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Ketil Björnstad: „Die Welt, die meine war. Die sechziger Jahre“
Sich selbst erschreiben

Der norwegische Schriftsteller und Pianist Ketil Björnstad hat den ersten Band eines höchst ambitionierten autobiographischen Großprojekts vorgelegt. Sechs weitere, jeweils ein Lebensjahrzehnt umspannende Bände sollen folgen.

Von Peter Henning |
Ketil Bjørnstad und sein Roman „Die Welt, die meine war. Die sechziger Jahre“
Ketil Bjørnstad und sein Roman „Die Welt, die meine war. Die sechziger Jahre“ (Buchcover Osburg Verlag / Autorenportrait dpa / NTB Scanpix / Hansen Stig B)
In einem Gespräch mit dem Autor dieses Beitrags in Oslo im Jahr 2015 bekannte der norwegische Schriftsteller und Pianist Ketil Björnstad kurz nach Fertigstellung des ersten Bandes seines auf bislang sieben Bände veranschlagten Riesenromanwerks "Die Welt, die meine war":
"Im Grunde habe ich etwas geschrieben, das schon lange anvisiert war, nämlich die Saga meines Lebens - ausgehend von den Fragenstellungen: Wer war ich? Und was war das, was ich heute mein Leben nenne, im Spiegel der Jahrzehnte mit all den politisch-historischen Ereignissen und Verwerfungen? Wie wurde ich zu dem, der ich heute bin?"
Nun, drei Jahre später, liegt der Auftaktband "Die sechziger Jahre" in einer schönen, gemeinsam von Gabriele Haefs, Kersten Reimers und Andreas Brunstermann besorgten deutschen Übertragung vor. Und er markiert den Auftakt zu einem wahrhaft ambitionierten Erzählvorhaben. Denn Björnstad hat sich viel vorgenommen. In einer raumgreifenden, achttausend Seiten umfassenden Roman-Saga versucht er die Saga seines bislang gelebten Lebens zu schreiben. Jedem Jahrzehnt seines Lebens ist ein Band gewidmet – beginnend mit den nun vorliegenden Sechzigerjahren.
"Das hier sind die Sechziger Jahre. Das gelbe Haus im Melumvei, in dem ich aufgewachsen bin, das Jahrzehnt, in dem ich mich langsam von meiner Kindheit losriss. Mein eigener kleiner Kampf um das Dasein, während die großen Ereignisse ihren Lauf nahmen: Der Tod von Camus, die Hinrichtung von Chessmann, der U-2-Skandal, die Kuba-Krise, die Beatles, der Algerienkrieg, Marilyn Monroe, die Kennedy-Morde, der Mord an Martin Luther King, die Rassenunruhen in den USA, der Granatenmann hier in Norwegen, die Hippiezeit, der Vietnamkrieg, alle Filme, die Musik, die Bücher. Die Grenzen, die gesprengt wurden, und die indirekt dafür sorgten, dass ich nach Paris fuhr auf der Suche nach der Liebe und nach allem, was nicht von mir erwartet wurde."
Der Kampf ums Dasein
Eingewoben in all die in seiner Vorbemerkung kurz angeblendeten, und im Nachfolgenden geschickt montiert an uns vorüberflimmernden historischen Ereignisse ist die Geschichte seiner eigenen Familie. Im Oslo der beginnenden Sechzigerjahre suchen deren Mitglieder nach der Aufarbeitung der deutschen Besatzung, dem Aufschwung der Sozialdemokratie und den ersten Erdöl-Funden in der Nordsee ihren Platz in der sich neu ausrichtenden norwegischen Gesellschaft. Im Zentrum aber steht der Autor selbst – ein im Rückblick schrittweise vor dem Auge des Leser erwachendes Künstler-Ich, das zwischen politisch aktivem Vater und einer musikalischen Mutter zu ahnen beginnt, wohin sein Weg es dereinst führen wird; nämlich in ein Leben, das einmal ganz im Zeichen der Musik und der Literatur stehen wird, obgleich es zunächst vehement gegen den von den Eltern für ihn vorbestimmten Weg als Musiker rebelliert. Sein Talent ist übersehbar. 1958 bekommt der junge Ketil seinen ersten eigenen Flügel – und schon bald darauf gewinnt er seinen ersten "Klavierwettbewerb der Jugend".
