Christiane Kaess: Wein, Obst oder Gemüse aus israelischen Siedlungen im Westjordanland und anderen Gebieten, die Israel seit 1967 besetzt hält, müssen in der EU besonders gekennzeichnet sein. Das hat gestern der Europäische Gerichtshof entschieden. Auf das Urteil reagierte Israels Regierung mit scharfem Protest. Palästinenser-Organisationen dagegen begrüßten es. Auch in Deutschland hat das Urteil für Aufregung gesorgt. Der Präsident des Zentralrats der Juden, Josef Schuster, findet, an Israel würden strengere Maßstäbe angelegt als an andere Staaten. Deutsche Politiker, die sind zum Teil besorgt. Der SPD-Europaabgeordnete Dietmar Köster zum Beispiel sagt, Sozialdemokraten wendeten sich strikt gegen jede Form des Antisemitismus. Eine gesonderte Kennzeichnung könne für Kampagnen instrumentalisiert werden, die das Existenzrecht Israels in Frage stellen. Und die Antisemitismus-Beauftragte und stellvertretende Vorsitzende der AfD-Fraktion im Bundestag, Beatrix von Storch, meint, der EuGH sei eine, so wörtlich, "politische EU-Justiz, die ihren offenen Antisemitismus als Kritik an der israelischen Politik zu kaschieren versucht." – Ich kann darüber jetzt sprechen mit Bijan Djir-Sarai. Er ist Obmann der FDP im Auswärtigen Ausschuss des Bundestages. Guten Morgen!
Bijan Djir-Sarai: Guten Morgen! – Ich grüße Sie.
Kaess: Hat Frau von Storch von der AfD recht, wenn sie der EU Antisemitismus vorwirft?
Aspekte Verbraucherschutz und Konsumenteninformation im Vordergrund
Djir-Sarai: Nein, das ist definitiv überzogen. Die Sache ist weitaus komplizierter. Der Europäische Gerichtshof hat hier eine Entscheidung getroffen und diese Debatte hat definitiv eine juristische Ebene und eine politische Ebene. Was die juristische Ebene anbetrifft, ist dieser Punkt juristisch gesehen ganz klar. Die von Israel 1967 besetzten Gebiete, beispielsweise die Golanhöhen, das Westjordanland und Ostjerusalem, sind nach dem internationalen Recht nicht Teil des Staates Israel. Der EuGH hat hier eine Entscheidung getroffen und hat die Aspekte Verbraucherschutz und Konsumenteninformation hervorgehoben. Die zweite Ebene ist aber die politische Diskussion, die politische Ebene. Die ist weitaus komplizierter und problematischer. Den EuGH zu kritisieren hat keinen Sinn, weil letztendlich ist das ja hier eine Entscheidung der Europäischen Kommission aus dem Jahr 2015, die vom EuGH bestätigt wurde.
Kaess: Herr Djir-Sarai, lassen Sie mich da kurz einhaken. Da sind jetzt schon sehr viele Punkte drin. Ist die EU zumindest unfair gegenüber Israel, denn dieser Vorwurf kommt ja jetzt auch, dass man da mit zweierlei Maß handelt, denn andere Territorialkonflikte werden ja auch nicht so behandelt?
Djir-Sarai: So ganz einfach ist es nicht. Es ist keine Schwarz-Weiß-Debatte. Ich weiß, dass Produkte beispielsweise aus der Westsahara auch gekennzeichnet werden, und da wird auch nicht gesagt, das sind Produkte aus Marokko. Den Aspekt würde ich nicht so hervorheben. Das Problem ist: Was passiert mit einer solchen Entscheidung? Eine solche Entscheidung – und das ist der schwierige Punkt der Diskussion – kann politisch missbraucht werden und es gibt Gruppen, es gibt Organisationen, die werden diese Entscheidung politisch missbrauchen und vor allem auch ganz stark gegen Israel setzen. Das ist der entscheidende Punkt und darüber muss man reden, aber den EuGH zu kritisieren, ist an der Stelle nicht zielführend.
