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Sexualisierte Gewalt
Missbrauchsbeauftragte Kerstin Claus: "Das Sportumfeld ist attraktiv für Täter"

Seit etwas mehr als 100 Tagen ist Kerstin Claus die Unabhängige Beauftragte der Bundessregierung für Fragen des sexuellen Kindesmissbrauchs. In ihrer Amtszeit will sie den Blick auch auf den Sport richten. Unter anderem fordert sie, die Finanzierung von Vereinen vom Kinderschutz abhängig zu machen.

Kerstin Claus im Gespräch mit Andrea Schültke |
Kerstin Claus, Missbrauchsbeauftragte der Bundesregierung.
Kerstin Claus, Missbrauchsbeauftragte der Bundesregierung. (Andrea Schültke)
Berlin, Kapelle-Ufer 2, mitten im Regierungsviertel. Hier ist das Büro von Kerstin Claus. Unter einem Dach mit dem Bundeskanzleramt, mit Blick auf Abgeordnetenhaus und Reichstag. Die räumliche Nähe macht sich auch inhaltlich bemerkbar: Die Missbrauchsbeauftragte sieht in der Ampelkoalition eine Chance, die Auseinandersetzung mit dem Thema sexueller Missbrauch voranzutreiben. Auch im Sport, dem Ort, an dem sich – abgesehen von der Schule – die meisten Kinder aufhalten: "Das, was mich dabei am meisten beschäftigt, ist, dass natürlich bestimmte Settings – und dazu gehört der Sport – so attraktiv für Täter, manchmal auch Täterinnen sind."

Spinnennetz von Abhängigkeiten

Die gehen strategisch vor, besonders im Sport: "Weil sie einen so verstricken in eine Mischung von Abhängigkeit, von Gesehen werden, von Zuwendung. Es ist so ein großes Netzwerk und in diese Manipulationen sind so viele eingebunden."
Als "Spinnennetz" beschreibt Claus diese Verstrickungen. Jeder Verein könne „ein kleines Königreich sein, in dem Täter dann entsprechend aktiv sein können und nicht identifiziert werden, auch wenn es tausende und einen Hinweis gibt.“
Und Studien im Leistungs- und Vereinssport belegen: Die Täter erreichen ihr Ziel.

Täterstrategien erkennen

Kerstin Claus hat selbst Missbrauch erlebt, im kirchlich-familiären Kontext. Auch deswegen fordert sie, Menschen einzubinden, die sexualisierte Gewalt und Missbrauch erfahren mussten: „Sie kennen Täter-Strategien. Und dieses Wissen ist für die Prävention, für die verschiedenen Settings, die ja im Sport spezifisch sind, von besonderer Bedeutung."
Allerdings hätten Betroffene durch den teilweise über Jahre andauernden Missbrauch einen Kontrollverlust erfahren. Das dürfe sich nicht wiederholen. Die Last der Aufarbeitung dürfe nicht nur von Betroffenen getragen werden.

Betroffene kein „Zugpferd“ für Aufarbeitung

„Betroffene gehen in Vorleistung, indem sie sprechen, um überhaupt das gesellschaftliche Bewusstsein erst mal dahin zu lenken, dass es hier ein Problem gibt. Sie hören immer wieder: 'Es ist wichtig, dass ihr sprecht, wir brauchen ihre Unterstützung‘. Das heißt, Betroffene müssen Zugpferd für Aufarbeitung sein. Das darf doch so nicht sein. Und das muss uns doch allen klar sein.“
Die Grundlage für Betroffenenbeteiligung müssten daher Strukturen sein, die unabhängig sind von der Institution, in der die Taten stattgefunden haben.
Im Sport könnte das ein unabhängiges „Zentrum für Safe Sport“ sein. Die Athletenvertretung „Athleten Deutschland“ hatte so eine Einrichtung in die Diskussion gebracht, die Ampel-Parteien haben sie im Koalitionsvertrag festgeschrieben.

