixen-Museum wie auch in den kolonial gestalteten Safarilodges der berühmten Nationalparks Tsavo oder Maasai Mara, gegründet vor 57 bzw. 70 Jahren von der britischen Kolonialregierung.
Luxushotels wie das nahegelegene "Hemingways", ein neues Boutiquehotel in Karen, benannt nach dem wohl bekanntesten amerikanischen Afrikaschriftsteller Ernest Hemingway, hat laut Reiseportal tripadvisor den Travellers Choice 2018 in vier Kategorien noch vor ähnlichen Nobelabsteigen an den Stränden von Sansibar oder Mombasa gewonnen. Die Gäste lobten vor allem "den Stil kolonialer Eleganz". In dem Pub "Purdy Arms", einige Straßen weiter treten britischen Rockbands und Singer-Songwriter auf. Weiße Geschäftsmänner bestellen dort Pizza und Cola.
In Nairobis Stadtteil Karen treffen die Sehnsucht nach kolonialer Ordnung und der Aufarbeitung der britischen Hinterlassenschaft unvermittelt aufeinander.
Der erste Präsident Jomo Kenyatta, in den 40er-Jahren Arbeiter im englischen Sussex, dann als Aufständischer in Britisch-Ostafrika ins Gefängnis geworfen, ist einer der größten Landbesitzer, ein Teil seines Vermögens stammt aus dem Elfenbeinhandel. Einer seiner Frauen gehörte die Farm in Karen, auf der Teile des Hollywood-Films "Jenseits von Afrika" mit Meryl Streep und Robert Redford gedreht wurden. Der laut Forbes reichste Familienclan Afrikas, Kenyatta – und damit auch der jetzige Präsident Uhuru Kenyatta - besitzt heute Tausende Hektar Land in ganz Kenia mit ein Dutzend Sisal-, Obst- und Milch-Farmen.
Ein Waisenhaus für Elefanten
Jeden Tag, eine Stunde von 11 bis 12 Uhr erzählt Edwin Lusichi die Geschichte der um ihn herumwuselnden Elefantenbabys. Das kleinste gerade einmal ein Meter hoch. Es trottet verloren hinter seinem Wärter hinterher. Die 15 rostroten Waisen wirken traurig auf diesem staubigen Platz voller tiefroter Erde, während der Chef des Waisenhauses den ausnahmslos weißen Zuschauern das Schicksal der Dickhäuter erklärt und die Babies an ihren Milchflaschen nuckeln:
15 bis 20 dieser Mini-Elefanten lernen von ihren kenianischen Pflegern, wie sie später als Dreijährige wieder allein in der Wildnis leben müssen. Jeden Tag könnte ein neues Waisenkind hinzukommen, weiß Edwin. Die Wilderer sind hervorragend mit neuester Technik ausgestattet. Ein Wettlauf gegen die Zeit. Er zeigt auf einen Holzstall, daneben hängen bunte Wolldecken. Nachts werden den Elefantenbabys die Decken übergelegt, ein Pfleger schläft jede Nacht neben dem winzigen Tier auf einer Pritsche.
Alle 15 Minuten stirbt ein Elefant durch Wilderei
Im Durchschnitt fällt alle 15 Minuten ein Elefant Wilderern zum Opfer. Noch immer. Trotz aller Verbote. Auch ein Erbe der Kolonialzeit. Übrig bleiben oft die Babies, wenn sie denn rechtzeitig gefunden werden von den Rangern der Nationalparks, oder von weißen Touristen. Der Brite David Sheldrick leitete in den 40er-Jahren die Königlichen Nationalparks der britischen Krone in Ostafrika. Über die Unabhängigkeit Kenias 1963 hinweg setzte er sich bis 1976 für die Rettung der afrikanischen Elefanten ein. Tourismus statt Elfenbein – Sheldricks Wildlife Trust, zum Schutz der Dickhäuter und ebenso bedrohten Nashörner, ist heute die größte Organisation dieser Art weltweit.
