Ketchup: Diese Melange aus Tomatenmark, Gewürzen, viel Zucker und anderen Inhaltsstoffen ist gleichermaßen ein rotes Tuch für die Verteidiger der deutschen Kultur gegen die transatlantische Zivilisation und eine „Red Flag“ für Gesundheitsapostel im Gefolge der esoterisch grundierten Ökobewegung, die auf den Schultern der Lebensreform-Bewegung mit ihrer Reformkost aus dem Reformhaus steht.
Aber selbst in der Populärkultur(-Forschung) ist Ketchup ein Paria. Allenfalls in den Fotografien von Martin Parr, dem aus Manchester stammenden Chronisten des britischen White Trash und der verblassenden Working-Class-Kultur, die sich in verrottenden Seebädern und verkommenen Funparks verschanzt hat, ist Ketchup (Gott sein Dank!) allgegenwärtig.
In der akademischen Welt dagegen taucht der Ketchup lediglich da auf, wo man ihn am wenigsten vermutet: in der Volkswirtschaftslehre.
Als „Ketchup-Inflation“ wird dort nämlich die berechtigte Sorge bezeichnet, dass eine immer weiter aufgeblähte Giralgeldmenge, die sich lange Zeit nicht in entsprechenden Preissteigerungsraten niederschlägt, wenn die Konjunktur sich dreht, plötzlich und auf einen Schlag zu einer unkontrollierten und unkontrollierbaren Inflation führt – gerade so wie Ketchup, der trotz Schütteln lange in der Flasche festsitzt, sich nach einem tipping point mit einem Mal ergießt und den Teller überflutet.
Analog taucht der metaphorische „Ketchup-Effekt“ auch sporadisch in den Politik- und Gesellschaftswissenschaften auf. Immer geht es dabei um das Prinzip „Erst zu wenig, dann zu viel“, das sich aus der spezifischen Viskosität ableitet, dem komplexen Wesen des Ketchups aber ansonsten nicht ansatzweise gerecht wird. Das gilt es zu ändern.
Holm Friebe, Jahrgang 1972, ist Gründer und Geschäftsführer der Zentralen Intelligenz Agentur. Als Autor hat er u.a. mit Sasha Lobo in „Wir nennen es Arbeit“ (2006) den Begriff der digitalen Bohème geprägt, mit „Die Stein-Strategie“ (2015) eine Anleitung zum Nichthandeln geschrieben und gemeinsam mit Detlef Gürtler in „Clusterfuck: Warum Katastrophen uns lieben“ (2018) darüber nachgedacht, wie es gelingen kann, weniger zu scheitern. Friebe hat das Kunstdiskursformat „NUN – Die Stunde der Kunst“ initiiert, die Kunstmarktaktion „Direkte Auktion“ erfunden und zuletzt mit „Works on Skin“ Kunsteditionen als Tätowierungen in den Kunstmarkt gebracht.
Rainer Kirberg, Jahrgang 1954, studierte Malerei, Film, Kunstgeschichte und Philosophie. Nach einer Reihe experimenteller und erzählerischer Kurzfilme schrieb und inszenierte er in den 1980er-Jahren Spielfilme für das ZDF. Neben seinen Filmen, bei denen er oft auch die Produktion, Ausstattung/Architektur, Kamera und Schnitt verantwortet, realisiert Kirberg seit den späten 1970ern – und verstärkt in den vergangenen Jahren – künstlerische Arbeiten, in denen er mit den Mitteln von Film, Rauminstallation und Performance operiert.
Was Sie schon immer über Ketchup wissen wollten steht nicht in Büchern. Der Ketchup ist selbst in der Populärkultur-Forschung ein Paria. Im Werk Dick Hebdiges, seines Zeichens Begründer der „Birmingham School”, die mittels materialistischer Alltagssoziologie den klandestinen Wissensformen der „working class” nachspürt: kein Wort zum Thema Ketchup. Allenfalls in den Fotografien von Martin Parr, dem aus Manchester stammenden Chronisten des britischen White Trash und der verblassenden Working-Class-Kultur, die sich in verrottenden Seebädern und verkommenen Funparks verschanzt hat, ist Ketchup allgegenwärtig.
Insofern gleicht der Versuch, dem kulturellen Phänomen Ketchup mit nachhaltigem und recyclebaren Besteck zu Leibe zu rücken (die ikonische Plastik-Pommes-Gabel ist EU-weit seit 2021 verboten), dem sprichwörtlichen Unterfangen, Pudding an die Wand nageln zu wollen. Das Banausische, nicht Satisfaktionsfähige ist dem Ketchup derart eingeschrieben, dass selbst die Apologeten der Populärkultur die Finger davon lassen.
