Steine und Flaschen fliegen auf Polizeihundertschaften, Barrikaden werden angezündet, Läden geplündert. Das Netz ist voll von Handyvideos, die dokumentieren, wie heftig die Ausschreitungen rund um den G20-Gipfel in Hamburg waren.
Zu sehen sind auf diesen Aufnahmen aus dem Juli dieses Jahres aber auch Szenen, in denen Polizeikräfte zuschlagen, Pfefferspray auf Unbeteiligte und Journalisten spritzen, auf am Boden liegende Menschen einschlagen. Oder Anwohner attackieren, die vor der eigenen Haustür im Hamburger Schanzenviertel beim abendlichen Bier zusammenstehen:
"Wir sind hier Nachbarn! Und die sind sofort auf uns losgegangen, haben uns mit CS-Gas, mit Pfefferspray gesprüht, haben auf uns eingeprügelt. Wir saßen hier! Die haben hier nichts zu suchen, die Arschlöcher!"
"Sie haben mit einem Schlagstock mein Bein gebrochen"
Von einer anderen Attacke erzählte eine junge Frau dem Norddeutschen Rundfunk. Zusammen mit Freunden wollte sie musikalisch gegen den Gipfel der 20 mächtigsten Regierungschefs der Welt protestieren. Ohne Vorwarnung stürmten hochgerüstete Polizisten auf sie zu.
"Eigentlich ist das unsere Art und Weise zu demonstrieren. Durch Musik und durch bunte Klamotten. Sie haben mit einem Schlagstock mein Bein gebrochen. Sie haben einfach nur einen Schlag gebraucht, um mein Bein kaputt zu machen."
Hamburgs Innensenator Andy Grote kennt diese Bilder. Nach dem G20-Gipfel hat er das Personal des so genannten "Dezernats für interne Ermittlungen" aufgestockt. Angesiedelt in der Innenbehörde, ermitteln hier Polizisten alle Verdachtsfälle, bei denen sich ihre Kollegen möglicherweise rechtswidrig verhalten haben.
Auf dem Podium im Veranstaltungszentrum "Haus 73", direkt neben dem linksautonomen Treffpunkt "Rote Flora", erklärte der SPD-Senator Grote dem Publikum des Polit-Salons der Tageszeitung taz, um wie viele Verfahren sich die Ermittler des "Dezernats Interne Ermittlungen" kümmern:
"Wir haben jetzt 111 Verfahren, glaube ich, gegen Polizeibeamte und -beamtinnen. Ein hoher Teil der Ermittlungen sind von Amts wegen eingeleitet worden. Das ist auch etwas anderes. Und ich glaube, daran kann man ein bisschen sehen, dass wir das sehr ernsthaft betreiben. Und es ist im Übrigen so, dass ich davon ausgehe, dass es dort auch zu Verurteilungen kommen wird."
Voraussetzung dafür ist, dass die Verdächtigen zweifelsfrei identifiziert werden können. Und genau deshalb sollten, so die Forderung aus dem Publikum im Kulturzentrum, auch die Hamburger Einsatzkräfte endlich eine eindeutige Kennzeichnung tragen. Festlegen will sich Hamburgs Innensenator bei dem Thema allerdings nicht:
"Die Diskussion über Kennzeichnungspflicht ist, das muss man schon sagen, emotional stark überhöht, von beiden Seiten. Wir haben einmal die Polizeigewerkschaften, die Sturm laufen dagegen. Wir haben auf der anderen Seite die, die sagen: 'Das muss doch unbedingt sein, sonst haben wir hier eine wilde, außer Kontrolle geratene, sich vermummende Polizei!' Ich glaube, beides greift deutlich zu hoch. Wir haben bisher, das ist die Erfahrung, nicht das Problem gehabt, dass wir bei Ermittlungen die Identität von Polizistinnen und Polizisten nicht feststellen konnten."
