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Kinder des Zweiten Weltkrieges

Bislang standen in der Forschung die Söhne im Vordergrund. Die Historikerin Barbara Stambolis hat nun in einer Studie untersucht, welche Folgen der Verlust des Vaters im Zweiten Weltkrieg für die Töchter hatte.

Von Isabel Fannrich |
    "Ich war knapp neun Jahre, als er fiel. Ich habe eine sehr genaue Erinnerung, wie wir aus dem Unterricht abgeholt wurden und wie dann die Familie sich bei meiner Mutter versammelt hatte. Und dass die beiden kleineren Geschwister noch nicht da waren. Sie waren spazieren mit irgend jemandem, und wie ich sie dann geholt hab. Und dann vielleicht das Wichtigste wirklich, dass ich beschlossen hab, ich müsste jetzt erwachsen sein. Das war mir ganz deutlich, dass jetzt ein Teil der Kindheit vorbei ist."

    "Ich wollte gerade, dass er mir mein Spielzeug wieder zusammen flickt. Weil er auch Schreiner war. Und dann kamen wir nach Hause, hatten einen Ausflug gemacht, wahrscheinlich waren wir auf diesen Ausflug geschickt worden. Und dann kam die Todesnachricht."

    Uta Pauli und Roland Eckert sind Geschwister. Als sie die Nachricht hörten, waren sie acht und vier Jahre alt. Ihr Vater war im Januar 1942 in Russland an der Front gefallen - ein drei Viertel Jahr nachdem er sich freiwillig gemeldet hatte.

    "Er wäre vielleicht später dann, als die Zeiten im Krieg dann doch schlechter wurden, sowieso noch eingezogen worden. Aber zuerst einmal ist er freiwillig gegangen, und er war in Russland doch an der vordersten Front dabei. Das ist dann auch immer noch ein Gegenstand des Nachdenkens, warum das so sein muss."

    Uta Pauli, Jahrgang 1933. Sie, ihr Bruder, eine ältere und eine jüngere Schwester gehören der Kriegskindergeneration an, die zwischen 1930 und 45 geboren wurde. Im Unterschied zu jenen, die erst während des Krieges auf die Welt kamen, können sie sich deutlich an ihren Vater erinnern, einen etablierten Münchner Rechtsanwalt:

    "Gut gelaunt und sehr zärtlich. Er hat uns, wenn er abends schon da war, vorgesungen, auch heitere Sachen. 'Zu Regensburg auf der Kirchturmspitz, da kamen die Schneider zusammen zu unserem großen Vergnügen.' Und andererseits aber auch streng, dass man sich nicht nachgeben durfte. Er hat mich mal veranlasst, ordentlich Flöte zu üben."

    "Wie er mich auf seinen Schultern ins Krankenhaus getragen hat, einen kilometerlangen Weg, im Gebirge und dann verschwimmt natürlich das Bild auch immer mit den Fotos, so dass man nicht mehr weiß, was die originäre Erinnerung ist und was die Erinnerung mit Hilfe von Fotos oder Erzählungen ist."

    Mit den Erinnerungen befasst sich die Historikerin Barbara Stambolis:

    "Und es gibt dann eine ganze Gruppe, die ihren Vater kaum gesehen hat, vielleicht zwei-, dreimal wenn der Vater von einem Fronturlaub nach Hause kam. Es kann eine bewusste Erinnerung sein. Es sind manchmal dann bei diesen Kindern - gerade bei den jüngeren, die zwischen 1939 und 1945 geboren wurden, auch Erinnerungen an dramatische Szenen auf Bahnhöfen, also Abschiedsszenen und Trennungen. Und es gibt die Gruppe, die ihre Väter gar nicht mehr gekannt haben, weil sie eben auf dem Weg waren, nachdem der Vater wieder an die Front zurück gekehrt ist."


    Die Paderborner Professorin hat 120 Frauen befragt, die mehrheitlich zwischen 1939 und '43 geboren wurden. Sie wollte wissen, wie der kriegsbedingte Vaterverlust ihr Leben geprägt hat und wie sie bis heute damit umgehen. Es ist die erste größere Studie, die vaterlose Töchter in den Mittelpunkt rückt.

    In den vergangenen zehn, 15 Jahren hatten sich hauptsächlich die Männer zu Wort gemeldet - zumeist als Forscher und Betroffene zugleich. So interviewte der Psychoanalytiker und Altersforscher Hartmut Radebold in seinem Buch "Söhne ohne Väter" aus dem Jahr 2004 rund 40 Männer, deren Väter im Krieg gefallen waren.