In der akademischen Welt taucht der Ketchup lediglich da auf, wo man ihn am wenigsten vermutet: in der Volkswirtschaftslehre. Als „Ketchup-Inflation” wird dort die berechtigte Sorge bezeichnet, dass eine immer weiter aufgeblähte Giralgeldmenge, die sich lange Zeit nicht in entsprechenden Preissteigerungsraten niederschlägt, plötzlich, wenn die Konjunktur sich dreht, auf einen Schlag zu einer unkontrollierten und unkontrollierbaren Inflation führt. – Gerade so wie Ketchup, der trotz Schütteln lange in der Flasche festsitzt, sich nach einem Wendepunkt mit einem Mal ergießt und den Teller überflutet. Analog taucht der metaphorische „Ketchup-Effekt” auch sporadisch in den Politik- und Gesellschaftswissenschaften auf. Etwa wenn es um die Entwicklung der öffentlichen Überwachung geht. Immer geht es dabei um das Prinzip „Erst zu wenig, dann zu viel”.
Es scheint, als gelte ein unausgesprochenes Verdikt, das da lautet: Wer Ketchup kauft, gekauften Ketchup in Umlauf bringt oder konsumiert, entbirgt sich als Banause und darf mit Fug und Recht so genannt werden. Der Banause ist dem gängigen Verständnis nach „eine Person, der jegliches Interesse, Gefühl, Verständnis für geistige oder künstlerische Dinge fehlt, die nicht die Fähigkeit hat, in angemessener Weise mit Dingen umzugehen, die von Kennern geschätzt werden.”
Der Kulturwissenschaftler Egon Friedell problematisierte in seiner Kulturgeschichte Griechenlands schon in den 1930er Jahren das Pauschalurteil Banause:
„Der griechische Begriff des Banausen ist nicht ganz leicht zu umschreiben. Sein Gegensatz ist weder der Kopfarbeiter (denn unsere Gelehrten mit ihren Laboratorien und Archiven hätten für Banausen gegolten) noch der sogenannte ‚freie Beruf‘ (denn auch die meisten Künstler galten dafür), sondern als banausisch ist alles verrufen, was Zweck hat, was für Geld geschieht, was man machen muss, was deformiert, was übermäßig anstrengt.”
In diesem Sinne sind wir gern Banausen, wenn wir uns hier zweckmäßig und für Geld den Tort antun, den anti-ketchupistischen Kanon und Konsens eines versnobten Juste Milieus aufzuspießen wie weiland die Pommes mit der Plastikgabel. Mit Leslie Fiedler, neben Umberto Eco und Dick Hebdige einer der großen Vordenker des Schulterschlusses von U- und E-Kultur, von Profanem und Transzendenten, Heiligem und Banalem rufen wir hier in den Äther: „Cross the borders, close the gaps”, überschreitet die Grenzen, schließt die Gräben! Werdet Teil der Church of Ketchup!!
Roland Barthes geht in Mythen des Alltags den ersten Schritt in diese Richtung, wenn er über das französische Nationalgericht „Steak frites“ schreibt:
„Das Beefsteak gehört zur selben Blutmythologie wie der Wein. Es ist das Herz des Fleisches, es ist Fleisch im Reinzustand, und wer davon isst, nimmt Stierkräfte an. Ganz offensichtlich gewinnt das Beefsteak sein Prestige daraus, daß es fast roh ist: Das Blut ist sichtbar, natürlich, dicht, fest und schneidbar zugleich; man kann sich das antike Ambrosia gut als eine solche schwere Materie vorstellen, die unter den Zähnen nachgibt, jedoch gleichzeitig spüren läßt, wie sie ihre ursprüngliche Kraft und Wandlungsfähigkeit direkt ins menschliche Blut ausschüttet”.
Dass aber ein Drittes, Verbindendes zum Steak frites hinzutreten müsste – namentlich: der Ketchup – ist für Barthes ein Tertium non datur. Bis heute verachten die Franzosen den Ketchup wohl noch mehr als andere Europäer; in französischen Restaurants ist es ein Kampf, bis man zu einem Steak frites, ‚avec un geste méprisant‘, die rote Flasche auf den Tisch geknallt bekommt. Nein, in seinem Buch über die Mythen des Alltags bedenkt Roland Barthes den Mythos Ketchup natürlich mit keiner Silbe.