Ermittlungsverfahren eingestellt, weil die Beamten nicht erkannt werden konnten
Seit Mitte der Achtzigerjahre wird die Kennzeichnungspflicht in der breiten Öffentlichkeit diskutiert. Die Erfahrungen bei Großeinsätzen der Polizei, bei den Castortransporten nach Gorleben oder bei den Protesten gegen das Bahnprojekt "Stuttgart 21" haben gezeigt: Anders als es Andy Grote für den Stadtstaat Hamburg nahelegt, musste woanders eine Vielzahl von Ermittlungsverfahren gegen Polizeikräfte gerade deshalb eingestellt werden, weil die handelnden Beamten eben nicht erkannt werden konnten. Trotzdem lehnt Rainer Wendt, der Bundesvorsitzende der Deutschen Polizeigewerkschaft, die Kennzeichnungspflicht strikt ab:
"Wir halten sie schlechtweg für überflüssig. Als Deutsche Polizeigewerkschaft sagen wir, dass dieses Lieblingsprojekt von grünen und linken Politikern eher ein ziemlich gestörtes Verhältnis zur Polizei offenbart als wirkliche Notwendigkeit. Hier wird eine ganze Berufsgruppe unter den Generalverdacht gestellt, potentielle Straftäter zu sein, die man für den Fall der Fälle, uns zwar sämtlich, kennzeichnen muss. Das ist erstens überflüssig und zweitens eine politische Stigmatisierung der gesamten Polizei. Das lassen wir uns nicht gefallen."
In acht von sechzehn Bundesländern wurde die Kennzeichnungspflicht in den letzten Jahren eingeführt. Meistens auf Initiative von Bündnis-Grünen, von SPD und Linken. In Brandenburg, Hessen und Sachsen-Anhalt unterstützte aber auch die CDU ihre Einführung. Maria Scharlau, Rechtsexpertin von Amnesty International, widerspricht den Vorwürfen aus den Polizeigewerkschaften. Von einem Generalverdacht könne angesichts der sehr guten Arbeit der großen Mehrheit der Einsatzkräfte keine Rede sein. Maria Scharlau verweist auf die guten Erfahrungen mit der Kennzeichnungspflicht, die etwa in Brandenburg durch eine Untersuchung belegt seien:
"Nach zwei Jahren gab es eine Evaluation. Und, wohlgemerkt, die CDU hat dieses Resümee gezogen: Diese Kennzeichnung, die stärkt das Vertrauen in den Rechtsstaat, die stärkt das Vertrauen in die Polizei. Und deswegen will Amnesty International den Blick auch mal wieder auf eine etwas sachlichere Debatte lenken. Es geht eben genau nicht darum zu sagen: 'Alle Polizisten sind so!' Aber es braucht einfach die Mittel, dann die entsprechenden Strafverfahren gegen Straftäter durchzuführen."
NRW hat Kennzeichnungspflicht wieder abgeschafft
Wie umstritten die Kennzeichnungspflicht ist, zeigt ein Blick nach Nordrhein-Westfalen. 2016 hatte dort die rot-grüne Landesregierung die Einführung von individuellen Dienstnummern auf den Weg gebracht. Ein Jahr später, unter der seit Juni regierenden CDU/FDP-Koalition, wurde sie - mit den Stimmen der AfD - wieder abgeschafft.
"Heute ist ein guter Tag für unsere Polizei hier in Nordrhein-Westfalen, denn wir werden die 2016 eingeführte gesetzliche Kennzeichnungspflicht wieder abschaffen."
Das verkündete der CDU-Abgeordnete Christos Katzidis Mitte Oktober vor dem Parlament in Düsseldorf.
Und sein FDP-Kollege Marc Lürbke erklärte: "Es gibt keinen praktischen Bedarf."
Auf Nachfrage bestätigt NRWs Innenminister Herbert Reul, CDU, dass es auch in Nordrhein-Westfalen keinen Fall gab, bei dem ein Polizist nicht hätte identifiziert werden können, weil die Kennung fehlte:
"Dann braucht man sowas nicht. Und auf der anderen Seite erfüllt es die Polizisten mit einem tiefen Misstrauen. Denn die haben den Eindruck, die Kennzeichnung dient nicht dazu, Polizisten, die Fehler machen, zu erkennen, sondern Polizisten zu denunzieren."
Wie in vielen anderen Bundesländern waren und sind auch in NRW die Polizisten und Polizistinnen größtenteils dagegen, dass sie durch eine eindeutige Kennung auf ihrer Uniform als Individuen gekennzeichnet sind. Dabei ging es nie um einen Namenszug auf der Uniform, sondern immer um einen Code, den nur die Polizei selbst entschlüsseln kann. Dennoch lautet das Argument: Die schon vorhandenen taktischen Zeichen, also verschiedenfarbige Quadrate, Kreise oder Rauten auf dem Rücken, die der Koordinierung der Hundertschaften im Einsatz dienen, reichten völlig aus. Immerhin ließen sich darüber der Einsatzzug und die etwa zehnköpfige Gruppe eines Beamten identifizieren.