    Dass sich Traumata in den nachfolgenden Generationen niederschlagen, ist als "transgenerationale Übertragung" zunehmend in den Fokus von Wissenschaft und Öffentlichkeit geraten. Immer mehr vaterlose Kinder, aber auch Enkel der Trümmerfrauen lassen sich therapieren. Und auch die Kinder anderer Krisenzeiten wie dem Deutschen Herbst oder der politischen Verfolgung in der DDR melden sich zu Wort.

    Der deutsche Liedermacher Hannes Wader thematisierte schon 1980, wie sehr ihm sein Vater durch den Krieg entrückt war:

    "Wenn ich des nachts die Lok im Arm auf meinem Kissen schlief..."

    In Deutschland sind im Zweiten Weltkrieg schätzungsweise 2,5 Millionen Väter als Soldaten umgekommen. Sie erlagen ihren Verletzungen, kamen in Gefangenschaft um - oder gelten heute noch als verschollen.

    Ein Viertel der Kriegskinder ist nach dem Krieg dauerhaft ohne Vater aufgewachsen, sagt Stambolis. Weitere kommen hinzu, denen er jahrelang - etwa infolge von Gefangenschaft - gefehlt hat. Viele Mädchen und Jungen haben darüber hinaus die Bombenangriffe erlebt. Sie mussten fliehen und in Lagern unterkommen, manche wurden evakuiert und zeitweilig von ihrer Restfamilie getrennt.

    Warum haben sich die Betroffenen mit diesen Erfahrungen so spät erst zu Wort gemeldet?

    "Ich hatte gar keine Zeit viel nachzudenken. Man hat sehr viel weniger so seine persönlichen Befindlichkeiten reflektiert, weil die Anforderungen viel größer waren. Deswegen habe ich zuerst immer gestaunt, als das so üblich wurde zu sagen: Ach mir geht's nicht gut. Und ich gesagt habe: Na wo fehlt es denn? Ist es wieder dein Knie oder deine Schulter oder irgend so etwas? Naja, und dann war es was ganz anderes. Dann fühlten die sich psychisch in Unordnung geraten. Darüber hätten wir so nicht nachgedacht."

    "Zum einen haben diese Kinder sehr lange einfach sehr gut funktioniert. Sie waren angepasst, sie waren nicht weiter auffällig. Sie sind in Zeiten aufgewachsen, in denen es ums Überleben ging, um alltagspraktische Fragen, und nach ihren Befindlichkeiten hat zunächst mal keiner gefragt. Sie haben dann auch als Erwachsene sehr selbstverständlich Dinge angepackt, ihr Leben gemeistert und wenig auf sich selber geachtet. Und haben dann erst spät festgestellt, dass sich in ihnen ganz unerwartet zum Teil und auch beunruhigend das Kind von damals zu Wort meldet."

    Geweckt hat die Erinnerungen das Jahr 2005, das Gedenken an 60 Jahre Kriegsende. Aber auch die Bilder anderer Kriege wie die vom Balkan hätten viele Kriegskinder aufgerüttelt, sagt die Entwicklungspsychologin Insa Fooken von der Universität Siegen. Die Beschäftigung mit der eigenen Vergangenheit sei zudem eine Altersfrage:

    "Es gibt durchaus am Ende des mittleren Erwachsenenalters die Aufgabe, nochmal zu sortieren, ein bisschen Bilanz zu ziehen: Was habe ich von dem Teil des Lebens, den ich selber aktiv bestimmen kann, gemacht? Das ist noch nicht so dieser Lebensrückblick, der im hohen Lebensalter gemacht wird. Aber bei dieser Sortierarbeit - man muss ja dran denken, es gab oft noch die alten Mütter. Und wenn die starben auf einmal und da in diesem Kontext steht auch entwicklungspsychologisch an, dass man sich mit der Endlichkeit auseinandersetzt - überhaupt auch mit der Endlichkeit der eigenen Eltern, definitiv bestimmte Kindheitsillusionen aufzugeben und sich mit vielen Realitäten eigentlich zu konfrontieren."

    Heute weckt der Blick zurück bei vielen Frauen eine "unerwartet intensive Sehnsucht" nach ihrem kaum oder gar nicht bekannten Vater, erzählt Barbara Stambolis. Nachdem sie in ihrer Kindheit die Traurigkeit verdrängt haben, begeben sich die Töchter nun auf Spurensuche. Oft haben sie nur ein Foto oder einen Brief oder kennen die Geschichten, die ihre Mütter erzählt haben.

    Sie fragen sich, wie der Vater ausgesehen hat, wie er gesprochen und gelacht hat. Wie wäre es gewesen, mit ihm aufzuwachsen? Die Frage, ob der Vater sich in der NS-Zeit mitschuldig an den Verbrechen gemacht hat, stehe bei vielen heute im Hintergrund.

