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Kinder brauchen Musik

Zum Internationalen Tag der Musik hat der Musikpädagogen Wilfried Gruhn von der Universität Freiburg die Bedeutung des Singens für Kinder hervorgehoben. Schon über den Klang der Stimme beziehe es sehr viele Informationen. Musik könne etwas mitteilen, das "jenseits der begrifflichen Bedeutung" sei.

Wilfried Gruhn im Gespräch mit Christoph Heinemann | 01.10.2010
    Christoph Heinemann: Alle Jahre wieder - wir nähern uns langsam der Jahreszeit, in der diese Formel häufiger zu hören ist -, also immer am 1. Oktober, verzeichnet der Kalender der Weltkulturorganisation UNESCO den Internationalen Tag der Musik. Dieser Weltmusiktag wurde 1975 vom Internationalen Musikrat unter der Leitung seines damaligen Präsidenten, des Geigers Yehudi Menuhin, ins Leben gerufen, um Musik in allen Bevölkerungsgruppen zu fördern und entsprechend den Idealen der UNESCO, Idealen wie Frieden und Freundschaft der Völker, eine gegenseitige Anerkennung der künstlerischen Werte sicherzustellen. Ganz so hoch wollen wir heute früh jetzt nicht hinaus, vielmehr erst einmal erklären, was passiert, wenn Musik und Mensch zusammentreffen. In Freiburg sind wir verbunden mit dem Musikpädagogen Professor Wilfried Gruhn, der bis zu seiner Emeritierung an der Hochschule der Stadt im Breisgau lehrte. Guten Morgen!

    Wilfried Gruhn: Guten Morgen, Herr Heinemann.

    Heinemann: Herr Professor Gruhn, wie lernt unser Gehirn überhaupt Musik?

    Gruhn: Im Grunde genommen lernt das Gehirn Musik auf die gleiche Art und Weise, wie es Sprache lernt, denn Sprechen und Singen haben ja ganz viele Gemeinsamkeiten, wie wir aus dem ganz alltäglichen Umgang wissen. Und wir lernen sprechen dadurch, dass wir Sprache hören vom ersten Moment unseres Entstehens, schon im Mutterleib, dann als kleiner Säugling, und wir lernen es eben, dass jemand zu uns spricht. Und mit der Musik ist das nicht anders. Wir lernen musikalische Phänomene, Melodien, Rhythmen, Klänge und so weiter dadurch kennen, dass jemand zu uns singt - die Betonung liegt auf "zu uns", für uns, nicht so sehr mit uns natürlich am Anfang, dass wir auf diese Weise in unserem Gehirn solche Muster für Sprache oder für Musik, also für Lieder, für Melodien, entwickeln können. Neurologen sprechen dann auch über mentale Repräsentationen, und die können wir sozusagen anschalten, wenn wir etwas hören. Und wir hören und erkennen dann nur das, wofür wir zuvor mentale Repräsentationen, also solche Muster, entwickelt haben.

    Heinemann: Herr Gruhn, ein Kernsatz Ihrer Arbeit lautet: Kinder brauchen Musik. Was schafft Musik, was Sprache nicht vermag?

    Gruhn: Kindern tut Musik - und Musik ist zunächst einmal das Singen, das Singen der Eltern, der Umgebung -, das tut ihnen gut und sie zeigen uns, dass sie ein ganz vitales Bedürfnis nach Rhythmus, nach Klang haben. Und Rhythmus ist Bewegung, und deswegen gehört beides ganz, ganz eng miteinander zusammen. Und wir alle wissen ja, weil Sie fragen, was kann die Musik, was die Sprache nicht kann, dass wir über den Stimmklang schon sehr viele Informationen beziehen. Das kleine Kind versteht natürlich, der Säugling, der im Körbchen liegt, der versteht natürlich noch nicht, was die Mutter oder der Vater zu ihm sagt, semantisch. Aber es spürt natürlich aus dem melodischen Verlauf - wir nennen es die Prosodie -, aus dem Rhythmus, aus der Stimmklanghöhe, aus der Stimmfärbung sofort, ob die Mutter in Spannung ist oder entspannt, ob sie fröhlich und offen ist oder ob sie bedrückt ist durch irgendetwas. Also Musik, Lieder, Singen, vermag etwas mitzuteilen, was die Sprache auch vermitteln kann, was aber jenseits der begrifflichen Bedeutung ist und daher viel, viel früher bei Kindern ausgeprägt ist.

