Seit der Wartung der Pipeline Nord Stream 1 fließt deutlich weniger russisches Gas durch die Röhren nach Deutschland als möglich wäre. Ob zukünftig überhaupt noch Gas ankommt, gilt als unsicher. Vor diesem Hintergrund diskutiert die Politik Möglichkeiten, die aktuell noch drei aktiven Atomkraftwerke länger zu nutzen als geplant. Eigentlich sollten sie nach Ende Dezember 2022 endgültig vom Netz gehen.
Bei einer möglichen Verlängerung der Atomkraftnutzung geht es zum einen darum, Gas als Stromlieferant zu ersetzen. Zum anderen könnte bei einem Gasengpass im Winter aber auch der Strombedarf insgesamt steigen, weil etwa gasbetriebene Heizungen durch Elektroheizungen ersetzt werden könnten.
Dabei werden zwei mögliche Varianten zur Laufzeitverlängerung diskutiert. Zum einen könnten die Kraftwerke über einen sogenannten Streckbetrieb noch bis ins Frühjahr 2023 weiter laufen. Um die Kraftwerke darüber hinaus betreiben zu können, müssten neue Brennstäbe beschafft werden – das könnte den Atomausstieg allerdings um einige Jahre verzögen.
- Was könnte man über einen Streckbetrieb erreichen?
- Was wäre für eine Laufzeitverlängerung über das Frühjahr 2023 hinaus nötig?
- Könnte Atomkraft überhaupt einen großen Beitrag zur Energiesicherung leisten?
- Wie positionieren sich die Parteien?
- Was sagen Energieexperten und Konzerne zur weiteren Nutzung der Kernenergie?
Was könnte man über einen Streckbetrieb erreichen?
Ein diskutiertes Szenario ist der Streckbetrieb, das heißt ein Weiterbetrieb der verbliebenen Atomkraftwerke mit vorhandenen Brennstäben um wenige Monate bis ins Frühjahr 2023. Dafür bräuchte man keine neuen Brennstäbe. Eine solche verlängerte Nutzung bringe keinerlei neue Risiken mit sich, sagt Sören Kliem vom Helmholtz-Zentrum.
Allerdings wäre ein Streckbetrieb nur möglich, wenn dafür im Sommer 2022 im selben Maße weniger Kernenergie produziert würde. Das hatte eine Prüfung der Bundesministerien für Wirtschaft und Umwelt im März 2022 (*) ergeben. Es geht bei einem Streckbetrieb also eher um eine zeitliche Umverteilung als um ein Mehr an Atomstrom. Nach diesem ersten sogenannten Stresstest für das deutsche Stromnetz hatten die Ministerien von einem Weiterbetrieb der Atomkraftwerke abgeraten.
Was bedeutet Streckbetrieb?
Wenn die atomare Kettenreaktion in einem alten Reaktorkern am Ende seiner Lebensdauer mangels unverbrauchten Urans langsam automatisch zum Erliegen kommt, kann dieser Prozess durch Maßnahmen der Anlagensteuerung noch für einige Monate künstlich in die Länge gezogen werden. Man senkt etwa die Temperatur des Reaktorkühlwassers, was dessen Dichte erhöht und die für die Kettenreaktion verantwortlichen Neutronen stärker abbremst. Allerdings verliert der Reaktor dabei laufend 0,5 Prozent seiner Leistung pro Tag.
Wenn die atomare Kettenreaktion in einem alten Reaktorkern am Ende seiner Lebensdauer mangels unverbrauchten Urans langsam automatisch zum Erliegen kommt, kann dieser Prozess durch Maßnahmen der Anlagensteuerung noch für einige Monate künstlich in die Länge gezogen werden. Man senkt etwa die Temperatur des Reaktorkühlwassers, was dessen Dichte erhöht und die für die Kettenreaktion verantwortlichen Neutronen stärker abbremst. Allerdings verliert der Reaktor dabei laufend 0,5 Prozent seiner Leistung pro Tag.
Was wäre für eine Laufzeitverlängerung über das Frühjahr 2023 hinaus nötig?
Um die drei noch aktiven deutschen Atomkraftwerke über das Frühjahr 2023 hinaus zu nutzen, seien keine hohen Investitionen notwendig, sagte Ralf Güldner vom Verband Kerntechnik Deutschland im Dlf. Die AKW liefen bis zum letzten Betriebstag am 31. Dezember 2022 auf höchstem Sicherheitsniveau. Allerdings müssten für eine Laufzeitverlängerung neue Brennstäbe beschafft werden. Die Beschaffungszeit liege unter den aktuellen Bedingungen der Lieferketten bei 15 bis 18 Monaten, man könne sie also bis zum Winter 23/24 beschaffen, sagte Güldner.