Den Bürgerinnen und Bürgern mit einem offenene Visier gegenüber treten
Der zusätzliche Buchstabe, den die nordrhein-westfälischen Beamten der Einsatzhundertschaften und Alarmeinheiten nun wenige Monate lang tragen mussten, ermöglichte den Schluss von der Gruppe auf den einzelnen Beamten. Dass diese Kennzeichnung nun wieder abgeschafft wurde, hält die Grünen-Abgeordnete im Düsseldorfer Landtag Verena Schäffer für einen Fehler:
"Wenn man die Bereitschaftspolizei sieht mit Helm und mit Ausrüstung, dann ist es auch bei den letzten zehn Personen nicht mehr eindeutig, wer denn wirklich unter dem Helm steckt. Und ich finde, es geht auch darum, dass die Polizei mit einem offenen Visier in solch einer Situation den Bürgerinnen und Bürgern gegenüber treten muss, und das tut sie eben durch eine Kennzeichnung."
Der SPD-Abgeordnete und ehemalige Innenminister Ralf Jäger, unter dessen Federführung die Kennzeichnungspflicht Ende 2016 auf Wunsch der Grünen eingeführt wurde, sagt heute:
"Ich halte das Ganze für große Symbolpolitik. Wir haben heute schon eine Kennzeichnung, und jeder Polizist kann identifiziert werden. Dass das jetzt abgeschafft worden ist, ist die gleiche Symbolpolitik."
Dass die politische Diskussion zur Kennzeichnungspflicht wieder an Fahrt aufnimmt, liegt auch an einem jüngst verkündeten Urteil des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte. Der hatte einen Fall aus Bayern verhandelt: 2007 waren Beamte bei einem Fußball-Amateurderby mit Schlagstöcken und Pfefferspray gegen zwei Fans vorgegangen. Die Männer klagten durch alle Instanzen – die Polizeiübergriffe waren deutlich auf Videos zu sehen, die Identität der Polizisten war aber nicht aufzuklären. Mit einer Kennzeichnungspflicht würden solche Fälle vermieden, erklärt Maria Scharlau von Amnesty International.
"Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte macht ganz deutlich, dass die Aufklärung dieser Fälle ein Muss ist. Und zu dieser Aufklärung die Identifizierung des Polizeibeamten gehört. Die Länder sollten sehr wohl dieses Urteil sehr genau lesen und sich ehrlich der Frage stellen: Reichen unsere Maßnahmen, die wir da im Moment haben, aus, dass jeder Fall von Polizeigewalt auch tatsächlich aufgeklärt werden kann? Und ich glaube, da müsste die ehrliche Antwort lauten: Nein."
NRW-Innenminister Herbert Reul liest das Urteil anders:
"Kein Mensch fordert in diesem Urteil, dass eine Kennzeichnungspflicht eingeführt wird, vielmehr wird die Frage gestellt, ob nachher die Staatsanwaltschaft die Angelegenheit sorgfältig genug organisiert hat."
Wirklich praktikabel sei eine Kennzeichnungspflicht ohnehin nicht, erklärt der Chef der Deutschen Polizeigewerkschaft, Rainer Wendt. Kaum einem Opfer von Polizeiübergriffen würde dadurch geholfen:
"Sich einen sechsstelligen oder fünfstelligen Code dort anzuhängen, ist auch in der Praxis, im Einsatzgeschehen völlig unwirksam. Den merken Sie sich nicht, den können Sie noch nicht mal lesen, wenn Sie da von einer Hundertschaft überrannt werden sollten. Und deshalb ist er auch unwirksam. Er ist einzig nur politisch, ideologisch motiviert."
Und die Politik solle sich aus dem Thema heraushalten, so Rainer Wendt. Wer wie gekennzeichnet werde, solle durch Vereinbarungen zwischen den Innenministerien und der Polizei, aber nicht durch Gesetze geregelt werden.
2.000 Anzeigen gegen Polizisten, elf Verurteilungen
Eine Umfrage des Deutschlandfunks unter den sechzehn Innen- und Justizministerien ergibt: Von allen gezählten Delikten sind Körperverletzungen am häufigsten Gegenstand von Ermittlungen. Allerdings kommt es nur in einem Bruchteil der Fälle zur Eröffnung eines Gerichtsverfahrens. Verurteilungen von Polizisten sind die Ausnahme. Insgesamt gab es zuletzt etwa 2000 Anzeigen gegen Polizisten pro Jahr, davon führten etwa 2015 nur elf zu einer Verurteilung.
