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Kibbuz als Knast

Die Welt der Kibbuzim war lange Gegenstand deutscher Idylle- und Pathos-Phantasien: Es hatte etwas Tröstliches, zu erfahren, dass Überlebende des Holocaust im neuen Staat Israel kollektiv und sozialistisch lebten und arbeiteten. Der Regisseur Dror Shaul zeigt in seinem Film "Sweet Mud" das Leben der Kibbuzniks in den 70er Jahren.

Von Josef Schnelle |
    "Sweet Mud" erzählt von einer Kindheit im Kibbuz in den 70er Jahren. Von den Wonnen des Gemeinschaftsgeistes, aber auch von den Schattenseiten des kollektiven Lebens in den israelischen Musterlandkommunen, die sich schon seit 1910 als gelebte sozialrevolutionäre Utopie verstanden. Regisseur und Drehbuchautor Dror Shaul ist selbst im Kibbuz Kissufim im Süden Israels geboren und aufgewachsen und erzählt deshalb in dieser - wie er betont - fiktiven Geschichte durchaus auch von sich selbst. Vom Schreialarm im Babyhaus, über das jeden abend ein anderer Kibbuzin wacht, von den Freuden der Kollektiverziehung aber auch von der sozialen Kontrolle bis in die privaten Dinge hinein. Miri, die Mutter des kleinen zwölfjährigen Dvir, ist einsam und niedergeschlagen. Sie leidet unter psychischen Problemen. Ihre einzige Hoffnung ist es, ihre alte große Liebe Stefan dazu zu bewegen, zu ihr in den Kibbuz zu kommen. Der hat sich kürzlich gemeldet und noch einmal seine Liebe erklärt.

    "Geliebter Stefan, der Brief, den ich erhalten habe hat mich glücklich gemacht. – Stéphane, mon Amour ta Lettre m’a rendue très heureuse. – Ich liebe dich und erwarte deinen Besuch sehnsüchtig hier im Kibbuz. – Das ist mir zu dick. – wie wärs mit: Du kannst drei Wochen hier im Kibbuz bleiben. – Drei Wochen ohne zu arbeiten, schreib lieber zwei. – In zwei Wochen werden wir nichts schaffen. – Bitte vergiss nicht die Geschenke für meine Söhne. – was für Geschenke? – Knallkörper – Feuerwerk. Das ist zu gefährlich schreib lieber Schokolade."

    Die glücklichen Tage der Mutter mit dem wesentlich älteren Geliebten, der - als er kommt - eher einem Bonvivant gleicht, als dem vom kleinen Dvir herbeigesehnten handfesten neuen "Mann im Haus" sind die Konflikte vorprogrammiert. Er wird äußerst misstrauisch beäugt und kommt mit dem strengen Regelwerk der Landkommune gar nicht zurecht. Bald muss er wieder gehen. Für Dvir und Miri eskalieren die Dinge. Die Mutter ist wieder unglücklich. Der starrsinnige Kibbuzchef schimpft.

    "Du hast zwei Kinder und die bekommen täglich ihre Mahlzeiten. Dazu kommt die Wäsche, das Schwimmbad. Hat sich schon mal jemand beschwert? Warum nicht? Ganz einfach weil in unserer Gemeinschaft jeder soviel gibt wie er kann und entsprechend erhält was er braucht. Denk mal dran als du in der Psychiatrie warst. – das ist verdammt lange her und ich bin wieder geheilt. (Inzwischen hattest du Besuch und hast nicht gearbeitet. Hat sich jemand beschwert? – Aber ihr habt ihn wieder zurückgeschickt. Weil er einem von uns den Arm gebrochen hat.) Schluss mit dem Zirkus. An deinen Problemen ist der Kibbuz nicht schuld. Vielleicht denkst du mal nach was du tun kannst für den Kibbuz."

    Der Film "Sweet Mud" ist kein Thesenkino, keine generelle Abrechnung mit dem Kibbuz. Der Film erzählt sehr liebevoll gerade die widersprüchliche Bewertung der Kollektivansprüche die sich in den Augen des kleinen Jungen mal positiv, mal negativ auf sein Leben auswirken.
    Das spiegelt Regisseur Dror Shaul auch in der Ästhetik des Films wieder. Die unbeschwerten Momente der Kindheit taucht er in strahlendes, manchmal überhelles Licht. Die traurigen, bitteren Ereignisse, versinken oft in den Schattenspielen der Dämmerung. Die Übergänge dieser Grundzustände sind atmosphärisch so weich und differenziert gestaltet wie es der Beziehung der beiden Hauptfiguren zueinander entspricht. Oft ist die Kamera auch sehr nah dran an Gesichtern, Blicken und Gesten, die manchmal das gesprochene Wort Lügen strafen. Im Hintergrund der sehr persönlichen Mutter-Sohn- Geschichte dekonstruiert sich die Utopie des Kibuzz und verliert allen illusionären Glanz. In der Zerreißprobe, vor die Dvirs Mutter Miri die Gemeinschaft stellt, bewährt sie sich jedenfalls nicht. Man kann das auch als Parabel auf die gegenwärtige israelische Gesellschaft verstehen, die sich nicht mehr nur auf ihren Gründungsmythos berufen kann, sondern sich angesichts der heutigen Herausforderungen stets neu erfinden muss. Man kann den Film aber auch einfach als berührende Coming-Of-Age Geschichte lesen, als Geschichte vom Erwachsen werden, die nur zufällig in Israel spielt. Dror Shaul gelingt es jedenfalls in seinem erst zweiten Film, beide Ebenen miteinander glaubhaft zu verknüpfen. Dvir muss immer mehr erkennen, dass der Kibbuz nicht in der Lage ist, die psychische Krankheit seiner Mutter aufzufangen. Es kommt allein auf ihn an.

    "Ich wollte dir sagen, dass ich jetzt völlig gesund bin. Du hast eine Mutter, die so stark ist wie ein Stier. Mama, was ist in dem Koffer? – Ich fahre zu Stefan. Hab ich dir das nicht gesagt. – Wann fährst du? – In einer Stunde. – Mama, du fährst nirgendwohin."