Dabei wird er von seinem ebenso klugen und überdies psychoanalytisch geschulten Denkerkollegen Jacques Lacan gewusst haben, dass aller guten Dinge eben doch drei sind. Lacan hat mit seiner berühmten Triade – das Reale, das Symbolische und das Imaginäre – ein Modell menschlichen Begehrens vorgelegt, in dessen Zentrum er, als Schnittmenge dieser drei Sphären, das mysteriöse „objet petit a“ lokalisiert. Dieses ‚Objekt klein a‘ bestimmt er als das Bindeglied zwischen dem begehrenden Subjekt und dem Gegenstand seines Begehrens. Erst durch das „objet petit a“ wird, mit anderen Worten, das Objekt für das Subjekt überhaupt begehrenswert. Es liefert ihm gewissermaßen den Schlüssel zu seinem Begehren – ganz so, wie die hingeknallte Flasche Ketchup dem Gourmet erst das mythische Ambrosia aufschließt, die Speise der Götter, die im Blut seines Beefsteaks schlummert, vorausgesetzt, es wird ihm englisch oder rare serviert.
Sollte unsere Metapher an dieser Stelle überstrapaziert erscheinen, möchten wir daran erinnern, dass schon Alfred Hitchcock – als Entdecker des Suspense und Spezialist fürs Abgründige eine Autorität sui generis – von der Affinität zwischen Blut und Ketchup wusste. Einer streitbaren Affinität allerdings, wie sich herausstellte, als die rote Sauce in den sieben Drehtagen, die die Badezimmerszene in Psycho für sich beanspruchte, ihren Dienst versagte: auf dem Weg in den Abfluss löste sie sich nicht auf. Man griff schließlich zu Schokoladensirup. Da man aus Budgetgründen schwarzweiß drehte, war der Einwand gegen die Farbe gegenstandslos.
Sir Alfreds Erfahrung hielt indes Generationen nachfolgender B-Movie-Regisseure nicht davon ab, zum Ketchup zu greifen, wenn es um Blutbäder und Kettensägenmassaker ging, und die Ignoranz des feinen Unterschieds kommt selbst noch in „Pulp“-Literaturtiteln zum Ausdruck wie etwa dem von Joyce Burditts Hollywood-Krimi-Bestseller Blut ist dicker als Ketchup: Genau umgekehrt verhält es sich.
Das fleischliche Herz des Ketchups ist „natürlich“ die Tomate. Die war keineswegs immer schon rot. Als der spanische Eroberer Hernán Cortés im Jahr des Herrn 1519 als erster Europäer vor den Plantagen der Maya stand, sah er kirschgroße Früchte auch in goldgelber Farbe. Die „Tomatl“, die den mesoamerikanischen Kulturvölkern vor allem als Medizin diente, war eher ein Zufallsfund unter den Beutegütern, die der spanische Eroberer für die Krone sicherte. Vergeblich berichtete der fromme Missionar Bartolomé de Las Casas dem spanischen König Carlos Primero – als Karl der Fünfte auch Kaiser des Heiligen Römischen Reichs deutscher Nation – von den beispiellosen Gräueltaten seiner Landsleute: Das Blut der Neuen Welt war der Tomate somit eingeschrieben, noch bevor sie ihren Siegeszug um den Globus antrat. Sogar der Heilige Stuhl war entzückt: Seine Schäfchen nahmen das Fleisch der Tomate willig als Ersatz für die tierische Nahrung an, die in der Fastenzeit verpönt war.
Doch es bedurfte eines weiteren großen Blutzolls, bis die Tomate schließlich in konservierter Form der Menschheit zugänglich wurde: der Napoleonischen Kriege. Während sich Soldaten in früheren Feldzügen durch Raub und Plünderung auf den Beinen hielten – „Der Krieg ernährt den Krieg“ –, verlangten die Hunderttausende, die der korsischstämmige Potentat auf dem Schlachtfeld befehligte, ein Ende dieser freibeuterischen Selbstversorgung: Eine ordentliche Truppenverpflegung musste her. Zu diesem Zweck warb der Kaiser einen Preis für die Haltbarmachung von Lebensmitteln aus und es war der Zuckerbäcker Nicolas François Appert, der die 12.000 Goldfrancs für sein Verfahren einstrich – im gleichen Jahr, in dem der britische Kaufmann Peter Durand die Konservendose erfand. Und so war, nachdem die Unternehmer Bryan Donkin und John Hall 1813 die erste Konservenfabrik gegründet hatten, der Moment gekommen: Die neue Technik wanderte von den Kriegsschauplätzen in die Zivilgesellschaft.