Kaess: Da spielen Sie an auf die Boykott-Kampagnen, die dann eventuell auch Israels Existenzrecht in Frage stellen. Da hat die EU-Kommission gestern ganz klar gesagt, die EU wendet sich ausdrücklich gegen jede Art von Boykotten gegen Israel oder Produkte aus israelischen Siedlungen. Warum ist es so schwer, diesen Unterschied zu vermitteln zwischen Boykott und Kennzeichnung?
"Die Debatte ist komplizierter"
Djir-Sarai: Um einen Boykott handelt es sich hier ja nicht. Die Produkte dürfen ja weiterhin verkauft werden. Deswegen warne ich auch davor, diese Debatte so zu vereinfachen. Die Debatte ist weitaus komplizierter.
Kaess: Aber Sie haben ja die Sorge offenbar auch, Herr Djir-Sarai, wenn Sie sagen, das kann missbraucht werden.
Djir-Sarai: Ja, selbstverständlich! Das was juristisch als Verbraucherschutz bezeichnet wird, das ist ja für viele gar nicht Verbraucherschutz, sondern Verbraucherschutz wird als Instrument benutzt, um knallhart hinterher Außenpolitik zu betreiben. Das ist das große Problem. Das Problem ist nicht diese Entscheidung; das Problem ist, wie man mit dieser Entscheidung umgehen wird. Da können Sie davon ausgehen, dass es mit Sicherheit Gruppen geben wird, die diese Aspekte benutzen werden als Instrument, um dann dementsprechend ganz klar israelische Produkte oder Produkte aus bestimmten Gebieten zu diskriminieren. Das sind die Folgen dann in der Praxis, die auf uns zukommen werden. Das gehört auch zur Wahrheit dazu.
Kaess: Wem genau machen Sie diesen Vorwurf?
Djir-Sarai: Ich würde das an Gruppen festmachen, die auch in der Vergangenheit – nehmen Sie die BDS-Bewegung, das kann man ja auch so nennen – bewusst aufgetreten sind, übrigens auch den Begriff "Boykott" benutzt haben. Diese Gruppen benutzen selbst diesen Begriff. Deswegen wird es auch schwer sein, in dieser Debatte zu unterscheiden, worum geht es ganz genau. Die werden dann das Ganze als Instrument benutzen, das ist völlig klar, und werden sagen, Produkte aus Israel werden dementsprechend ganz klar diskriminiert werden. Wie gesagt, es geht nicht um Verbraucherschutz, sondern es geht darum, über den Weg den Nahost-Konflikt dann von mir aus in den Supermärkten oder wo auch immer auszutragen. Das ist das Problem, dass es letztendlich um diese Sache dann gehen wird.
Kaess: Aber wäre es nicht auch an der Politik, hier genauer zu differenzieren? Denn Sie haben jetzt gerade die BDS-Kampagne angesprochen. Gegen die, die tatsächlich zum Boykott israelischer Produkte generell aufrufen, hat der Bundestag einen Antrag verabschiedet. Das war damals eine fraktionsübergreifende Mehrheit aus Union, SPD, FDP und Grünen. Das war damals schon umstritten, unter anderem auch, weil auch in diesem Antrag nicht unterschieden wurde zwischen Produkten aus Israel und aus den besetzten Gebieten. War das im Nachhinein ein Fehler, diese Trennung nicht zu machen?
Djir-Sarai: Das sehe ich nicht. Die fraktionsübergreifende Entscheidung des Bundestages hatte letztendlich einen Zweck. Es ging auch nicht darum, wie das im Nachhinein häufig behauptet wird, die BDS-Bewegung zu verbieten. Das will niemand, darum geht es auch gar nicht.
Kaess: Sie ist immerhin verurteilt worden.
