"Ich hasse jeden Vergleich mit dem Holocaust", kommentierte Ami Ajalon entsprechende Äußerungen an einigen Stellen zu der Kennzeichnungspflicht von Produkten aus besetzten palästinensischen Gebieten. Und er glaube auch nicht, dass mit der Kennzeichnungspflicht ein grundlegender Antisemitismus am Werk sei.
Es sei nun allerdings eine Situation im Verhältnis zwischen Israel und der EU entstanden, in der es schwierig sei, die EU noch als ehrlichen Vermittler wahrzunehmen. Wenn man vermitteln wolle, dann sei die Entscheidung zur Kennzeichnungspflicht falsch gewesen. Wenn man allerdings wie die USA nun eindeutig Stellung beziehen wolle, dann könne ein solcher Schritt auch richtig sein. So zeigten auch die Konflikte in Jerusalem, dass eine mit Macht vorgebrachte Meinung Wirkung zeige. So seien deshalb immer mehr Israelis bereit, die wichtigsten israelischen Siedlungsgebiete im Osten Jerusalems aufzugeben.
Israel müsse sich seine legitime Stimme auf der Weltbühne erarbeiten. Das Land habe den Anspruch, eine Demokratie im Nahen Osten geschaffen zu haben, und diese auch zu verteidigen. Aber das gelinge nicht, wenn Israel den Endruck erwecke, gegen eine Zwei-Staaten-Lösung mit den Palästinensern zu sein und es dem Land nur darum gehe, die Machtansprüche und die Grenze weiter nach Osten auszuweiten. Das werde die Welt nicht akzeptieren.
Das Interview in voller Länge:
Doris Simon: Obst, Gemüse, Süßwaren, Kosmetika, um diese Produkte geht es hauptsächlich, wenn von Produkten aus den israelischen Siedlungen in den besetzten palästinensischen Gebieten die Rede ist. Gestern hat die Europäische Kommission nun für Waren mit dieser Herkunft eine Kennzeichnungspflicht beschlossen. Verbraucher in der Europäischen Union sollen mit einem Blick sofort erkennen, ob Produkte aus Israel kommen oder aus israelischen Siedlungen auf palästinensischem Boden, damit sie sich dann frei entscheiden können. Die israelische Regierung hat daraufhin die EU-Israel-Gespräche auf Eis gelegt. Schlecht ist auch die Stimmung bei den Siedlern in den besetzten Gebieten. Wie geht es nun weiter zwischen der EU und Israel? - In Israel ist Ami Ajalon bekannt als ehemaliger Chef des Schin Bet, des Inlandsgeheimdienstes, als Politiker der Arbeitspartei und in den letzten Jahren vor allem als Friedensaktivist, der energisch für eine Zwei-Staaten-Lösung eintritt. Vor dieser Sendung habe ich Ami Ajalon gefragt, ob er den Standpunkt der EU-Staaten nachvollziehen kann, demzufolge die Siedlungen illegal sind und deshalb europäische Verbraucher vorab wissen müssen, ob sie Waren von dort kaufen?
Ami Ajalon: Mir gefällt diese Entscheidung nicht. Ich halte sie nicht für zielführend. Ich bin ja schon jahrelang hier bei den Israelis unterwegs und jedes Mal, wenn so eine Entscheidung getroffen wird, entsteht der Eindruck, ja, wir würden nur auf Macht reagieren, wir verstünden eben nur die Sprache der Gewalt. Ich verstehe ja durchaus, was die Europäer hier beschlossen haben. Ich habe es sogar vorausgesagt. Ich habe es über Monate hinweg auch kommen sehen. Ich habe es immer auch hier in Israel schon gesagt. Diese Entscheidung ist wirklich an den Wänden zu lesen, in hebräischer, in arabischer Sprache, überall. Man kann es verstehen. Ich glaube, dass wir, also die Israelis und die Europäer, jeweils eigenverantwortlich handeln sollten. Manche würden das sogar einseitig durchgeführte Handlungen nennen.
Simon: Meinen Sie vonseiten der israelischen Regierung?
Ajalon: Ja! Die israelische Regierung, die Palästinenser-Behörde, die EU und die USA sollten da zusammentreten. Ich glaube, dass es sinnvoll wäre, wenn Palästina von den Vereinten Nationen als Mitglied anerkannt würde. Ich glaube ferner, dass das amerikanische Veto im Sicherheitsrat nicht produktiv ist, dass es gegen die Interessen Israels gerichtet war, denn es ist doch schwierig, wenn man kein richtiges Gegenüber hat, statt einen Staat als Ansprechpartner zu haben und eben nicht eine Einrichtung, bei der man gar nicht genau weiß, ob sie überhaupt noch die palästinensische Gesellschaft repräsentiert.
"Wir haben Schwierigkeiten mit dem Wort Frieden"
Simon: Herr Ajalon, macht die Kennzeichnungspflicht es für die Europäer jetzt schwieriger, als Vermittler aufzutreten? Das hat die israelische Regierung ja inzwischen gesagt.