    "Zentral ist eher das Bedürfnis, sich diesem Vater, den sie nicht kannten, noch mal nahe zu fühlen und vielleicht einen Weg zu finden, auch sein Grab zu besuchen, es ausfindig zu machen überhaupt, sich von ihm zu verabschieden irgendwie und zu trauern. Denn für die Trauer hatten sie in ihrer Kindheit keine Zeit, ihre Mütter oft auch nicht."

    Der Tod des Vaters hat "alles" verändert. Nach dem Krieg mussten die Witwen ran. Sie, die oft keine Ausbildung hatten, meisterten beides: arbeiten und Kinder erziehen. Die Gesellschaft sah ihnen kritisch dabei zu und bedachte sie mit Worten wie "Rabenmutter" oder "zerstörte Familie ohne bessere Hälfte". Dies bestätigte die Mütter und Töchter in ihrem selbst erlebten Defizit. Obendrein stiegen sie in den meisten Fällen sozial eindeutig ab.

    "Die Mütter waren vor diesem tiefen biografischen Einschnitt mehrheitlich lebenszugewandte, unkomplizierte junge Frauen gewesen, die hoffnungsvolle Pläne für ihre private Zukunft gehabt hatten und diese an der Seite eines Mannes verwirklichen wollten. Sie hatten sich kaum vorstellen können, dass das Leben einer Frau anders als im Rahmen einer Ehe "glücklich" verlaufen konnte. Als für sie die Welt zusammenbrach, zogen sie schwarze Kleider an, ihre unbeschwerten Mädchenjahre verblassten schnell, wurden perspektivisch unbedeutend. Lediglich die Erinnerung an ein zumeist kurzes Eheglück gab den Witwen die Kraft, sich auf ihr Überleben und das ihrer Kinder zu konzentrieren. Fortan lebten die meisten ausschließlich für ihre Kinder."

    Die enge Mutter-Kind-Beziehung wirkte sich bei den Söhnen anders aus als bei den Töchtern. Meist mussten die älteren Mädchen im Haushalt helfen und auf die jüngeren Geschwister aufpassen. Sie fühlten sich aber auch für die Mutter verantwortlich. Daraus entstand eine symbiotische, oft konfliktreiche Beziehung. Barbara Stambolis:

    "Das heißt sie hatten weniger Freiräume als die vaterlosen Söhne, die sich vielfach in Jugendgruppen engagieren konnten und ihren Müttern entkamen, die zum Teil durchaus auch fast übergriffig schon waren, also ihre Kinder sehr genau im Blick hatten, um genau diesen Erscheinungen vorzubeugen wie Verwahrlosung. Die Ausbildung der Söhne hatte sicherlich auch noch eine andere Priorität als die der Mädchen zur damaligen Zeit. Die Söhne konnten häufig die Rolle der Väter einnehmen, und das konnten die Töchter nicht, das heißt sie konnten sich zwar bewähren immer wieder indem sie genauso zupackten wie das vielleicht die Söhne getan haben, aber dieses Gefühl: Du ersetzt hier den Vater und du bist jetzt ganz wichtig, hatten die Töchter weniger."

    Ganz anders bei Uta Pauli. Ihre Mutter, eine gebildete Frau, war in der Nachkriegszeit das große Vorbild. Sie ließ den vier Kindern große Freiräume und ermöglichte ihnen trotz finanzieller Engpässe eine freie Berufswahl - Pauli wurde Lehrerin, ihr Bruder Wissenschaftler.

    Innerhalb der Großfamilie, in der männliche Familienmitglieder sowie Freunde aushalfen, verteilten sich die Rollen auf ungewöhnliche Weise. Pauli:

    "Ich hab einfach versucht, die Konsequenzen zu ziehen und habe mir zum Beispiel von meiner Großmutter eine Säge geben lassen. Sie hatte einen schönen Garten, aber sie war zu alt, um Bäume zu sägen, und dann habe ich gesagt: Gib mir mal die Säge, wir brauchen Brennholz. Und dann war ich die Verwalterin der Säge und meine Onkel - sofern sie noch da waren - mussten also die dann bei mir ausleihen. Das hat mir irgendwo ein gewisses Selbstwertgefühl gegeben. Ich mein, ganz abgesehen von dem Holz, das ich da produziert habe."