Es wurde aber auch Zeit. Denn mit dem Anbruch der Industrialisierung und der Geburt der modernen Arbeiterklasse verlangte der Fortschritt nach dem, was wir heute Convenience Food nennen. In einer Gesellschaft, die Geld nach seinem Vermehrungspotenzial und Zeit nach ihrer Knappheit bemisst, bleibt wenig Raum für die Küchenkultur. So wurden Liebigs Fleischextrakt, Nestlés Babynahrung und der Maggi-Würfel als Segen für die Arbeiter gepriesen, das Einwecken zur Hausfrauenroutine und die Konservendose zum Dauergast in der Speisekammer.
Mit dem Fabrikanten Francesco Cirio erreichte die Praxis des Eindosens auch die Tomate. Und so ist anzunehmen, dass in der 20 Jahre später einsetzenden italienischen Auswanderungswelle die ersten Konserven, auf der Schiffsroute Genua‑Neapel-New York, auch die USA erreichten. Oder überhaupt: die ersten Speisetomaten. Denn es ist als historisches Kuriosum zu verzeichnen, dass Neuengland den europäischen Hype um die Tomate boykottierte, obgleich sie, einer Aufzeichnung Thomas Jeffersons zufolge, bereits 1782 in Virginia angebaut wurde. Der Ruch, ein Aphrodisiakum zu sein, machte sie den Puritanern suspekt, wohingegen sie sich unter ihrem sexy französischen Namen – „Pomme d’Amour“ – in New Orleans längst lebhaften Zuspruchs erfreute. Doch die USA wären nicht, um es mit Heinrich Heine zu sagen, der „große Freiheitsstall, der bewohnt von Gleichheitsflegeln“, hätten nicht Tomatendosen bald die Regale der New Yorker Alimentari in den 17 Blocks rund um die Mulberry Street gefüllt, die fortan Little Italy hießen.
Und doch ist es wohl eher die französische Spur und nicht die italienische, die uns zu dem eigentlichen Produkt führt, mit dem die Kultur der Tomate ihren – wie wir meinen – zivilisatorischen Gipfelpunkt erklimmt. Denn unter dem Namen „Love Apple“ kannte auch der amerikanische Gartenbauexperte, Wissenschaftler und Mediziner James Mease die „Pomme d’Amour“, und Dr. Mease gilt als originärer Erfinder unseres Ketchups. Man nimmt an, dass er die Tomate durch französische Emigranten aus Haiti kennenlernte, die vor den revolutionären „schwarzen Jakobinern“ von der Karibikinsel geflohen waren und in Philadelphia eine neue Heimat fanden. Ironie der Geschichte: Aus den Breitengraden ihres Ursprungs, befeuert vom Furor gegen die westlichen Kolonialherren, kam die Tomate direkt in die Hände unseres Ketchup‑Erfinders.
Ketchup wäre aber nicht Ketchup ohne eine Inspiration, die uns auf die andere Seite des Globus führt – und hier offenbart sich das Geheimnis seines Namens. Denn schon im 17. Jahrhundert kannte man in China eine Würzsauce, „kê-tsiap". Hergestellt aus fermentiertem Fisch, war sie haltbar und überstand die Seereise nach Europa. Die Engländer, offen für alles Exotische, entwickelten bald ihre eigenen Varianten des, wie sie es nannten, Catsup. Austern kamen zum Einsatz oder Sardellen wie beim Prince of Wales-Catsup, aber auch fischfreie Varianten waren in Mode, namentlich Jane Austens Liebling aus Pilzen. Von hier war es nicht weit zur Tomate, mit der das saucenvernarrte Königreich ebenfalls experimentierte – ohne aber die rote Frucht mit dem Catsup zusammenzubringen. Diese Synthese wurde das Privileg des Doktors aus Philadelphia, James Mease. Inspiriert von einem populären englischen Kochbuch – Maria Eliza Rundells A New System of Domestic Cookery – schloss er die Ehe zwischen Catsup und Tomatensaft, und so war im Jahr 1812 der Ketchup geboren.