Ajalon: Ja! Ich glaube, dadurch ist eine Situation entstanden, in der es mindestens im Verhältnis zwischen Israel und der EU schwierig wird, Europa noch als einen ehrlichen Makler anzusehen, und es ist auch ein großer Unterschied, welche Rolle man sich selbst zuschreibt. Wenn Sie mal überlegen: Als Person, als Gesellschaft, als Staat oder als Staatengruppe, meine ich, sollte man sich entscheiden, welche Rolle man spielen will. Wenn man die Rolle eines Vermittlers in Verhandlungen spielen will, dann war das sicherlich nicht die richtige Entscheidung. Wenn man dagegen, wie etwa die USA, klar Partei ergreift und sagt, ich will von einer Seite her eine bestimmte Zielrichtung bewirken, dann könnte diese Entscheidung möglicherweise den Effekt haben, den man erzielen will, dass eben man doch mit der Sprache der Macht zu Werke geht. So wie ja auch der in den letzten Wochen ausgeübte Terror junger Palästinenser durchaus bei vielen Israelis dann die Bereitschaft erzeugt hat, zum Beispiel auf arabische Wohnviertel in Jerusalem zu verzichten, etwas, was vor zwei Monaten noch unvorstellbar gewesen wäre.
Simon: Sie sprechen da von der jüngsten Welle der zum Teil tödlichen Angriffe auf Israelis. Die könnte aus Ihrer Sicht bedeuten, dass mehr Israelis jetzt sagen, wir geben bestimmte Regionen auf?
Ajalon: Nein, nicht nur vielleicht. Das ist tatsächlich so. Vor zwei Wochen wurde eine Umfrage angestellt. Die zeigte, dass mittlerweile 66 Prozent aller jüdischen Israelis nach dieser Welle von mit Messern bewaffneten jungen palästinensischen Terroristen bereit sind, die wichtigen arabischen Siedlungsviertel in Jerusalem aufzugeben oder sie zurückzugeben. Sie erwähnen Frieden. Nun, das ist ein häufig missbrauchter Begriff sowohl bei Israelis wie Palästinensern. Wir haben Schwierigkeiten mit dem Wort Frieden, denn allzu oft wurde uns Frieden in Aussicht gestellt und die Enttäuschung, die darauf folgte, war bitter. So etwa in den 90er-Jahren, als man vom neuen Mittleren oder Nahen Osten sprach, wo man sagte, Frieden jetzt, und dann folgte doch immer wieder Terror und Gewalt, übrigens auf beiden Seiten, sowohl bei den Palästinensern wie bei den Israelis. Bei Frieden ist für uns irgendwie dann die Klappe zu.
"Ich glaube nicht, dass hier grundlegender Antisemitismus am Werk ist"
Simon: Die Kennzeichnungspflicht für Produkte aus israelischen Siedlungen auf palästinensischem Boden wird von israelischer, aber auch von deutscher Seite manchmal in die Nähe des Boykotts jüdischer Geschäfte in der Nazi-Zeit gerückt. Herr Ajalon, sehen Sie in der von der EU-Kommission beschlossenen Kennzeichnungspflicht eine Parallele oder eine Nähe zu den Nazi-Boykotten?
Ajalon: Oh nein! Ich hasse jeden Vergleich mit dem Holocaust und ich glaube auch nicht, dass hier als Triebkraft ein grundlegender Antisemitismus am Werk ist. Wir müssen uns doch schon darauf einigen, dass wir hier wirklich alles tun müssen, um unseren Standpunkt zu unterstützen, dass wir nämlich eine legitime Stimme haben als Akteur auf der Weltbühne. Und wir müssen die Menschen überzeugen, dass wir nur dann eine Zukunft für uns finden werden, wenn wir legitim auftreten mit unserem Anspruch, dass wir hier eine jüdische Demokratie im Nahen Osten geschaffen haben und dass es diese zu verteidigen gilt. Wenn sich aber der Eindruck durchsetzen sollte, dass es hier nicht um die Verteidigung dieses Staates und der jüdischen Demokratie gehe, sondern dass es darum gehe, unsere Ostgrenzen hinauszuschieben und neue Siedlungen zu bauen, dann werden wir keine Legitimität gewinnen. Wenn wir den Eindruck erwecken, es ginge uns nicht darum, eine Zwei-Staaten-Lösung, hier der Palästinenserstaat, da der israelische Staat, Seite an Seite nebeneinander zu erzeugen, sondern unsere Machtansprüche einfach so durchzusetzen, das wird die Welt nicht akzeptieren. Und aus diesem Grund bin ich gegen jeden Vergleich mit dem Holocaust, mit den 30er-Jahren oder mit dem Nazi-Regime.
Simon: Ami Ajalon war das, der ehemalige Chef des israelischen Inlandsgeheimdienstes und Friedensaktivist, zur Kennzeichnungspflicht für Produkte aus israelischen Siedlungen in den besetzten Gebieten. Das Gespräch haben wir vor der Sendung aufgezeichnet.
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.