Djir-Sarai: Sie ist verurteilt worden. Es ging auch um die Frage, ob Räume innerhalb des Deutschen Bundestages für Veranstaltungen dieser Bewegung benutzt werden können. Letztendlich ging es auch darum, ein Zeichen zu setzen gegen Antisemitismus in Deutschland, und es ging auch nicht um die Frage, ob man im Ausland, ob beispielsweise die politischen Stiftungen mit dieser Bewegung im Ausland zusammenarbeiten können oder nicht. Diese Aspekte waren völlig außen vor, sondern das war eine reine innenpolitische Diskussion.
Wenn ich noch eine Sache ergänzen darf? – Die Debatte wirkt in der jetzigen Situation und deswegen habe ich ja auch gesagt, es gibt eine juristische und eine politische. Diese politische Diskussion wirkt ein Stück absurd. Wenn Sie sehen, dass wir über die einzige Demokratie des Nahen Ostens reden, wenn Sie sehen, in was für einer Situation gerade Israel gerade in den letzten Tagen war, und die europäischen Staaten oder Politiker aus Europa bei jeder Gelegenheit Solidarität bekunden, und an der Stelle diskutieren wir gleichzeitig über eine solche Entscheidung, die in Israel auch völlig anders wahrgenommen wird, als wir das hier sehen, dann finde ich das äußerst problematisch.
"In diesen besetzten Gebieten arbeiten viele Palästinenser"
Kaess: Aber dennoch, Herr Djir-Sarai, kann das ja nicht über das Völkerrecht hinwegtäuschen. Es gibt sogar eine UNO-Resolution, die die Staaten auffordert, zwischen dem Hoheitsgebiet des Staates Israel und den seit 1967 besetzten Gebieten zu unterscheiden. Und auch diese Kennzeichnung der Produkte aus israelischen Siedlungen, die hätte laut EU-Recht längst passieren müssen. Warum ist das denn bisher nicht umgesetzt worden?
Djir-Sarai: Es gab ja eine Entscheidung damals in Frankreich.
Kaess: In Frankreich ja, aber in Deutschland nicht.
Djir-Sarai: In Deutschland nicht. Durch die jetzige Entscheidung des Europäischen Gerichtshofs wird das natürlich auch für Deutschland konkrete Folgen haben und es wird auch konkret dann vor Ort dementsprechend mit der Umsetzung begonnen werden. Übrigens aus der Praxis höre ich – ich kann das selbst nicht bestätigen, aber ich höre aus der Praxis, dass viele Unternehmen, gerade Handelsketten auch damit angefangen hätten, die praktische Umsetzung in den Einkaufsstätten zu praktizieren, beispielsweise beim Thema Wein. Aber das ist nicht der Punkt. Schauen Sie, man wird nicht den Nahost-Konflikt über diese Schiene nutzen können.
Kaess: Darum geht es ja auch gar nicht.
Djir-Sarai: Aber das führt ja letztendlich dahin. Wir führen ja hier keine juristische Diskussion. Sie interviewen mich ja auch nicht zum Thema Verbraucherschutz, sondern Sie haben sich bewusst für den Außenpolitiker entschieden, weil das Ganze letztendlich auch eine politische Dimension hat. Für die politische Dimension ist es außerordentlich schwierig, das Ganze fortzusetzen. In diesen besetzten Gebieten, selbst in diesen Siedlungen, arbeiten viele Palästinenser. Das ist die einzige Quelle, auch dort zu arbeiten, Arbeitsplätze zu finden und vor allem Einkommen zu erzielen. Das heißt, auch realpolitisch glaube ich nicht, dass wir den betroffenen Menschen in diesen Gebieten einen Gefallen tun, wenn wir sagen, Produkte aus diesen Regionen dürfen demnächst nicht konsumiert werden oder eingeschränkt. Wir reden hier nicht von Boykott, sondern nur eingeschränkt dementsprechend platziert werden. Dann finde ich das schon in der politischen Realität problematisch.
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