Was Briten wie der Großwildjäger Dennis Finch Hatton vor 100 Jahren ganz selbstverständlich abschossen, retten heute Briten wie die Ehefrau Daphne des 1977 verstorbenen David Sheldrick. Jeder Besucher kann Pate eines kleinen Elefantenwaisen werden, wird per Email über seine Entwicklung informiert und kann auch die Auswilderung im Tsavo-Nationalpark begleiten.
Mit dem Motorradtaxi durch Kenia
Für das richtige Afrika-Feeling geht es jetzt auf ein Bodaboda zur nächsten von Briten gegründeten Tierrettungsstation in Karen. Einen Helm gibt es nicht, der Fahrer des Motorradtaxis fährt sofort los. Er wird noch überholt von anderen Bodabodas, drei Fahrgäste auf dem Hintersitz, keine Seltenheit.
Natürlich wird der Europäer davor gewarnt, die bunten, oft nicht straßentauglichen Motorradtaxis zu besteigen. Doch das Erlebnis ist faszinierend. Der warme Wind fegt über das Gesicht, vermischt mit Abgasen und Staub. 100 kenianische Schilling kostet ein Ride, rund 80 Cent - unschlagbar günstig.
Es geht rasant vorbei an anderen Autos, an Straßenschildern mit der Aufschrift: "Vorsicht. Giraffen kreuzen die Straße". Tatsächlich können die Giraffen von Nairobis Giraffen-Zentrum in Karen in den nahen Park hinüberwechseln. Die Aufzuchtstation am Giraffencenter hilft, die vom Aussterben bedrohten Rothschild-Giraffen zu retten. Ein Projekt von einer europäischen Organisation, eine Initiative vom Ende der 1970er-Jahre der britischen Familie Leslie-Melville, Nachfahren von Kolonialisten und die ehemaligen Bewohner des nächsten Ziels in Karen.
Jeder Bodaboda-Fahrer kennt das große Holztor in der Duma-Road, mitten in Karen. Bis hierhin können sie besonders schnell fahren, denn in die vornehme Gegend verirren sich nur selten die öffentlichen Busse, die sogenannten Matatus.
Mit Giraffen gemeinsam frühstücken
Hier in Karen, abgeschirmt von jeglichem Hauptstadt-Verkehr und der Lebenswirklichkeit Kenias, öffnet sich das große Tor zum wohl berühmtesten Hotel Kenias, das gern auf Covern von Edelreisezeitschriften prangt – das Giraffe Manor. Das wohl einzige Hotel der Welt, in dem Giraffen durch offene Fenster den Gästen beim Frühstück auf den Teller schauen – und naschen können.
Der Sicherheitsmann grüßt freundlich, hinter dem Tor fällt der Blick auf einen pittoresken, penibel gepflegten englischen Park. In der Mitte steht – wir sind in Afrika - ein schottisches Jagdhaus, zumindest architektonisch angelehnt an die Castles im viel kälteren Schottland. 1932, also lange vor der Unabhängigkeit Kenias, wurde das Herrenhaus von Sir David Duncan erbaut. Efeuähnliche Schlingpflanzen hängen von der Fassade des Backsteinhauses, Gartenliegen und -stühle laden zur Aussicht weit in die Savanne südlich von Nairobi.
Fern von den vielen riesigen Slums der Stadt im Osten wie Kibera, wo 60 Prozent der Einwohner auf engstem Raum in Blechhütten leben, erkaufen sich Europäer ab 565 US-Dollar pro Person die Illusion einer heilen, kolonialen Safari-Welt.
