Natalja Ponomarowa sitzt im ärmellosen pinkfarbenen T-Shirt und schwarzen Leggins auf der unteren Etage eines Doppelstockbetts. Das Notquartier, zu der dieses ehemalige Büro umgebaut wurde, teilen sich sechs Familien, 33 Personen. Es gibt ein Bad. Der Raum ist überheizt. Die 40-jährige Bäckersfrau aus der Ostukraine kaut an den Nägeln. Ist aufgeregt, behält ihre Kinder im Auge. Zwei Söhne, drei Töchter. Erst vor wenigen Tagen sind sie aus dem von den Separatisten besetzten Gebiet geflohen.
"Ich kann dort nicht mit den Kindern bleiben. Russland hat schon wieder neue Militärtechnik geschickt. Wir wohnen einen Kilometer von dem Militärstützpunkt entfernt. Seit kurz vor Neujahr liefern sie massiv Technik. Jetzt geht wahrscheinlich alles wieder von vorn los! Jetzt fallen wieder Bomben. Ich habe dort mein Haus, meinen Hof, in Brjanka bei Stachaaanow. In der Pufferzone. Verstehen Sie? Jetzt geht das wieder alles los. Sie haben Panzern hergebracht, gepanzerten Mannschaftswagen, Kanonengeschütze. Schwere Technik. Alles von Neuem dorthin. Und Soldaten in russischer Uniform. Viele. Ganze Ural-LKWs voll. Die Kolonne fuhr eine Stunde lang bei uns durchs Dorf. Ich vermute, das war ein ganzes Batallion. Das sind alles russische Soldaten. Ich bin doch nicht schuld."
Der zweiälteste Sohn wirft einen besorgten Blick auf seine weinende Mutter. Er sucht im Handy Fotos von den Patronenhülsen, die er zu Hause im Dorf auf der Straße gesammelt hat. Er erzählt, dass er abends nach sieben keinen Freund mehr besuchen durfte, weil im okkupierten Gebiet von 19 bis 6 Uhr Sperrstunde gilt. Jetzt soll Pawel in Charkiw zur Schule gehen.
Kinderhilfswerk Unicef trainiert die Schulpsychologen
In der eiskalten Aula der 52. Schule dirigiert die Direktorin den Chor. Auch wenn die weißen Blusen und gelben Halstücher ziemlich sowjetisch aussehen, die Methoden, nach denen ein ganzes Team in der Schule die Flüchtlingskinder betreut, sind modern. Auch dank des Kinderhilfswerkes Unicef, das die Psychologen trainiert. Die Schulpsychologin Olga Kasumowa schildert, wann ein Kind möglicherweise Hilfe braucht.
"Diese Schüler haben mitunter Motivationsprobleme, können überempfindlich, hyperaktiv, aggressiv, leicht erregbar sein oder unfähig, sich unter Kontrolle zu halten."
In einem Klassenraum, der eher wie ein Spielzimmer aussieht, stehen Sandkästen auf den Schultischen. Daneben jede Menge Tierfiguren. Die Kinder bauen zusammen einen Zoo. Die Absicht: Gemeinsam etwas Fröhliches tun und an etwas Schönes denken. Olena Nurejewa, die als Regionaltrainerin Schulpsychologen ausbildet, erklärt, was bei den kriegstraumatisierten Kindern erreicht werden soll:
"Wichtig ist, dass die Kinder wieder in Kontakt mit ihrer Umgebung treten, dass sie mit ihren Gefühlen fertig werden, dass sie wieder positive Emotionen und Gedanken bekommen. Dass der Kontakt zu den Eltern und den Kindern untereinander wieder funktioniert, denn der ist häufig verloren gegangen. Ganz wichtig ist, dass sie lernen, sich selbst mit etwas zu beschäftigen, das in ihnen guttut und die dunkle Vergangenheit vergessen lässt. Wir zeigen den Kindern, sich selbst eine Art sozialer Karte zu schaffen. Sie müssen wissen, an wen sie sich wenden können. Sie sind in einer neuen Umgebung und brauchen Ansprechpartner beim Sport, für ihre Hobbies, bei den Hausaufgaben, wenn sie krank sind."
Jelena Trutzka ist Kunstpädagogin in der Dimitrewski Straße in Charkiws Zentrum. Bei ihr können sich Kinder und Erwachsene ihren Kummer von der Seele malen. Auf dem Papier erscheinen keine Panzer, sondern Blumen, Vögel, Fantasiegestalten. Alles wie mit farbigen Federstrichen hingeworfen. Im Stil der alten ukrainischen Volksmalerei, die angeblich leicht erlernbar ist.
Malen soll die Kinder wieder ins Gleichgewicht bringen
"Wenn die Kinder in einem schwierigen emotionalen Zustand hierher kommen, sorge ich erst einmal dafür, dass sie sich wohlfühlen und dann tuschen wir mit Wasserfarben. Meine Devise lautet: Keiner ist unbegabt, jeder kann malen. Ich schlage die Petrakiwka-Malerei vor, das ist ein Folklore-Stil aus dem 16. Jahrhundert. Die Frauen, die damals auf ihre Kosaken-Männer warteten, wollten denen eine Freude machen. Sie malten die Hütten an und später auch Möbel und Geschirr."
Die Pädagogin ist überzeugt davon, dass Malen nicht nur die Kinder wieder ins Gleichgewicht bringen, sondern ebenso Erwachsenen helfen kann. Der 40-jährigen Elena aus Perwomaiksoje vielleicht auch. Die Flüchtlingsfrau hat die Schrecken, die sie in der monatelang umkämpften Stadt in der Ostukraine vor anderthalb Jahren erlebt hat, bis heute nicht verarbeitet. Sobald sie darüber redet, überwältigen sie die Erinnerungen, als sei das Ganze gestern geschehen.
"Als die Kampfhandlungen 30 Kilometer von uns entfernt stattfanden, dachten wir, dass uns das nichts anging. Am 22. Juli 2014 war es erstaunlich ruhig, wir gingen auf den Markt Milch kaufen für meine anderthalbjährige Tochter. Die Ältere war zwölf. Auf der Straße plauderten wir noch mit einer Nachbarin, als plötzlich alles in die Luft flog. Meine Tochter rannte ins Haus und holte die Tochter meines Bruders, ich rannte mit der Kleinen vor in den Keller und dort beteten wir alle, denn wir wollten doch leben. Als wir nach der Flucht hier in Charkiw ankamen, sah ich, dass das Haar meiner Tochter grau war."
Für manchen Erwachsenen wäre psychologische Hilfe ebenso wichtig, vor allem dann, wenn sie als Eltern doch die Kinder stabilisieren wollen.