Ist die Kennzeichnungspflicht also tatsächlich überflüssig? Wissenschaftler, die sich mit dem Phänomen Polizeigewalt beschäftigen, bestreiten das. Die geringe Zahl an verurteilten Einsatzkräften habe wenig Aussagekraft, so die Polizeiforscher. Denn bei Anzeigen gegen Polizisten, bei den anschließenden Ermittlungs- und Gerichtsverfahren würden – anders als bei allen anderen Bürgerinnen und Bürgern - polizeispezifische Besonderheiten gelten.
Rafael Behr war früher selbst Polizist, war im Einsatz auf den Großdemonstrationen der Achtzigerjahre gegen Atomkraftwerke und die Startbahn-West. Heute lehrt er als Soziologieprofessor an der Hamburger Akademie der Polizei. Behr geht davon aus, dass längst nicht alle Polizeiübergriffe auch angezeigt werden.
"Wir wissen nicht das Verhältnis zwischen dem so genannten Hellfeld, also dem, was tatsächlich angezeigt wird, und dem so genannten Dunkelfeld, also was tatsächlich passiert, aber nicht angezeigt wird. Aber ähnlich wie diese Verletztenzahlen kennen wir auch nicht die tatsächlichen Zahlen von Übergriffen. Selbst das Dezernat Interne Ermittlungen in Hamburg sagt, es ist manchmal schwierig, die Opfer zu finden."
In den Fällen, in denen keine eindeutigen Film- oder Fotoaufnahmen das rechtswidrige Verhalten von Einsatzkräften dokumentieren, folgten viele Betroffene den Empfehlungen ihrer Anwälte und verzichteten auf eine Anzeige gegen Polizeibeamte, sagt Behr.
"Wenn Sie das tun, haben Sie sofort eine Anzeige wegen Widerstands gegen Vollzugsbeamte am Hals. Und das zermürbt einige. Und das lässt tatsächlich, so meine Information, einige Anwälte ihren Klienten raten, Polizeibeamte nicht anzuzeigen, wenn die Sache nicht völlig eindeutig ist."
In Hamburg laufen jedes Jahr rund 400 Ermittlungsverfahren gegen Polizeibeamte. Im letzten Jahr waren darunter 174 Verfahren wegen des Verdachts auf Körperverletzung im Amt. Entsprechende Verurteilungen gibt die Statistik jedoch nicht her.
Rückgang der Ermittlungsverfahren in Berlin nach der Kennzeichnungspflicht
Einen Hinweis darauf, dass die Kennzeichnungspflicht Wirkung zeigt, liefern Statistiken aus Berlin. Vor Einführung der Kennzeichnungspflicht wurde dort in knapp 350 Fällen wegen Polizeiübergriffen ermittelt. Ein Jahr später hatte sich diese Zahl halbiert - und zwei Jahre später waren es nur noch 93 Fälle. Zur Anklage kommt aber regelmäßig nur eine Handvoll Verfahren. Und verurteilt wegen einem Gewaltdelikt wurde im letzten Jahr nur ein einziger Berliner Polizist.
Ist eine Kennzeichnungspflicht, angesichts so geringer Verurteilungszahlen, dann überhaupt nötig? Sind die Zahlen nicht Beleg genug für die Gesetzestreue von Polizistinnen und Polizisten? Der Bochumer Kriminologe Tobias Singelnstein sieht noch einen anderen Grund für die vielen eingestellten Verfahren und Freisprüche: der Vertrauensvorschuss von Polizisten vor Gericht. Der gebe oft den Ausschlag, wenn in einem Prozess Fotos oder Handyvideos als Beweismittel fehlen und Aussage gegen Aussage steht.
"Sowohl Staatsanwaltschaft als auch Gericht stehen dann vor der Aufgabe zu entscheiden, wem sie eher Glauben schenken. Und dann stehen auf der einen Seite Polizeibeamte, die in der Glaubwürdigkeitshierarchie der Justiz sehr weit oben rangieren, Personen, Institutionen, mit denen die Justiz tagtäglich zusammenarbeitet. Und auf der anderen Seite eben ein Betroffener. Und da fällt das Pendel in der Regel zugunsten der Polizeibeamten aus."
Und das geschehe besonders häufig, wenn gleich mehrere Polizeibeamte vor Gericht als Zeugen aussagten.