Zur Freude der Puritaner verkaufte Dr. Mease sein Produkt aber nur an Apotheken, als Mittel gegen Diarrhö – auch das macht ihn seinem Zwilling und Kulturfolger ähnlich: der Coca-Cola, die von einem Apotheker erfunden und ebenfalls in einer pharmazeutischen Fachhandlung verkauft wurde. Man wusste, dass das Nachtschattengewächs Tomate giftig war. Doch die auf Gewürzen und Brandy basierende Rezeptur des Doktors aus Philadelphia schmeckte wohl so gut, dass sie Nachahmer fand, und es stellte sich heraus, dass die Frucht in dieser prozessierten Form unbedenklich zu verzehren war. Jedenfalls verbreitete sich der geliebte Ketchup über alle Bundesstaaten – bis schließlich, ein halbes Jahrhundert später, die erste Flasche Heinz Tomato Ketchup auf den Markt kam.
Wir wollen und dürfen hier keine Schleichwerbung machen, aber die Marke Heinz ist heute noch und auf unabsehbare Zeit der weltweite Goldstandard in Sachen Ketchup – fast ein Synonym für den roten Saft wie hierzulande Tempo für Papiertaschentücher und googeln für die Internetsuche.
Die bis heute einsam ragende Alleinstellungsposition im Ketchup-Markt verdankt Heinz einer Reihe von Innovationen, die sein visionärer Gründer Henry J. Heinz schon um die Wende zum 20. Jahrhundert herum auf dem Schirm hatte und in sein Produkt und seine Produktion einbaute. Indem er seine Erzeugnisse in klaren Glasbehältern verkaufte, wo andere sie noch in getönten Flaschen oder Konservenbüchsen versteckten, kann er als Erfinder des Prinzips „What you see is what you get” gelten: Qualität, die sich nicht zu verstecken braucht, war sein Anspruch, „Quality is to a product what character is to a man“ war sein Credo. Dafür ging er die Extrameile und spendierte seinen Arbeitern, um maximale Hygiene in der Produktion bemüht, luxuriöse Bäder mit Marmorwaschbecken und fließend heißem Wasser sowie eine wöchentliche Maniküre.
Für seinen Ketchup verwendete Heinz nur vollreife Tomaten mit maximal konservierendem Pektin-Gehalt und gab, anders als seine Vorgänger, Weinessig und Zucker hinzu. So konnte er – und das war nun wirklich seiner Zeit voraus – sein Produkt ab 1906 ohne Zugabe von Konservierungsstoffen anbieten. Das Heinz‑Reinheitsgebot lautet, so steht es bis heute nahezu unverändert auf jeder Flasche: Tomaten (174 g pro 100 g), Branntweinessig, Zucker, Salz, Gewürz- und Kräuterextrakte. Wobei die genaue Rezeptur angeblich nur acht Menschen kennen. Irgendwann wurde ein Teil des Zuckers gegen Stevia, ein natürliches Süßungsmittel, ausgetauscht. Aber im Wesentlichen gilt für Heinz Tomatenketchup, was die unter dem Label „Amish Futurist” firmierende Alexa Clay auf der Internetkonferenz re:publica 2014 unter dem Titel „The Power of Buttermilk” deklamierte: „You can’t improve buttermilk!” Buttermilch ist gut so wie sie ist, manche Dinge kann man eben nicht verbessern, ohne sie zu verschlechtern, also lasst die Finger davon!
Die Marke Heinz, inzwischen Teil der fusionierten Heinz Kraft Company, macht genau das. Der Grund dafür, dass der Investor Warren Buffet, das „Orakel von Omaha”, 2019 das Portfolio seines legendär renditestarken Fonds Berkshire Hathaway umschichtete, Tech-Aktien verkaufte und als Großaktionär bei Kraft Heinz einstieg. Auch nach einem Kurseinbruch hält Buffet daran fest, weil er an das langfristige Wachstumspotenzial und die Krisenfestigkeit von Ketchup glaubt. Buffets „frugale” Investmentstrategie zielt auf konservative Consumer-Werte, so hält er auch schon lange große Anteile von Coca-Cola. „Kaufe nur die Unternehmen, deren Geschäftsmodell du verstehst!“ heißt sein Credo. Und was gibt es an Cola und Ketchup nicht zu verstehen?
Als wenn es des Beweises noch bedürfte: Beim großen Ketchup-Testing der New York Times Anfang November 2024 setzte sich unter 13 Mitbewerbern, darunter zwei weitere Heinz-Sorten, der Original Heinz Tomato Ketchup unaufhaltsam an die Spitze. Das Urteil der Tester:
„Er beeindruckte uns mit seiner Ausgewogenheit von Süße, Säure und Geschmack. (...) Auch das Aussehen und die Textur waren genau richtig.“
Der Homerun von Heinz in der Kategorie „best classic ketchup” hat wohl auch damit zu tun, dass unter den Testern 27 Kinder waren, deren „Popular vote” eindeutig ausfiel. Kinder sind konservativ und unbelehrbar wie die Mehrheit der US‑Amerikaner, die – zum großen Unverständnis der Ost- und Westküste wie auch der Europäer – gerade zum zweiten Mal Donald Trump zu ihrem Präsidenten gewählt haben.