    Eckert:

    "Das war schon sehr schmerzhaft. Und hat so auch einfach Weltvertrauen zerstört, das sich eben auch sehr stark an meinen Vater richtete. Und dann war natürlich so die männliche Geschlechterrolle für mich schwieriger zu erwerben oder auszubilden oder zu profilieren. Und das hat dann auch ähnlich wie bei einigen, die auch in der Literatur vorkommen dann auch zum Anschluss an männliche Gruppenbildung so à la Pfadfinder geführt, wo das dann eher geleistet war. Man war auch eigentlich immer auf der Suche nach Älteren, die einem dies oder jenes sagen können. "

    Stambolis beschreibt die Mehrzahl der von ihr befragten Frauen als selbstbewusst und tatkräftig, lebenszugewandt und interessiert. Die Mütter haben sich sehr für ihre Ausbildung eingesetzt. Dennoch unterscheide sie ein Grundgefühl von anderen Frauen ihres Alters:

    "Sie haben alle ein ganz grundlegendes Gefühl, dass sie auf unsicherem Grund stehen, obwohl sie nach außen betrachtet ein erfolgreiches Leben gelebt haben, ganz viel gemeistert und bewältigt haben. Und trotzdem bleibt dieses Grundgefühl da und diese Sehnsucht natürlich nach dem Vater, den sie nicht gekannt haben."

    Mehrheitlich teilen vaterlose Töchter das in ihrer Lebenserzählung zentrale Gefühl, es habe sie "niemand ins Leben geführt", das heißt, es habe ihnen niemand, das heißt kein Vater "die Sterne und die Welt erklärt", weshalb sie sich trotz aller Stärken immer wieder als nur wenig selbstsicher erleben.

    Für viele Frauen bleibt die Vaterlosigkeit bestimmend, hat Stambolis beobachtet. Ihre Untersuchung zeige, dass sie hohe Ansprüche an eine Partnerschaft stellen, für die sie von elterlicher Seite keinerlei Vorbild haben. Sie fragen sich, ob sie ihren Kindern und Enkeln gegenüber mehr Gefühle hätten zeigen sollen - statt sich auf den materiellen Schutz zu konzentrieren oder ihnen zu vermitteln: "Sei doch nicht so zimperlich!"

    Stambolis spricht von den "Erziehungserbschaften", die bis weit ins 20. Jahrhundert zurückreichen. Die Vaterlosigkeit kann sich sogar über mehrere Generationen ziehen: Die Witwen des Zweiten Weltkriegs hatten ihrerseits Mütter, die im Ersten Weltkrieg den Mann verloren. Manche ihrer Kinder haben später die Scheidung eingereicht - und wieder fehlte den Nachkommen der Vater.

    Offen bleibt die Frage, welchen Lebensweg jene "Kriegstöchter" eingeschlagen haben, die an einer wissenschaftlichen Befragung nicht teilnehmen wollen oder können. Sind auch sie erfolgreich geworden? Oder anders erfolgreich? Welche Rolle spielt bei ihnen der Vater?

    Uta Pauli, die pensionierte Lehrerin, hat ihre schlechten Träume überwinden können. Ihr Bruder Roland Eckert forscht als Professor für Soziologie über Gewalt. Für ihn bleibt der Nationalsozialismus mitsamt dem erlittenen Verlust ein "Lebensthema":

    "Nee, also die Melancholie ist eigentlich geblieben, die ich mein Lebtag lang hatte und die Frage ist halt, wie kann ein so lieber Mensch (lacht) einer solchen menschenverachtenden Ideologie zum Opfer fallen, dass er sich dann in diesem wahnwitzigen Krieg meldet."

    Pauli:

    "Dass ich irgendwie traumatisiert bin durch den Tod oder zu frühen Tod. Das schon. Aber das habe ich eben einfach festgestellt: Das ist so und das wird so bleiben. Vor allen Dingen der zu frühe Tod, mein Vater war ja so jung noch. Nicht der Tod an sich ist das Schreckliche, sondern eben wenn so etwas zu früh passiert: Warum das sein muss. Das ist etwas, woran ich immer knabbere sozusagen und eigentlich keine Antwort weiß, aber es kommt dann immer wieder."

    Fooken:

    "Es gab aber auch viele Träume und die Träume haben einen Teil der Frauen eigentlich zum Teil bis heute begleitet. Also Wiederholungsträume, die immer nach dem gleichen Muster ablaufen, dass an bestimmten Stellen an der Straße oder die Tür aufgeht und der Vater kommt rein. Es ist dann oft schwierig, ob es im Traum aufgelöst wird, ob es zu einer Umarmung kommt, das ist oft nicht. Oft wird dann aufgewacht."


    Mit dem Thema beschäftigt sich auch eine Tagung in Münster mit dem Titel "Vaterlosigkeit in vaterarmen Zeiten".