"In der Kriminologie spricht man von der sogenannten 'Mauer des Schweigens'. Es gibt ganz selten die Situation, dass bei entsprechenden Vorfällen die Kollegen gegen ihre Kollegen aussagen. In der Regel sagen sie eher zugunsten ihrer Kollegen aus. Und auch das macht natürlich die Beweissituation in solchen Fällen sehr, sehr schwierig."
Tobias Singelnsteins Kollege Behr spricht von einer spezifischen "Cop-Culture", die eine gegenseitige Kontrolle im Polizeiapparat so schwierig mache. Er beschreibt die einzelnen Polizeikräfte als Teil einer "Gefahrengemeinschaft", in der eine Aussage gegen die eigenen Kollegen viel Mut erfordere:
"Diese Polizeibeamten setzen sich einem hohen Druck aus und setzen sich heftiger Kritik aus innerhalb des kollegialen Kreises, also innerhalb der Gefahrengemeinschaft, die müssen ja weiter miteinander leben. Es ist ja nicht damit getan, eine Aussage vor Gericht zu machen und dann irgendwo im luftleeren Raum weiter zu arbeiten. Die sind ja weiter in dieser Gruppe. Und Kameradenverrat wird hoch sanktioniert, nach wie vor."
Verständnis dafür, wenn einer mal austickt?
Gibt es also eine "Cop-Culture", eine "Polizeikultur", die es den einzelnen Beamten schwer macht, den eigenen Kollegen zu belasten? Einer der wenigen aktiven Polizisten, die sich öffentlich zu dem Thema äußern, ist der Hannoveraner Michael Schütte. Seit 41 Jahren im Polizeidienst, leitet er heute den Kriminal- und Ermittlungsdienst in der Innenstadt der niedersächsischen Landeshauptstadt.
"Das ist ja die typische Dilemma-Situation, dass man als Polizeibeamter, wenn man denn nicht einschreitet gegen den Kollegen, sich strafbar macht. Und zwar einer schwerwiegenden Straftat, nämlich einer Amtspflichtverletzung. Und auf der anderen Seite natürlich auch so etwas wie Kollegialität eben auch zählt. Und man in vielen Situationen vielleicht auch ein gewisses Maß an Verständnis dafür hat, dass jemand - vielleicht despektierlich gesagt: an so einer Stelle auch mal austickt und mehr Gewalt anwendet, als eigentlich notwendig ist. Diese Dilemma-Situation, glaube ich, die kennen Polizisten."
Polizeioberrat Michael Schütte versteht die Gewalt, die sich in heftigen Auseinandersetzungen auf der Straße entlädt und rechtliche Grenzen überschreitet.
"Ich glaube einfach, im Gewalthandeln der Polizei liegt auch immer eine Gefahr von Übergriff. Und dazu gibt es genügend Studien. Und dann ist es einfach auch hilfreich, wenn man im Wege der Aufklärung nicht im luftleeren Raum ermittelt, sondern die handelnden Personen auch identifizieren kann. Und dann sind wir wieder bei dem Thema Kennzeichnung."
In Hamburg wird es trotz dieser Argumente wohl auf absehbare Zeit keine Kennzeichnungspflicht geben. Der G20-Gipfel hat - im Zeitalter von Smartphones, Youtube, Twitter und Vimeo – zwar öffentlich gemacht, wie oft Polizeikräfte mit Schlagstöcken, Pfefferspray, Tritten und Faustschlägen gegen Demonstrierende vorgegangen sind. Und über 100 dieser Attacken werden zurzeit in Ermittlungsverfahren auf ihre Rechtmäßigkeit hin überprüft.(*) Nach dem Gipfel sind die Hamburger Innenbehörde und die Polizeiführung aber eher noch näher zusammengerückt. Beide sind im Visier des Sonderausschusses des Landesparlaments, der Hamburger Bürgerschaft.
Vergangene Woche nahm Hamburgs Innensenator Andy Grote eine Art Position zur Kennzeichnungspflicht ein. Im Schanzenviertel, vor ausgesprochen kritischem Publikum. Und erst nach mehreren Nachfragen:
"Sind Sie persönlich dafür oder dagegen? Ja oder nein?"
"Das ist eine Frage, die … [Johlen, Klatschen] Sie werden… Sie werden von… Sie werden von mir als Innensenator jetzt nicht hören, dass ich für die Kennzeichnungspflicht eintrete. Ich glaube aber nicht, dass das unser größtes Problem ist. Aber die Diskussion wird stattfinden."
(*) Wir haben die erste Version des Satzes ergänzt und damit präziser gefasst.