Der amerikanische Traum und der amerikanische Alptraum wohnen bekanntlich nah beieinander, und in diesem Fall haben sie sogar „transatlantische Luftwurzeln” – wie der Musiker und Autor Thomas Meinecke es nennt –, die bis in eine deutsche Kleinstadt reichen. Nennen wir es biografische Ironie: Die Vorfahren von Donald J. Trump – der Verkörperung des amerikanischen Vulgärkapitalismus – wie auch die von Henry J. Heinz – des Auswanderer-Sohns aus der Arbeiterklasse, der es zum prototypisch fürsorglichen Unternehmer wie aus dem Bilderbuch des Rheinischen Kapitalismus brachte – stammen aus dem pfälzischen Flecken Kallstadt. Und noch etwas verbindet diese Männer: ihre Liebe zum Ketchup. Im Falle Trumps bezeugt dies ein Wutausbruch des damals gerade Abgewählten, der über der bröckelnden Unterstützung seines Generalstaatsanwalts William Barr seinen Burger-Teller malerisch gegen die Wand pfefferte und die teure Tapete mit der roten Sauce besudelte. Ketchup hat also vielerlei Nutzen, und die Spur unserer legendären Sauce reicht vom Oval Office bis in die Kunstwelt.
Pop-Art heißt nicht deshalb Pop-Art, weil sie populär ist, sondern weil 1956 in der Ausstellung This is Tomorrow eine kleine Collage von Richard Hamilton hing, auf der ein nackter Mann einen Lolly hält, auf dem „POP” steht. Ein Snob-Kritiker tat die ganze Schau ab mit „It’s just Pop-Art”, und das Label war in der Welt. Dennoch lässt sich anhand der Frage „Wie hältst du es mit dem Pop?” aufschlüsseln, warum Ketchup als Emblem der amerikanischen Populärkultur hierzulande in bildungsbürgerlichen Kreisen so unpopulär ist. Genauer gesagt: am Antagonismus von Andy Warhol und Joseph Beuys, die, bei allen Gegensätzen, ein Zug zum Populären verbindet. „Populär” kommt nämlich in zwei Geschmacksrichtungen: demokratisch und populistisch. Manchmal ist es schwierig, sie auf der Zunge auseinanderzuhalten.
Auf der einen Seite Andy Warhol. Als Andrew Warhola Jr. in die ärmlichen Verhältnisse einer Immigrantenfamilie aus den Karpaten hineingeboren, war er zeitlebens Fan von Massenprodukten: Fast Food, Suppendosen, Waschmittel, Coca‑Cola – und natürlich Ketchup. Zu seinen ganz frühen Siebdruck-Arbeiten zählt die „Heinz Tomato Ketchup Box”, wie ihre berühmte Schwester, die „Brillo Box”, eine Holzkiste, die originalgetreu die Umverpackung von Heinz-Ketchup-Flaschen nachahmt. Erstmals gezeigt 1964 in der Gruppenausstellung „Boxes” in der Dawn Gallery in Los Angeles, waren Warhols Kisten eine echte Sensation und stellten die Werke von Duchamp, Louise Nevelson und Robert Rauschenberg in den Schatten. „Mit seinen Boxen wollte er (...) eine demokratischere Form der Kunst schaffen, mit der sich jeder identifizieren kann”, heißt es im Auktionskatalog von Christie’s, wo 2022 eine von Warhols Heinz-Boxen für eine halbe Million US-Dollar versteigert wurde.
