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Kiko Amat: "Träume aus Beton"
Irre melancholisch

Familiärer Vorstadt-Horror in Katalonien: Sozialstudie über Gewalt, Kriegserinnerungen und Wahnsinn - Kiko Amats „Träume aus Beton“ ist eine kraftvolle literarische Neuentdeckung aus Barcelona.

Von Dirk Fuhrig | 10.05.2022
Kiko Amat: "Träume aus Beton"
Zu sehen sind der Autor und das Buchcover
Kiko Amat: "Träume aus Beton" (Cover: Heyne Hardcore / Foto: Erre Garcia)
Kiko Amat formuliert wie ein Chirurg, der ein Eitergeschwür beschreiben soll:
„Unsere Wohnung […] ist eng und feucht, und an den Wänden in der unteren Etage blättert der Putz und wölben sich die Zierleisten. Fast könnte man meinen, unsere Wohnung hätte Blähungen, Pickel und Entzündungen.“
In diesem finsteren Loch, in dem sich auch Kakerlaken breit machen, wächst der Protagonist Curro auf. Wir lernen ihn einmal als Ich-Erzähler kennen, wenn er über seine Jugend in einer Arbeiter-Gegend im Großraum Barcelona berichtet. Und ein andermal als Figur in einem auktorialen Erzählstrang, wenn von ihm als Patient in einer psychiatrischen Heilanstalt die Rede ist.

Psychose in Navyblau

„Curro ist geisteskrank und wirkt auch so. […] Er trägt einen navyblauen Anzug, sehr dunkel, das taillierte Jackett mit riesigem Revers und nur einem Knopf. […] Anstelle eines Gürtels hält ein vorn zugeknoteter Strick seine Hose […] Curros Äußeres ist das geringste seiner Probleme.“
Man fängt an, diese Stakkato-Sätze in Daniel Müllers erbarmungslos scharf rhythmisierter Übersetzung zu lesen - und ist sofort drin in diesem vorandrängenden Text, der nach 550 Seiten endet, ohne dass man es richtig mitbekommen hat.

Atemlose Lektüre

Also: Dieses Buch ist ein so genannter „Pageturner“. Die Frage, die man sich nach der atemlos absolvierten Lektüre stellt, ist: Warum gab es von Kiko Amat bisher noch nichts auf Deutsch zu lesen? Immerhin hat der Schriftsteller schon vor fast 20 Jahren seinen ersten Roman veröffentlicht. Der Verlag „Anagrama“, spezialisiert auf frische, junge Stimmen, hatte den damals 30-Jährigen entdeckt. Heute ist er einer seiner wichtigen Autoren. Soeben ist bei dem Verlag in Barcelona ein neues Buch Amats über die Ursachen von Hass und Feindschaft erschienen: „Los Enemigos“.
Um rohe Gewalt geht es auch in „Träume aus Beton“: nicht nur um die des psychisch auffälligen jungen Mannes Curro, der schließlich mit einem Messer auf Passanten an einem Imbiss-Stand losgeht. Sondern auch um brutale Mitschüler, um handgreifliche Konflikte in der Familie, um Klassengegensätze. Und nicht zuletzt um Krieg. Curros Großvater, im spanischen Bürgerkrieg schwer verwundet, ist sein Leben lang davon gezeichnet:
„Er ist nach Sant Boi zurück mit einem Loch im Hintern und einem durch posttraumatischen Stress verursachten Stottern. Den Hintern haben sie ihm in einem Feldlazarett operiert, dem Ärmsten, und zwar während ringsherum die Bomben der Legión Cóndor runterkrachten. Die Bomben seiner eigenen Armee! Von der Taubheit hat er sich zwar wieder erholt, aber nach diesem Ereignis litt er unter Wahnvorstellungen.“

Trauma Bürgerkrieg

Curros Opa schreit jede Nacht, hat Alpträume. Ob die psychische Krankheit des Jungen auch mit dieser familiären Prägung zu tun hat, bleibt dem Leser überlassen. Kiko Amat liefert keine eindeutigen Erklärungen. Auch nicht für die Fettsucht der früher so attraktiven Mutter, die depressiv wird, unnatürlich schnell abmagert und stirbt, als sie vom Betrug ihres Ehemanns erfährt; nicht für den unversöhnlichen Streit mit den Nachbarn, die einst die besten Freunde waren; den seltsamen Hitler-Tick von Curro, der ständig „Heil“ ruft und beim Karneval mit Hakenkreuz-Armbinde aufrauscht.
„Die anderen schauen mich an.Vielleicht sollte ich nicht so oft von Hitler erzählen. Manche Leute irritiert das.“
Die Assoziationen zum Nationalsozialismus - der Franco den spanischen Bürgerkrieg gewinnen half - liegen subkutan unter diesem Text als Kennzeichen einer Jugend-Kultur, eines Fascho-Kults, der gerade in sogenannten „abgehängten“ Milieus kein neues Phänomen ist.
Aber es geht in diesem Roman nicht um radikale Jugendliche. Sondern um einen empfindsamen, liebevoll gezeichneten Jungen, dem es nie gelungen ist, irgendwo dazu zu gehören. Die psychischen Probleme werden zu spät erkannt und unzureichend behandelt.

Bipolar? - Aber Batterien haben doch auch zwei Pole

„‚Ich weiß nicht genau, was das heißen soll, ‚bipolar‘. Aber für mich klingt es wie zwei Pole, und das kann doch nicht schlecht sein. Batterien haben doch auch zwei Pole, oder?’“
Kiko Amat stammt selbst aus eher einfachen Verhältnissen; er ist in derselben Gegend bei Barcelona aufgewachsen, in der sein Held Curro lebt. Vorsichtshalber hat Amat seinem Roman daher den Satz „Ich habe mir das alles ausgedacht“ vorangestellt. Auf seiner Website zeichnet er eine Biografie vom Schulabbrecher über Stationen als McDonald’s-Verkäufer, U-Boot-Matrose und Kellner in einem Londoner Luxus-Hotel zum Literaten. Der coole, lässige Ton, in dem er über sich selbst berichtet, findet sich auch in seinen Texten.
Die Psycho-Story in „Träume aus Beton“, bei der man durchaus ein bisschen an Rainald Goetz oder Irvine Welsh denken darf, ist in den 80er-Jahren angesiedelt. Die Fußball-WM in Spanien 1982 und der verlustreiche Falkland-Krieg Argentiniens gegen Großbritannien bilden die zeitgeschichtliche, Vorstadtbrachen und Hochspannungsmasten die räumliche Kulisse für diesen melancholischen, kraftvollen Endzeit-Roman. 
Kiko Amat: „Träume aus Beton“
Aus dem Spanischen von Daniel Müller
Heyne Verlag, München, 557 Seiten, 24 Euro.