Zentrum für Safe Sport „immens wichtig“

„Ich halte das für immens wichtig. Eine unabhängige Struktur wie dieses Zentrum Safe Sport, in dem Kompetenzen gebündelt werden, in dem aber auch klare Aufgaben zusammengefasst werden, die dann auch gehalten werden, ist sicher eine ganz wesentliche Weichenstellung.“
Ein einziges unabhängiges Zentrum dieser Art auf Bundesebene sei aber nicht ausreichend, ist Grünen-Mitglied Claus überzeugt. Der Bund könne die Aufarbeitungsprozesse nicht flächendeckend steuern.
Das Büro der Missbrauchsbeauftragten Kerstin Claus in Berlin.
Das Büro der Missbrauchsbeauftragten Kerstin Claus in Berlin. (Andrea Schültke)
Deshalb will die neue Missbrauchsbeauftragte die Bundesländer und Kommunen in die Pflicht nehmen, übergeordnete Strukturen aufzubauen: „Wir brauchen vor Ort – kommunalpolitisch, gesellschaftlich – ein größeres Bewusstsein, dass wir Netzwerke vor Ort brauchen, wo dann der Sport genauso dazugehört wie die Musikvereine und andere Strukturen, wo Kinder sich aufhalten. Dieses: Alleinig ein Verein, ein Landessportbund, ruft auf zur Beteiligung von Betroffenen – das ist in der Tat schwierig.

Unabhängige Betroffenenräte in den Ländern

Daher plädiert die Missbrauchsbeauftragte für unabhängige Betroffenenräte in den Ländern mit Beteiligten aus allen Tatkontexten – auch dem Sport. Diese Räte könnten dann Politik, Behörden und Verbände beraten, damit Missbrauchsfälle aufgearbeitet werden oder gar nicht erst passieren.
Zum Respekt vor Betroffenen gehört nach Ansicht von Kerstin Claus auch der Wille zur Wiedergutmachung. Daher müssten auch im Sport Entschädigungszahlungen genauso diskutiert werden wie in anderen Tatkontexten.
Der Deutsche Olympische Sportbund DOSB schließt so eine Wiedergutmachung bisher aus.

Wiedergutmachung diskutieren

Der Sport-Dachverband hatte ab 2016 auch kein Geld mehr für das Ergänzende Hilfesystem beim Bundesfamilienministerium zur Verfügung gestellt. Über dieses Hilfesystem können sich Betroffene von sexualisierter Gewalt Sachleistungen wie zum Beispiel Therapien zumindest teilweise bezahlen lassen.
24 Anträge aus dem Sport bleiben so jahrelang unbearbeitet.
2020 verkündet der DOSB dann, seine Zahlungen an das Ergänzende Hilfesystem wiederaufzunehmen. Es dauert aber noch mal ein Jahr, bis sich der Verband verpflichtet, wenigstens die Altanträge zu bearbeiten.
Jetzt erfuhr der DLF auf Nachfrage beim Bundesfamilienministerium: Seit Anfang Juni gibt eine Folgevereinbarung. Sie gilt für Unterstützungs-Anträge, die Betroffene seit dem 2. Oktober vergangenen Jahres gestellt haben und ist bis zum 31. Dezember 2023 befristet. Für diesen Zeitraum stellt der DOSB eine Summe von 400.000 € zur Verfügung.

Förderung an Kinderschutz koppeln

Kerstin Claus will Vereine und Verbände darüber hinaus verpflichten, wirksame Kinderschutzkonzepte auszuarbeiten. Ein Hebel dafür sei auch die Sportförderung. Wie schon auf Bundesebene im Leistungssport solle auch für die Kommunen gelten: Die Förderung von Vereinen ist an den Kinderschutz zu knüpfen. „Wo man sagt: Vereine, die kein Schutzkonzept haben, die sich nicht in spezifischen Bereichen engagieren, haben dann auch nicht den gleichen Zugang, sowohl was Gelder als auch was Sportstätten angeht.“
Viel Arbeit für alle Beteiligten. Aber es gehe um den Schutz von Kindern. Und da sollten doch auch im Sport alle das gleiche Ziel haben, so Kerstin Claus.
Hilfe für Opfer sexuellen Missbrauchs gibt es beim "Hilfetelefon sexueller Missbrauch" und bei "Anlauf gegen Gewalt".