Auf YouTube findet man den Schnipsel „Andy Warhol eating a Hamburger”. In 4 Minuten 27 Sekunden sieht man Warhol in einem neutralen Studio, wie er einen Hamburger aus einer Burger-King-Tüte holt und in aller Ruhe aufisst. Die Szene stammt aus dem epischen Film-Panorama 66 Scenes from America, das der dänische Filmemacher Jørgen Leth 1982 realisierte. Er trat an sein Sujet heran, weil für ihn in diesem szenischen Arrangement „die künstlerische Essenz von Andy Warhol in seiner ganzen Schlichtheit” steckt. Andy sah das genauso, machte gern mit, hätte nur eigentlich lieber einen McDonald’s-Burger gehabt. Das Bemerkenswerte aber ist, dass er vor dem Verzehr eine Heinz-Flasche öffnet und dem klassischen Burger eine große Portion Ketchup hinzufügt. Man kann das lesen als eine Feier des Gleichmacherischen, das in allen Produkten der US‑amerikanischen Massenkultur steckt. An anderer Stelle lässt sich Warhol hierzu aus: „Das Großartige an diesem Land ist, dass in Amerika traditionell die reichsten Konsumenten im Wesentlichen das Gleiche kaufen wie die ärmsten. Der Präsident trinkt Cola, Liz Taylor trinkt Cola, und Sie können auch Cola trinken. Eine Cola ist eine Cola, und für kein Geld der Welt bekommst du eine bessere Cola als die, die der Penner an der Ecke trinkt. Alle Colas sind gleich und alle Colas sind gut. Liz Taylor weiß es, der Präsident weiß es, und du weißt es.”
Auf der anderen Seite – diesseits des Atlantiks, in Good old Germany – steht derweil ein Künstler auf dem Gipfel seiner Popularität, den man mit dem Soziologen Stan Cohen als „Folk Devil” bezeichnen könnte: eine polarisierende Figur, die eine sektenhafte Gefolgschaft hinter sich bringt, indem sie Sitten und Geschmack der Mehrheit herausfordert – und dadurch Berühmtheit erlangt. Wie die Inflationsheiligen und Kohlrabi-Apostel der 1920er konnte Joseph Beuys in den 1970ern auf einer Welle des sich wandelnden Zeitgeistes surfen und die Energien gesellschaftlicher Reibungen und Umbrüche für die Selbststilisierung als Seher und scheinheiliger Charismatiker bündeln.
Für die etwas ratlos herumschlingernde Kunst im westdeutschen Nachkriegs- und Wirtschaftswunder-Deutschland kam ein schillernder Guru mit ikonischem Äußeren wie gerufen. Die Kleinbürger und Spießer bekamen ihr Fett weg. Sie wurden luftschnappend Zeugen, wie Margarine-verschmierte Badewannen und unförmige Filzanzüge in die Museen einzogen. Das bildungsbürgerlich-linksliberale Milieu dagegen bekam Honig ums Maul geschmiert: Jeder sei potenziell ein Künstler. Wenn sie über das Stöckchen sprangen, dass Hässlich das neue Schön, Fett und Filz die neue Kunst seien, und hinter den endlosen Predigten ihres Idols eine gesellschaftskritische Weisheit schlummern sahen, durften sie mitspielen im elitären Distinktions-Memory: Weil Ihr das nicht versteht, ist es Kunst, per se progressiv und irgendwie auch links!
Wie viele heidnisch-völkische und esoterisch-antiaufklärerische Elemente hierbei eingeschmuggelt wurden, hat man geflissentlich übersehen. Beuys war – inspiriert durch seinen Lehrer Ewald Mataré – Hardcore-Antroposoph; Alle seine Themen und Ideen leiten sich in direkter Linie von Rudolf Steiner ab.
Wo Andy Warhol instinktiver Demokrat war, war Joseph Beuys in der Wolle gefärbter Populist. Was uns zum deutsch-amerikanischen Verhältnis bringt – und zu unserer These, dass ein Gutteil der irrationalen Ablehnung des Ketchups seine Wurzeln in einem europäischen und spezifisch deutschen Anti-Amerikanismus hat.
Da war zum einen der Vietnamkrieg und mit ihm die 68er-Protestwelle, in der eine immer schon latente Amerikafeindlichkeit fröhliche Urstände feierte. Alltagskulturell machte sie sich am US-„Konsumimperialismus” fest. Der französische Kultusminister Jack Lang hat den Kampfbegriff der „Coca-Kolonialisierung” geprägt. Die populären Symbole der Freiheit, die die Amerikaner nach dem Zweiten Weltkrieg nach Europa brachten, zeigten plötzlich ihre Kehrseite. Beuys spiegelte das wider und wollte ums Verrecken nicht in die USA reisen. Als das Guggenheim Museum ihm 1979 eine große Schau widmete, musste ihn sein Galerist René Block mit vorgehaltener Mistgabel dazu zwingen. Beuys ließ sich schließlich, in Filz gewickelt, mit einem Krankenwagen in die Galerie fahren, redete mit niemandem und verbrachte zwei Wochen in einem Käfig zusammen mit einem Kojoten, der das unverfälschte, ursprüngliche Amerika verkörpern sollte. Hauptsache: nicht mit den heutigen Amerikanern und Amerikanerinnen in Kontakt kommen!