Da Brennelemente in diesen Reaktoren für drei bis vier Jahre im Einsatz seien, müsse man die AKW dann allerdings sinnvollerweise auch so lange am Netz lassen. Eine Beschaffung neuer Brennstäbe würde den endgültigen Atomausstieg in Deutschland also möglicherweise erheblich verzögern. Auch die Personalplanung könnte die Betreiber vor Probleme stellen. Menschen haben sich neue Jobs gesucht oder den (eventuell vorzeitigen) Ruhestand vereinbart. Die Unternehmen müssten sie motivieren, länger zu arbeiten oder neues Personal suchen.
Mit Russland stünde ein großes Lieferland für Brennstäbe zudem nicht zur Verfügung. Es gibt jedoch Alternativen: Framatome aus Frankreich und Westinghouse aus den USA. Die Angaben zu den Lieferzeiten variieren. Brennstäbe müssen passgenau auf die jeweilige Anlage zugeschnitten sein.
Mehr Müll - und weniger Sicherheit?
Bei einem Brennelemente-Wechsel würde zudem mehr hoch radioaktiver Atommüll anfallen, für den es bisher kein Endlager gibt. Der Atomausstieg wurde wegen des Risikos eines großen Unfalls, der Freisetzung von Radioaktivität und der Unsicherheit um die Endlagerung von Atommüll beschlossen. All diese Gründe gegen die Atomkraft-Nutzung bestehen fort, die derzeitige Notlage überdeckt dies nur.
Zudem ist umstritten, wie sicher die Kraftwerke in Deutschland noch sind. Sie sind relativ alt und wurden in den Jahren vor der geplanten Abschaltung möglicherweise auf Verschleiß gefahren – die Betreiber bestreiten allerdings, dass es hier zusätzliche Gefahren gibt.
Das Bundesministerium für Wirtschaft und Klima hat das in seiner Stellungnahme im März 2022 anders eingeschätzt: "Ein Weiterbetrieb der drei verbliebenen AKW könnte, wenn überhaupt, nur erfolgen, wenn Abstriche bei der Sicherheit in Kauf genommen würden." Ein dann erfolgender Neustart der Atomkraftwerke müsse schließlich mit einer neu zusammengesetzten Mannschaft und nachgeholten Fachkundenachweisen erfolgen. Die organisatorischen und menschlichen Faktoren seien ganz entscheidend für die Sicherheit. Wegen solcher Umstände sei ein erhöhtes Risiko für den Betrieb wahrscheinlich.
Auch die Anti-Atom-Organisation „.ausgestrahlt“ meint: Eine Laufzeitverlängerung der drei noch aktiven Atomkraftwerke in Deutschland sei schon aus Sicherheitsgründen nicht vertretbar. Es bestehe der Verdacht, dass sich in den Werken unerkannte Risse gebildet haben. Sicherheitsprüfungen seien in den vergangenen Jahren nicht durchgeführt worden, sagte „.ausgestrahlt“-Sprecher Armin Simon im Dlf.
Könnte Atomkraft überhaupt einen großen Beitrag zur Energiesicherung leisten?
Die drei noch laufenden Reaktoren liefern etwa sechs Prozent des deutschen Strombedarfs. Das ist etwa die Hälfte des Stroms in Deutschland, der im vergangenen Jahr durch Gas erzeugt wurde (12,5 Prozent laut Bundeswirtschaftsministerium).
Das Bundeswirtschaftsministerium hat Mitte Juli einen zweiten Stresstest zur Sicherheit der Stromversorgung in Deutschland angekündigt. Er soll Klarheit bringen, ob die Versorgungssicherheit im Stromsektor und der sichere Betrieb des Netzes unter verschärften Annahmen gewährleistet sind. Die Frage eines Weiterbetriebs der drei Atomkraftwerke über das Jahresende hinaus soll dabei ergebnisoffen geprüft werden. Das Ministerium hat wiederholt darauf verwiesen, dass man ein Problem bei der Gas- und damit der Wärmeversorgung, nicht beim Strom habe.
Befürworter einer Laufzeitverlängerung betonen allerdings, dass künftig insgesamt mehr Strom gebraucht werde, weil die Wärmeversorgung teilweise strombetrieben funktionieren werde: "Viele Menschen steigen auf Radioatoren um, kaufen sich Heizstrahler, weil sie gasgeheizte Häuser haben", sagte der FDP-Politiker Michael Kruse im Dlf. "Das bedeutet, wir werden einen viel höheren Strombedarf haben im Winter. Und gerade wenn es zu einer Gasmangellage kommt, ist es unsere Verantwortung, dass nicht auch noch eine Strommangellage entsteht."
