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Kent Nagano: Buch "10 Lessons of my Life"
Begegnungen, die zählen

Dirigent Kent Nagano schildert Begegnungen, die für ihn zu Lebenslektionen wurden. So traf ihn die Stimme von Popsängerin Björk mitten ins Mark. Und von Leonard Bernstein lernte er, dass Fragen wichtiger als Antworten sind. Ein Blick ins Buch.

Von Julia Spinola | 04.10.2021
Kent Nagano steht vor einem Poster, das Musiker in den Rängen der Elbphilharmonie zeigt.
Kent Nagano ist zur Zeit Generalmusikdirektor der Hamburger Staatsoper und Chefdirigent des Philharmonischen Staatsorchesters Hamburg. (picture alliance / dpa / Christian Charisius)
Die Bedeutung des Lernens hat den Dirigenten Kent Nagano schon angetrieben, noch lange bevor sich das Modewort der "education" im Musikbetrieb durchsetzte. Wo immer er wirkte, hat er neben seinen dirigentischen Verpflichtungen versucht, etwas von seinen Erfahrungen an die nächste und übernächste Generation weiterzugeben.
Seit 2015 leitet er als Generalmusikdirektor und Chefdirigent die Hamburgische Staatsoper. Jetzt kurz vor seinem 70. Geburtstag am 22. November ist sein zweites Buch erschienen, geschrieben mit der Journalistin Inge Kloepfer. "10 Lessons of my Life mit dem Untertitel: "Was wirklich zählt".

Wegmarken durch Begegnungen

Die Palette der Menschen, die ihre Spuren in Naganos Leben hinterlassen haben, ist bunt. Dirigentinnen und Dirigenten sind dabei, genauso Musikerinnen und Musiker aus dem Klassik- wie Popbereich. In diesem Buch, Naganos zweites, geht es um Lebenserfahrungen, die man weder aus Büchern noch aus Partituren lernen kann, sondern, wie Nagano betont, nur von Menschen. Es geht um Begriffe wie Wahrhaftigkeit, Integrität oder Demut, um Herzensbildung.
Kent Nagano, Inge Kloepfer
"10 Lessons of my Life. Was wirklich zählt"
Berlin Verlag 2021
208 Seiten, 22 Euro
Die Menschen, von denen Nagano im Laufe seines Lebens lernte, werden in zehn liebevollen Porträts vorgestellt. Nebenbei vermittelt das Buch auf unterhaltsame Weise auch Einblicke in den Musikbetrieb, in künstlerische Fragen, in das ambivalente Verhältnis von Kunst und Geld, aber auch in die naturwissenschaftlichen Theorien des Nobelpreisträgers Donald Arthur Glaser.

Eine Stimme für Schönberg

So begegnete er der Stimme der Popsängerin Björk auf einer Flugreise. Die tönte aus einem animierten Musikvideo, das auf einem Bildschirm flackerte. Ein kleines schwarzhaariges Comic-Mädchen tanzte dabei zwischen Schaufelbaggern und Traktoren. Die Urwüchsigkeit dieser Stimme schlug Nagano sofort in Bann. Und er wusste sofort: diese suchte er für ein bestimmtes Werk von Arnold Schönberg, für den zwischen allen Genres changierenden Sprechgesang des Melodrams "Pierrot Lunaire".
So lud er Björk 1996 zum Verbier Festival ein. Von ihr habe er gelernt, dass Perfektion auch in der abgezirkelten Welt der klassischen Musik nicht alles sei. Viel wichtiger sei die Frage danach, ob ein Künstler mit seiner Interpretation dem Publikum wirklich etwas zu sagen habe.

Lehrjahre sind keine Herrenjahre

Manche Begegnungen waren aber auch schmerzhaft. Von der Dirigentin und Gründerin der Boston Opera Company Sarah Caldwell hat er Demut gelernt. Caldwell war eine besessene Workaholic-Powerfrau, die ihren damals 25-jährigen Assistenten Nagano regelmäßig nachts um halb vier anrief und aufforderte, sofort ins Opernhaus zu kommen. um irgendein künstlerisches Problem zu lösen.
In solch einer Nachtaktion unterlief Nagano ein gravierender Fehler. Er hatte Orchesterstimmen umschreiben müssen und den Trompeten eine falsche Tonart zugewiesen. Am nächsten Morgen tönten volle Dissonanzen aus dem Orchestergraben. Zuerst gab es großes Gelächter. Danach feuerte ihn Sarah Caldwell auf der Stelle. Schock für Nagano, bis halb vier am nächsten Morgen. Denn dann rief sie wie immer an und bat ihn, sofort ins Opernhaus zu kommen.

Von Freunden lernen

Von Frank Zappa lernte Nagano, dass man als wahrer Künstler kompromisslos sein müsse und sich auf keinerlei taktische Spielchen einlassen dürfe. Leonard Bernstein brachte ihm bei, dass Fragen wichtiger als Antworten sind. Pierre Boulez vermittelte ihm, wovon Komponisten träumen und befeuerte sein Interesse für die Neue Musik. Weitere Kapitel sind dem langjährigen Intendanten der Opéra de Lyon Jean-Pierre Brossmann und dem Pianisten Alfred Brendel gewidmet.
Ein tiefer Respekt für die Menschen, die ihn geprägt haben, spricht aus Naganos Schilderungen, jene für ihn typische Mischung aus Wahrheitssuche und Verantwortungsgefühl. Angetrieben hat ihn sicher der Wunsch, auch dem lernbegierigen Leser etwas mitzugeben, was wirklich zählt.