Mit Schwung trabt die Giraffendame Betty heran, ein Koloss von viereinhalb Metern Höhe, hinter ihr Kelly und Margaret, Salma und Daisy. Den Topf mit Futterpellets sehen sie aus schon von der anderen Seite des Parks aus. Die verzückten Hausgäste dürfen Betty und die anderen Rothschild-Giraffen füttern. Die schwarze Zunge nimmt erstaunlich vorsichtig die länglichen Pellets aus der Hand. Die lange Oberlippe nimmt das Futter gern auch aus dem Mund der Gäste - #IKissedaGiraffe, unter dem Hashtag finden sich zahlreiche Selfies auf Instagram. Für einen guten Zweck: Die weißen Siedler Jock und Betty Leslie-Melville gründeten 1979 den amerikanischen African Fund for Endangered Wildlife (AFEW) für den Erhalt der vom Aussterben bedrohten Rothschild-Giraffe. 130 Tiere gab es damals noch im Westen Kenias, heute sind es wieder gut 300 der sanften Riesen. Kenianische Schulklassen besuchen regelmäßig das angegliederte Giraffenzentrum, in einem Park nebenan können Europäer einen kurzen, exotischen Walk durch ein Gestrüppwäldchen wagen. Mindestens 15 Meter Abstand sollte man zu den Giraffen halten, mahnen Schilder auf dem Weg.
Auf der Suche nach dem Grab von Dennis Finch Hatton
Zum Schluss dieses Karen-Besuchs muss es natürlich auch hinauf zu den Ngong-Bergen gehen. Das Auto schaukelt mächtig über den unbefestigten Bergweg. Vertrocknete Maisfelder rechts und links, ein atemberaubender Blick hinunter auf Nairobi in der Ferne. Man könne von hier auch den Kilimandscharo sehen, meint der Fahrer. So ganz hat er das Ziel dieser weißen Journalistin nicht verstanden. Das Grab von Dennis Finch Hatton muss irgendwo oberhalb liegen. Dort wo Löwen dem berühmten Großwildjäger aus dem Film "Jenseits von Afrika" das letzte Geleit gegeben hatten. Heute stehen auf den Ngon-Bergen Windräder, ein erfolgreiches Pilotprojekt für erneuerbare Energien in Kenia. Das Grab ist jedoch unauffindbar. Gemeinsam mit dem Fahrer fragen wir einen alten Bauern.
Er weist in eine Richtung. Ein Obelisk soll dort heute stehen. Nach langem Suchen erkennt man den grauen Obelisken hinter einer Hecke, ungepflegt, ein Relikt. Davor eine selbst gezimmerte Metalltür mit einer kenianischen Handynummer auf das Blech gemalt. Falls jemand tatsächlich den langen Weg hierher unternimmt. Heute Morgen seien bereits eine dänische und eine deutsche Reisegruppe hier gewesen, meint die pummelige Kenianerin, die gleich nebenan in einer Blechhütte wohnt. Ihrem Urgroßvater hätte das Land gehört, ihre Großmutter soll erzählt haben, wie damals 1931 viele Briten zu dem Begräbnis kamen. Irgendwann später sei der Bruder einmal aufgetaucht, hätte die Gedenktafel erneuern lassen, die gestohlen worden war.
In den 70er-Jahren sei der Obelisk errichtet worden, ein paar Mal hätten Randalierer das Grab verwüstet. Die Familie des britischen Großwildjägers, der 1931 bei einem Flugzeugabsturz starb, kümmere sich nicht, meint die Bäuerin.
Die dicke Hecke verdeckt den Blick hinunter in die Ebene, den Karen Blixen und Dennis Finch Hatton bei ihren Ausflügen so geliebt haben sollen. Man könne die Bäume tatsächlich mal abholzen, sagt die Bäuerin. Ihre drei kleinen Kinder toben um sie herum.
Gegen halb sieben Abends sinkt die afrikanische Sonne hinter den Horizont. Die vier Gebirgskuppen der Ngong-Berge sind deutlich als Schatten in der Ebene zu sehen. Wenn man sich anstrengt, kann man das Blixen-Museum in Karen sehen.