Die Grünen-Politikerin Katharina Dröge sagte im Dlf, der Anteil der Gaskraftwerke an der Stromproduktion lasse sich nicht durch Atomstrom ersetzen. Viele Gaskraftwerke seien relevant für die Netzstabilität und könnten nicht ohne Weiteres aus der Stromproduktion herausgenommen werden. Einige seien zudem in der Kraft-Wärme-Koppelung und lieferten auch Wärme. Die Bundesregierung tue aber bereits alles dafür, um zumindest die ungekoppelten Gaskraftwerke durch den Betrieb von Kohlekraftwerken zu ersetzen.
Der Vorteil der Kernkraftnutzung gegenüber einer stärkeren Kohlenutzung ist die günstige CO2-Bilanz, vergleichbar mit der von Wind- und Sonnenenergie. Aber Atomstrom gehört zur Grundlast, wird also kontinuierlich in etwa gleicher Menge erzeugt. Atomkraftwerke könnten somit auch rein technisch nicht das ersetzen, was Gaskraftwerke leisten, wie das Wirtschaftsministerium erläutert. Gas wird in der Spitzenlast verwendet, also bei Bedarf schnell ein- und wieder ausgeschaltet.
Wie positionieren sich die Parteien?
Um die Laufzeit der deutschen Atomkraftwerke zu verlängern, müsste das Atomgesetz geändert werden.
Bundeskanzler Olaf Scholz (SPD) will nun zunächst die Ergebnisse des laufenden zweiten Stresstests zur Sicherheit der Stromversorgung abwarten. Vor wenigen Wochen hatte er eine Debatte über einen längeren Betrieb der Kraftwerke noch abgelehnt. SPD-Chefin Saskia Esken sagte Ende Juli in der "Neuen Osnabrücker Zeitung", von einer Streckung der Laufzeiten halte sie nichts, denn sie bringe "netto überhaupt nicht mehr Energie".
Von den Grünen gibt es inzwischen keine definitive Absage mehr. Bundesumweltministerin Steffi Lemke (Grüne) schließt etwa einen kurzfristigen Weiterbetrieb des bayerischen Atomkraftwerks Isar 2 nicht aus. Sie sagte der "Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung", sollte der laufende Stresstest zur Energiesicherheit ergeben, "dass Bayern tatsächlich ein ernsthaftes Strom- bzw. Netzproblem haben könnte, dann werden wir diese Situation und die dann bestehenden Optionen bewerten". Eine Laufzeitverlängerung hatte Grünen-Chefin Ricarda Lang wenige Tage zuvor kategorisch ausgeschlossen. Der frühere Umweltminister Jürgen Trittin (Grüne) sprach sich auch gegen einen Streckbetrieb aus. Auch für einen solchen müsste zunächst das "Atomgesetz" geändert werden. Eine Neupositionierung der Grünen in dieser Frage bedürfe eines Parteitagsbeschlusses, sagte Trittin dem "Tagesspiegel".
Die FDP als dritte Partei der Ampelkoalition wirbt schon lange für eine verlängerte Nutzung der Atomenergie. FDP-Generalsekretär Bijan Djir-Sarai sagte im Interview mit Ippen Media: "Ich denke, es ist realistisch, dass uns die Kernkraft bis ins Jahr 2024 erhalten bleiben muss, damit wir die Stromversorgung sicherstellen können." Es gehe dabei aber explizit nur darum, "einen bestimmten Krisen-Zeitraum zu überbrücken".
Aus der Union gibt es klaren Zuspruch für eine Laufzeitverlängerung der Atomenergie, aber Absagen an einen Streckbetrieb. "Ein Streckbetrieb ist nicht das, was uns über das Jahr 2023 hinaus helfen wird", sagte CSU-Generalsekretär Martin Huber Ende Juli im Dlf-Interview der Woche. Es sei nicht davon auszugehen, dass die Energieknappheit im Frühjahr 2023 überwunden sei, darum fordere die CSU eine Laufzeitverlängerung von drei bis fünf Jahren. CDU-Chef Friedrich Merz sagte Mitte Juli, ein Streckbetrieb mache nur dann Sinn, wenn die gewonnene Zeit dazu genutzt werde, über den Winter neue Brennelemente für eine verlängerte Laufzeit zu beschaffen. "Technisch geht es, juristisch ist es möglich, politisch muss es gewollt werden", sagte Merz. "Ob mit oder ohne Streckbetrieb, ehrlich gesagt, ist mir wurscht. Die Dinger müssen weiter laufen."
Was sagen Energieexperten und Konzerne zur weiteren Nutzung der Kernenergie?
Frank Umbach, Forschungsdirektor am European Centre for Energy and Resource Security in London, sagte im Deutschlandfunk, dass man die Kernenergie wieder in Betracht ziehen müsste.