    Heinemann: Und wenn zu Hause nicht gesungen oder vorgesungen wird, was fehlt dann?

    Gruhn: Eben die Erfahrung dieser kommunikativen Kompetenz der rein klanglichen Ebene. Wir wissen ja aus empirischen Untersuchungen, dass Säuglinge schon nach wenigen Wochen nach ihrer Geburt viel lieber zuhören, wenn die Mutter zu ihnen singt, als wenn sie zu ihnen spricht, und beim Sprechen hören sie viel lieber zu, wenn die Mutter, wir nennen das: dieses kindgerichtete Sprechen benutzt, das etwas übertrieben Melodische, ayayaya und dadada, dass diese Melodiekurve viel stärker ausgeprägt ist, bevorzugen Kinder diese Ausdrucksform, weil sie mehr Informationen für ihr Gehirn herausziehen können als das normale Reden, was ich jetzt hier tue.

    Heinemann: Das war eine wichtige Information zur Steigerung unserer Einschaltquoten. - Zu den kulturellen Schätzen, die in Deutschland brachliegen - ältere Hörerinnen und Hörer weisen uns immer mal wieder darauf hin, in Mails oder auch in Briefen -, gehören die Volkslieder. Gemeint ist jetzt nicht "Satellite" von Lena, sondern etwa "Kein schöner Land in dieser Zeit", oder "Das Wandern ist des Müllers Lust". Das gilt bei Jugendlichen als uncool, wäre aber doch schade, wenn diese Lieder über die Generationen hinweg verloren gingen. Sie sind Musikpädagoge, das heißt, Sie beschäftigen sich oder haben sich Ihr ganzes Berufsleben lang mit der Vermittlung von Musik beschäftigt. Wie vermittelt man diese Musik jungen Menschen?

    Gruhn: Indem man mit ihnen singt und indem man eine Situation schafft, in der es Spaß und Freude macht.

    Heinemann: Und das klappt?

    Gruhn: Na ja, das hängt von vielen Umständen sicherlich ab. Das klappt nicht unbedingt automatisch. Aber wenn wir früh anfangen, früh heißt im vorschulischen Bereich, dass wirklich die Eltern mit den Kindern Melodien singen, ...

    Heinemann: Aber machen wir mal oder stellen wir uns die Probe aufs Exempel vor: Eine pubertierende Klasse soll "Im Frühtau zu Berge" singen. Da beginnt es ja schon beim ersten Wort, die schlafen lieber lange aus.

    Gruhn: Das ist völlig richtig und es ist auch die Frage, ob es pädagogisch überhaupt sinnvoll ist, in einem so fortgeschrittenen Alter diese Formen in Form von Schule oder Vermittlung oder Erziehung mit dem Versprechen, das ist aber ganz wertvoll für euch, an die Kinder heranzubringen. Ich glaube, das muss ganz früh passieren, dass die Kinder in Kontakt kommen mit dem Singen und in einer Situation das Singen tun, wo es für sie, ich sage jetzt mal, lustvoll erfahrbar ist, wo es für sie mit schönen Erinnerungen verbunden ist. Dann wird sich das auch in spätere Zeiten hinüberretten.

    Heinemann: In Irland oder auch in anderen Ländern kann es einem passieren, dass die Menschen abends in der Kneipe gemeinsam ein Volkslied anstimmen. Mal generell gefragt: Wieso behandeln die Deutschen ihre Volkslieder so nachlässig?

    Gruhn: Das hat sicherlich mit Geschichte zu tun, denn wir wissen ja, dass durch die Erfahrungen in der Mitte des vorigen Jahrhunderts, also konkret mit dem Beginn oder in der ersten Hälfte des Jahrhunderts, mit der Jugendbewegung und dem Übergang dann in das Dritte Reich, das Singen immer im Verdacht war, Ideologieträger zu sein, und das war es ja auch. Im Dritten Reich ist ja das Volkslied benutzt worden mit kleinen Umdichtungen, als Ideologievermittler an die Jugend heranzutragen. Und von dieser Angst, von dieser Berührungsangst haben wir uns sicherlich nie ganz freimachen können. Ich glaube, dass das ein ganz großer Unterschied ist zu anderen Kulturen, die diese Scheu nicht hatten, für die es auch überhaupt kein Problem ist, bestimmte Lieder zu singen. Das ist, glaube ich, ein sehr deutsches Problem.