Einer der wenigen Artgenossen, die Beuys in New York traf, war Andy Warhol. Aus der Begegnung entstand das ikonische Beuys-Porträt, das viele zu der Fantasie einer Künstlerfreundschaft zwischen beiden verleitete. In Wahrheit hatten sie sich wenig zu sagen.
Beuys war gerade neu auf den Ökotrip gekommen, wollte Die Grünen hijacken, auf deren Ticket in den Bundestag einziehen. Als früher Protagonist des ökologischen Turn konnte er mit Cola und Ketchup nichts und mit Fast Food nur in der Not etwas anfangen, wie der Schnappschuss von einem Ausstellungsaufbau in München zeigt, auf dem er ein halbes Hähnchen vom Wienerwald verzehrt. Nein, der Zeitgeist war der roten Soße nicht gewogen.
Die bevorzugte Nährflüssigkeit in Beuys’ Werk ist folglich nicht Ketchup, auch nicht, wie man vermuten könnte, Düsseldorfer Löwensenf, sondern: Honig. Was für Warhol die Heinz-Ketchup-Box ist für Beuys ein Readymade-Multiple mit dem Titel „Gib mir Honig”: ein signierter Blecheimer mit einem Kilo Waldhonig, 1979 von Klaus Staeck in einer Auflage von 12 herausgegeben. Zwei Jahre zuvor, auf der documenta 1977, hatte Beuys schon seine „Honigpumpe” installiert und ließ 100 Tage lang Bienenhonig durch ein Röhrensystem im Kasseler Fridericianum pumpen: ein „Blutstrom”, der die Gesellschaft mit „wertvollen Nährstoffen” versorgen sollte. Blut also auch hier. Ketchup vs. Honig – sinnfälliger könnte man den Kulturkonflikt nicht fassen: Hier das schon in seiner Entstehungsgeschichte trans- und interkulturell hybride, industriell hergestellte moderne Markenprodukt, dort die an deutscher Scholle und deutschem Wald klebende Ur- und Natursubstanz. Ketchup konsumiert man an demokratischen, öffentlichen, inklusiven urbanen Orten wie Diner oder Pommesbuden. Dem Honig haftet dagegen etwas Ländliches, Häusliches und Biedermeierliches an. Wenn auch nicht im realen Blütenhonig, doch im Symbol des Honigs steckt etwas Reaktionäres. Durch die Hintertür findet es Eingang in die grünen Milieus. Wo gentechnikfreier Bio-Honig ist, da darf kein Ketchup sein (nicht einmal der aus dem Bio-Markt). Dass Beuys und die völkisch grundierte Anthroposophie in weiten Kreisen des Bildungsbürgertums bis heute unkritisch gesehen werden, erklärt, warum dieses Juste Milieu Ketchup so kritisch sieht.
Höchste Zeit, vom Olymp des Symbolischen und Mythologischen in die Ebene der Realien hinabzusteigen, die Nebel der Anti-Aufklärung beiseite zu schieben, den Aberglauben abzuräumen und die kniesehnenreflexhaft vorgebrachten Abwehrzaubersprüche gegen den Ketchup zu entkräften: Ketchup enthält keine Konservierungsstoffe, keine Transfette, kein Palmöl, lediglich Zucker. Das ist nicht wegzuleugnen, aber viele Dinge, die als gesund gelten, enthalten Zucker. Ein halber Liter Ketchup enthält 37 Würfel Zucker, ja gut. Aber wer trinkt schon einen halben Liter Ketchup. Ein halber Liter Orangensaft „ohne Zuckerzusatz” dagegen enthält 14 Würfel Zucker, und niemand hat bisher nachgewiesen, dass Fruchtzucker gesünder ist als Industriezucker. 500 Gramm Honig enthalten übrigens 410 Gramm Zucker, das wären mehr als 80 Würfelzucker, nur mal so zum Vergleich. Hinzu kommt, dass getrocknete und eingekochte Tomaten, Tomatenmark und eben auch Ketchup sehr viel mehr Lycopin enthalten als frische Tomaten. Lycopin ist ein Radikalfänger, ein hochwirksames Antioxidans, das die natürliche Regeneration der Zellen bewahrt und sie vor Schäden schützt. Somit entschleunigt Lycopin die Hautalterung. Ketchup kann – und wird, wenn sich die Nebel gelichtet haben – als das neue Superfood gelten. Die Church of Ketchup fordert, dass der Nutriscore von Ketchup von D auf B angehoben wird. Unser täglich Umami gib uns heute! Amen!