Wo heute der Irak liegt, zwischen Euphrat und Tigris, haben Menschen vor mehr als 5000 Jahren geschrieben. Dabei haben sie Griffel in feuchten Ton gedrückt. Herausgekommen sind Steuerakten, Rezepte, Hymnen oder Briefe – abgefasst in Keilschrift.
Die Schrift der Babylonier ist zwar entschlüsselt, doch warten noch Hunderttausende ungelesene Tontafeln in Museen und noch viele mehr im Boden des Zweistromlandes. Sie könnten entscheidende Details zum Leben in den Stadtstaaten enthalten. In Zukunft sollen künstliche Intelligenz und maschinelle Übersetzungen weiterhelfen.
Warum sind die Tontafeln bis heute erhalten geblieben?
„Der erste Teil der menschlichen Geschichte ist auf Keilschrift geschrieben“, sagt Enrique Jiménez. Er ist Professor für altorientalische Literaturen am Institut für Assyriologie und Hethitologie an der Fakultät für Kulturwissenschaften der Ludwig-Maximilians-Universität München. In Keilschrift wurden Sprachen wie Akkadisch, Sumerisch, Hethitisch und das frühe Persisch geschrieben.
Mittlerweile sind diese Sprachen tot, doch die Schrift hat überlebt. Das liegt auch an dem Trägermaterial. Texte wurden von Schreibern auf Tontafeln verfasst. Der Vorteil des Materials ist laut Jiménez, dass es „das billigste und nachhaltigste Schreibmedium ist, das man mal entdeckt hat“. Ton überdauert – im Gegensatz zu Papier oder Papyrus – auch Feuer oder Kriege.
Doch Tontafeln haben auch „einen großen Nachteil“, erläutert Jiménez, denn sie sind zerbrechlich. „Das heißt man findet normalerweise nicht komplette Tontafeln, sondern Fragmente.“ Früher wurden solche Fragmente von einem Fundort gelegentlich an verschiedene Museen verkauft. Ein Text kann daher über viele Sammlungen verstreut sein.
Jiménez hat deswegen die Electronic Babylonian Library, die elektronische Babylonische Bibliothek, ins Leben gerufen. Das ist eine öffentliche Datenbank, in der sich hochaufgelöste Aufnahmen von mehr 20.000 Keilschriftfragmenten finden, verknüpft mit der Transkription ins Akkadische und mit englischen Übersetzungen von literarischen Texten: Hymnen, Dialoge und natürlich Gilgamesch, das erste Epos der Weltliteratur.
Wie lassen sich die Keilschrift-Fragmente der Tontafeln mithilfe von KI rekonstruieren?
Für den Laien sehen die mit Keilschrift beschriebenen Tontafeln aus, als hätte ein Schwarm kleiner Vögel seine Spuren hinterlassen. Ein Zeichen kann aus nur zwei, vielleicht aber auch aus einem Dutzend oder mehr der keilförmigen Eindrücke bestehen. Sie liegen dicht beieinander, es ist schwer zu erkennen, wo ein Zeichen endet, wo das nächste beginnt.
Um so schwieriger ist es, die Texte zusammenzufügen – vor allem, wenn Fragmente auf der ganzen Welt verstreut sind. Doch die globale Gemeinschaft der Altorientalisten digitalisiert die Bestände und stellt sie ins Netz. Hier kommt die künstliche Intelligenz (KI) ins Spiel: Beim Zusammensetzen der Tontafelfragmente, dem Erkennen der Keilschrift auf den Tafeln und beim maschinellen Übersetzen der Texte. Was die KI aber nicht erschließt, ist die Bedeutung – das gelingt nur Sprachspezialisten.
Die Aufgabe der künstlichen Intelligenz beginnt mit dem Zusammensetzen: Grundlage sind hoch aufgelöste Fotos. Sie werden zusammen mit der Transkription des Texts und Metadaten wie den Fundort in die „Electronic Babylonian Library“ eingepflegt. Anschließend sucht die KI, ob das Fragment zu einem bekannten Text passt.
Dann geht es um das Erkennen der Keilschrift: Auch das soll digitalisiert werden. Dabei legt der Computer mathematische Kurven auf ein 3-D-Modell der Tafeln und trennt damit gewölbte und eingedrückte Partien wie die Keilschrift auf der Oberfläche.
Ein weiterer Schritt ist das automatisierte Lesen und Übersetzen. Daran arbeitet beispielsweise seit 2017 ein Projekt mit mehr als 3000 Jahre alten sumerischen Verwaltungsakten. Diese Akten sind standardisiert und machen es der Software einfach. Die Ergebnisse sind zwar keine perfekten Übersetzungen, sie sind aber brauchbar für ein Verständnis alltäglicher Aufzeichnungen, wie die Assyriologin Émilie Pagé-Perron vom Wolfson College der Oxford University erläutert.
Was für Texte wurden damals auf Tontafeln geschrieben?
Zehntausende Täfelchen sind bislang digitalisiert worden. Aber nur rund 1600 von ihnen wurden von Menschen übersetzt. Am bedeutendsten ist wohl das Gilgamesch-Epos. Doch die Mehrheit der mit Keilschrift beschriebenen Tontafeln sind Akten, Verträge oder Notizen.
Das ist nicht verwunderlich, denn in Mesopotamien lassen sich die Anfänge der Landwirtschaft verorten. Hier sind erste Bewässerungssysteme entstanden und in der Folge auch die ersten Stadtstaaten mit Verwaltungen. So gibt es Tausende Akten, die Auskunft über den damaligen Alltag geben. Auch lassen sich Entwicklungen ablesen: Wurden die Abgaben erhöht? Wie gut war der Fischfang? Was ist mit dem Ertrag der Felder?
Diese Fragen interessiert auch die Assyriologin Émilie Pagé-Perron. „Meine Kollegen und ich wollen die Beziehung zwischen Mensch und Umwelt studieren“, so die Wissenschaftlerin. „So können wir hoffentlich verstehen, wie Menschen erste große Umweltveränderungen verursachen konnten.“
Was verraten uns die Tontafeln über das damalige Leben?
Neben Akten und Literatur finden sich auch Rezepte auf den Tontafeln, etwa ein Rezept mit Lauch und Zwiebeln; ein anders kombiniert rote Beete mit Lamm; ein weiteres enthält ebenfalls Lamm in einer Milchsoße. Manche der Gerichte entsprechen nicht mehr dem heutigen Geschmack, andere schlagen einen Bogen bis in den heutigen Irak - wenn etwa mit Fett aus dem Schafsschwanz gekocht wird.
Gerade im Alltag gibt es Ähnlichkeiten und Verbindungen über Jahrtausende hinweg, etwa bei Mietverträgen, Verwaltungsakten oder Kaufverträgen, erzählt Karen Radner. Sie ist Expertin für Alte Geschichte des Nahen und Mittleren Ostens an der Maximilian-Ludwigs-Universität München. „Themen wie Migration und Steuerbelastung, sicherlich auch das Wetter und extreme Formen des Wetters, das würden die assyrischen Beamten mit unseren ganz gut besprechen können“, vermutet Radner.
Aber es gibt auch vieles, was sich aus heutiger Zeit kaum nachvollziehen lässt, etwa die Rituale im Tempel oder auch manche Familienkonstellation. Radner beschreibt einen Fall, wenn eine Familie in schlechte wirtschaftliche Verhältnisse gekommen ist. Dann konnte das Familienoberhaupt, „also im Normalfall der Vater, nicht nur die Sklaven verkaufen, sondern auch seine Ehefrau und seine Kinder“.
Volkart Wildermuth