"'Sie dir nur all die Pianisten an, die sich verstellen', sagt sie. 'Die glauben, ihre Gefühle säßen im Gesicht oder in sein Armen. Mach sowas ja nicht!' Hatte ich deshalb gewonnen? Weil sie, meine Lehrerin Amalie, es geschafft hatte, mir Eitelkeit und schlechte Gewohnheiten auszutreiben? Die Eitelkeit hatte sich doch schon längst in Verzweiflung gewandelt, als ich da mit meinen hundertzwanzig Kilo saß."
Langsam bekommt der lange Zeit übergewichtige, sich selbst dafür verachtende Junge ein Gefühl dafür, was trotzdem möglich ist. Er begreift, dass es nur eines für ihn gibt, will er Erfolg haben, nämlich: "Keine Ablenkungen vom eigentlichen Ausdruck. Alle Konzentration auf mich selbst!"
Jahre später, längst weltweit gefeierter Pianist und Verfasser existenzialistischer Romane, die allesamt mehr oder weniger an den Rückseiten seiner eigenen Biographie entlang erzählt sind, wird er in einem Interview dazu sagen:
"Das Ich ist das einzige Thema des Schriftstellers, und auch des Pianisten. Das Ich mit seinen Problemen, Möglichkeiten, Vorstellungen. Ich glaube, jedes Werk ist die unausgesprochene Selbstsuche. Und das, was dem Leser dabei wie Egoismus erscheint, ist eigentlich eine Form des Zugeständnisses, der Barmherzigkeit. Denn in den persönlichen Miseren des Autors erkennen sich die anderen im Bestfall wieder!"
Von Aufbrüchen und Sackgassen
"Das Leben schreiben" nennt der seit Ende der Siebzierjahre in Paris lebende Schweizer Schriftsteller Paul Nizon das, was er seit Erscheinen seines Prosadebüts "Die gleitenden Plätze" von 1959 bis heute schriftstellerisch durchexerziert: ein radikal-autobiographisches, ausnahmslos um das eigene Ich kreisendes Schreiben, das Selbsterlebtes immer neu in die eigene Biographie abbildende, und sich dabei selbst befragende Anti-Romane überführt. Resultat dieser fortwährenden Selbst-Erkundung, dieses "autobiografischen Vorbei-stationierens", wie Nizon selbst es nennt, sind ganz auf das Sprachschöpferische setzende Prosaarbeiten wie "Das Jahr der Liebe" (1981), "Im Bauch des Wals" (1989) oder "Das Fell der Forelle" von 2005.
Der französische Schriftsteller und Literaturkritiker Frédéric Beigbeder sieht in Nizons Werk denn auch die markante Vorläufer-Literatur zu den Arbeiten des Norwegers Karl Ove Knausgaard, der sein Leben in fünf ziegelsteindicken, unter dem Überbegriff "Mein Kampf" zusammengefassten Einzelbänden auf ähnlich radikal-egozentrische Weise versprachlichte – und damit weltweit Erfolge feierte. Doch während der 1968 geborene Knausgaard in seinen Büchern allem voran auf den exhibitionistischen Furor seiner schonungslos vorgetragenen Bekenntnisse setzt, erwies Nizons Schreiben sich in Abgrenzung dazu stets als eine Art Selbstvorbringung und permanente Selbstvergewisserung mittels Sprache. In seinen im Sommer 1984 unter dem Titel "Am Schreiben gehen" in Frankfurt gehaltenen Poetik-Vorlesungen heißt es dazu:
"Das frühe Schreiben war ein verzweifelter Versuch, festzuhalten, was mir geschah. Ich befand mich dauernd auf einer aussichtslosen Treibjagd, und die Worte und Sätze waren wie Jagdhunde, um es einzufangen, um mich einzuholen. Es war die beginnende Niederschrift der Saga meines Lebens."
So lässt sich Ketil Björnstads großanlegte Roman-Biographie zwischen den ungestalten, ganz aufs Wuchtig-Bekennerische setzenden Lebens-und Leidens-Mitschriften seines Landsmannes Knausgaard und den formal ungleich subtileren, "das Leben schreibenden" Anti-Romanen Nizons verorten. Mehr noch, Björnstads Erinnerungsprosa erscheint geradezu wie das literarische Amalgam aus beidem. Wie? Indem er private Geschichteschreibung gekonnt mit der Literarisierung verbürgter geschichtlicher Ereignisse verzahnt – und darüber den Einfluss der sogenannten "großen" übergreifenden Geschichte auf die herausgehobene "kleine" plötzlich nachvollziehbar macht.