Auch der Chef des Instituts der deutschen Wirtschaft (IW), Michael Hüther, warb für die Atomkraft "als eine Art Rückversicherung für den Fall der Fälle, wenn wir sie brauchen". Er schlug in der "Passauer Neuen Presse" vor, die Laufzeit angesichts der derzeitigen Krisensituation "um ein Jahr" zu verlängern.
Dem schließt sich die Internationale Energieagentur (IEA) an: "Wenn es technisch möglich ist, sollte man sie weiter betreiben", sagte IEA-Chef Fatih Birol der Wochenzeitung "Die Zeit".
Dagegen sprach sich die Energie-Ökonomin des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung, Claudia Kemfert, in einem Statement dafür aus, statt Gas temporär mehr Kohle zu nutzen sowie den Ausbau erneuerbarer Energien zu beschleunigen und Energie einzusparen. Mit Blick auf die Klassifzierung von Erdgas und Kernkraft als grüne Technologien in der sogenannten EU-Taxonomie hatte sie die Atomkraft zuvor schon als "rückwärtsgewandte Technologie" bezeichnet.
Energiekonzerne zu Kernenergie
Die deutsche Energiewirtschaft hält derzeitige Überlegungen zur Verlängerung der Atomkraft für rückwärtsgewandt und fordert stattdessen im Angesicht drohender Versorgungsengpässe einen Fokus auf das Gassparen. Der Chef des Energiekonzerns RWE, Markus Krebber, sagte dem Sender "Welt", es könnten nicht einfach von irgendwoher die benötigten Brennstäbe für die AKW eingekauft werden, diese müssten „genau zum Reaktortyp passen“. Es gehe zudem nicht nur um die Höhe der Verfügbarkeit von Brennstäben, sondern auch um die „Frage der Sicherheitsarchitektur, der Sicherheitsüberprüfungen und wer übernimmt welche Risiken“.
RWE betreibt auch Gas- und Kohlekraftwerke in Deutschland, zählt nach eigenen Angaben weltweit zu den größten Anbietern von Erneuerbaren Energien und will eine Schlüsselrolle bei der Energiewende einnehmen.
Auch EON-Konzernchef Leonhard Birnbaum warb in einem Brief an die Beschäftigten der Atomtochter Preussenelektra um Verständnis, dass der Konzern seine Atommeiler nicht länger betreibt. EON betreibt aktuell noch Isar 2.
Aktuelle Studien zur Kernenergie
Eine Studie im Auftrag der Ökoenergiegenossenschaft Green Planet Energy kommt zu dem Schluss, dass eine Laufzeitverlängerung keine Hilfe in der Energiekrise ist. Längere Laufzeiten für Atomkraftwerke führten demnach dazu, dass deutlich häufiger Erneuerbare-Energien-Anlagen in der EU abgeschaltet werden und so erhebliche Ökostrommengen verloren gehen. "Die in der Studie aufgezeigte massive Vernichtung von wertvollem Ökostrom ist neben der Atommüll-Problematik und dem Störfall-Risiko ein weiterer Beleg dafür, dass Atomkraft niemals ‚nachhaltig‘ sein kann. Sie hilft uns in Europa weder beim Klimaschutz – noch dabei, wirklich unabhängig von fossilen Energie-Importen zu werden", lautet das Fazit von Sönke Tangermann, Vorstand beim Analyseinstitut Green Planet Energy, das die Studie durchgeführt hat.
Ein Gutachten des TÜV Süd, das vom bayerischen Umweltministerium in Auftrag gegeben wurde, soll laut dem bayerischen Ministerpräsidenten Markus Söder belegen, dass eine Verlängerung der Kernkraft technisch möglich sei. Demnach könnte Isar 2 bis zum Jahresende 100 Prozent Strom erzeugen – und mit den bestehenden Brennstäben dann noch mal sechs Monate lang insgesamt weitere fünf Terawattstunden, sagte Söder dem "Münchener Merkur".
Auch der Einsatz von kleinen modularen Reaktoren (SMR) gerät derzeit in die Schlagzeilen. Diese werden als die Zukunft der Kernenergie angepriesen. Die PNAS-Studie der University of Pennsylvania befasst sich mit dem Abfall, der bei SMR-Anlagen anfällt. Ein Ergebnis: Der Abfall dürfte – je nach Design – sehr viel schwieriger endzulagern sein. Und so kommt die Studie insgesamt zu dem Schluss, dass kleine modulare Reaktoren mit Blick auf die radioaktiven Abfälle keinen Fortschritt bringen würden.
Quellen: Georg Ehring, Ann-Kathrin Büüsker, Statista, Reuters, afp, dpa, BMWK, SMC, BMUV, og
(*) Anmerkung der Redaktion: Wir haben an dieser Stelle eine falsche Jahreszahl korrigiert