Gewiss verfügen seine Beschreibungen nicht über die exhibitionistisch entwaffnende Schärfe von Knausgaards Bekenntnissen, die in ihrer ungebremsten Beschreibungswut bis hin zu stinkenden Säuglingswindeln dem Familienalltag geradezu exorzistisch auch noch das letzte Geheimnis austreiben; literarisch betrachtet aber erscheinen Björnstads ungleich bedeutender. Denn wo bei Knausgaard formlos ungeschlachte Direktheit regiert, da setzt Björnstad auf Dezenz, auf sprachliche Schönheit und Genauigkeit.
Bekanntem eine neue Aura verleihen
So ist es denn auch ein Genuss, etwa seine Beschreibungen zu den näheren Umständen des Unfalltodes des Literaturnobelreisträgers von 1957, Albert Camus, zu lesen. Denn Björnstad gelingt es, scheinbar längst Entzaubertem, weil vielfach Beschriebenem, eine neue, faszinierende Aura zu verleihen.
"Am folgenden Tag, dem 3. Januar 1960, schaut der 46 Jahre alte Albert Camus in der Renault Werkstatt in Lourmarin vorbei, um für den Besitzer ein Exemplar von "L´Etranger" zu signieren. Dann geht er zurück zu seinem eigenen Haus, wo der Facel Vega auf ihn und die Familie Gallimard wartet, die ihren Skye Terrier Floc bei sich hat. Später sollte sich Janine Gallimard erinnern, dass sie im Augenblick vor dem Unfall kein Geräusch von dem explodierenden Reifen gehört hatte, wohl aber Michels Ausruf: 'Merde!' Der Wagen geriet sofort ins Schlingern. Ihre Erinnerung setzte wieder ein, als sie zu sich kam, sie saß auf der Straße im Schlamm und rief vergeblich nach Floc, der für immer verschwunden war.
Er war sofort tot, die Rettungsmannschaft brauchte zwei Stunden, um die Leiche aus dem Wrack zu bergen, nachdem diese mit dem Kopf im Kofferraum gefunden worden war. Der Arzt, der den Totenschein unterzeichnete, hieß Marcel Camus. In Camus `Koffer befanden sich die dicht beschriebenen 144 Seiten des Manuskripts Le premier homme, eine Schulübersetzung von Shakespeares Othello und eine französische Übersetzung von Nietzsches Die fröhliche Wissenschaft. Dazu die unbenutzte Zugfahrkarte nach Paris. Bei früheren Gelegenheiten hatte Camus oft gesagt: 'Die dümmste Art zu sterben ist durch einen Verkehrsunfall.'"
So verdichtet sich das, was hier ausgehend von Camus' beschriebenem Unfalltod im großen, weitausholenden Bogen an uns vorüberflimmert, nach und nach zu einem faszinierenden Sechzigerjahre-Panorama mit all den sich nochmal vor dem Leserauge abrollenden historischen Ereignisse - und den damit für den Autor verbundenen Folgen und Erinnerungen.
Der triumphale Aufstieg Cassius Clays zum "Größten" der Boxgeschichte. Vietnam-Krieg. Der Eichmann-Prozess. Der Tod Marilyn Monroes. Die Attentate auf die Kennedy-Brüder und Martin Luther King – untermalt vom Sound der "Beatles" und der Rolling Stones" und indirekt mit-bebildert von den berühmten Filmen jener Jahre, nämlich Ingmar Bergmanns für damalige Verhältnisse verstörende Exhibitionismen der schwedische Seele oder Goddards "Außer Atem": all das findet sich in dem vorliegenden Band zusammengedrängt wie in einer Nusschale. Doch Björnstad versteht es glänzend, die Fülle an Material so zu organisieren, erzählerisch aufzubereiten und zu transformieren, dass sie nicht zur bloß beflissenen Aneinanderreihung verkommt, sondern sich vielmehr zum atmosphärisch dichten Hintergrundgemälde einer sich davor exemplarisch entfaltenden Künstler-Biographie fügt. Das Resultat ist ein Buch des Lebens, geschrieben im Ton einer Konfession, der Beichte.
Ketil Björnstad: "Die Welt die meine war. Die sechziger Jahre"
Aus dem Norwegischen von Gabriele Haefs, Kerstin Reimers und Andreas Brunstermann. Osburg Verlag, Hamburg. 834 Seiten, 26 Euro