Kinder spielen bei der Verbreitung von SARS-CoV-2 keine große Rolle, betonen Fachleute immer wieder. Doch mittlerweile steigen die Fallzahlen bei den unter 15-jährigen deutlich, das Robert-Koch-Institut zählt mehrere Ausbrüche in Kitas. Diese Entwicklung fällt zusammen mit der Wiederaufnahme des Präsenzunterrichts an den Schulen in mehreren Bundesländern und mit der wachsenden Verbreitung der ansteckenderen Corona-Variante B 1.1.7. aus Großbritannien.
Dötsch: Kinder-Ansteckung kaum verändert - trotz Mutante
Professor Jörg Dötsch ist Präsident der Deutschen Gesellschaft für Kinder- und Jugendmedizin und leitet die Klinik für Kinder- und Jugendmedizin der Uniklinik Köln. Im Dlf-Interview erklärt er, warum er - obwohl die 7-Tage-Inzidenz bei unter 4-Jährigen aktuell höher ist als bei den über 60-Jährigen - nicht allzu beunruhigt ist.
Jörg Dötsch: Es ist natürlich insgesamt beunruhigend, dass die Fallzahlen in Deutschland wieder steigen. Wir haben allerdings im Moment natürlich eine Situation, in der wir nicht ganz genau sagen können: Wie kommt es dazu, dass jetzt auch jüngere Gruppen stärker betroffen sind? Es ist ja durchaus denkbar auch, dass durch die Familien letztlich die Infektionen an die Kinder herangetragen werden. Das ist sogar in unseren Augen aus mehreren Gründen wahrscheinlicher. Erstens sind ja letztlich die Einrichtungen auch lange Zeit geschlossen gewesen beziehungsweise auch nur in Teilen jetzt offen. Insbesondere die Schulen in den mittleren Klassen öffnen ja zum Großteil heute erst.
Das Zweite ist eben: Es gibt eine ganze Reihe von Beobachtungen aus England - Beobachtungen, die noch vor einigen Wochen auch das Robert Koch-Institut geteilt hatte -, auch mit der neuen Variante, dass die Ansteckung unter Kindern und Jugendlichen sich nicht großartig verändert hat gegenüber der ursprünglichen Variante, von der wir ja definitiv wissen, dass die Ansteckung unter Kindern um etwa einen Faktor 10 geringer war als unter Erwachsenen. Das Dritte ist, dass wir eben auch Berichte haben von lokalen Gesundheitsämtern, die zeigen, dass die Ansteckungen an Schulen, an Kitas im Gesamtinfektgeschehen nur einen ganz, ganz geringen Anteil ausmachen und dass sie, wenn dann eher im Umfeld entstehen, zum Teil eben auch dann zwischen den Erwachsenen, die in diesem Umfeld sich bewegen.
Stigler: Also es wären dann eher die Eltern, die die Kinder zur Schule bringen, zum Beispiel?
Dötsch: Genau, die Eltern. Natürlich ist auch denkbar, die Lehrer - bitte nicht falsch verstanden wissen: Wir sind so glücklich, dass die Lehrer diese Tätigkeit machen, und das ist eine sehr verantwortungsvolle Tätigkeit. Aber auch das ist natürlich denkbar, dass auch die Ansteckung von einem Lehrer auf einen Schüler erfolgt und nicht nur umgekehrt. Wir selbst haben in der Tat im November/Dezember Untersuchungen gemacht, wo wir bei asymptomatischen Infizierten, also bei Kindern und Jugendlichen, die eben keine Symptome hatten, sondern durch Zufall herausgepickt wurden, quasi keine Ansteckungen gesehen haben in den Schulen und in den Kitas. Insofern sind wir einfach sehr skeptisch, alleine aufgrund der gestiegenen Fallzahl bei Kindern und Jugendlichen, die ja zu erwarten war bei einer ansteckenderen Variante, den Schluss zu ziehen, dass die Schulen und die Kitas jetzt auf einmal ein großer Motor sein sollen.
"Gravierende Folgeerscheinungen durch Schulschließungen"
Stigler: Halten Sie es trotz der gestiegenen Infektionszahlen weiterhin für sinnvoll, dass die Schulen jetzt auch ab heute in mehreren Bundesländern noch mehr Präsenzunterricht anbieten?
Dötsch: Ja, wir halten es sogar für unausweichlich. Wir glauben, dass letztlich durch die Schulschließungen es zu zum Teil gravierenden psychischen und auch körperlichen Folgeerscheinungen bei Kindern und Jugendlichen gekommen ist. Wir wissen, dass sich mittlerweile an die 90 Prozent der Kinder und Jugendlichen schwer belastet fühlen. Das ist etwa das Zwei- bis Dreifache der Belastungssituation, die Kinder vor der Pandemie gespürt haben. Wir wissen, dass die Zahl von Vernachlässigungen, auch zum Teil von gewalttätigen Handlungen an Kindern zugenommen hat. Das heißt also, der Teil der Gesellschaft, der eigentlich relativ milde von der Infektion betroffen ist, ist derjenige Teil, der am meisten leidet unter den Einschränkungen. Wir können heute noch gar nicht ermessen, was das eben an Folgeerscheinungen bis ins Erwachsenenalter mit sich führen könnte. Deswegen sind wir vollständig davon überzeugt, dass es notwendig ist, die Schulen soweit wie möglich zu öffnen und auch offenzuhalten.
Stigler: Das Risiko für schwere Verläufe einer Corona-Infektion ist ja bei Kindern und Jugendlichen deutlich geringer als jetzt Älteren, aber es ist nicht null. Das heißt, man muss trotzdem immer abwägen: Auf der einen Seite das Risiko einer Erkrankung und auf der anderen Seite eben die Risiken, die Sie gerade beschrieben haben?
Dötsch: Ganz genau. Was wir hauptsächlich bei Kindern und Jugendlichen erleben, ist dieses zweite Kranksein, wenn Sie so wollen. Das bedeutet, dass auf die Corona-Infektion eine überschießende Immunreaktion entstehen kann. Die ist relativ häufig, aber sie ist glücklicherweise auch sehr gut in den Griff zu bekommen mit Cortisonpräparaten, mit Immunglobuline. Und wir erleben, zumindest nach dem, was man bis heute sagen kann, keine langfristigen Folgen dadurch. Das ist wie gesagt ganz anders als die Folgen, die wir durch die Isolation und das Schuldefizit erleben.
"Zu früh, um Schulen wieder zu schließen"
Stigler: Ich hab jetzt verstanden, dass Sie Schulöffnungen für dringend notwendig halten. Werden diese denn Ihrer Ansicht nach von einem guten Infektionsschutzplan und Teststrategien begleitet?
Dötsch: Genau, das ist ein ganz wichtiger Punkt. Es ist jetzt zu früh, schon wieder Schulschließungen ins Spiel zu bringen, solange wir noch kein für die Breite der Schulen ausgearbeitetes Testsystem installiert haben. Das wäre das, was jetzt im Moment wirklich nötig ist, und das müsste schnell geschehen. Die Österreicher haben uns das vorgemacht, die haben das hinbekommen, basierend auf einem Schnelltestsystem. Und die haben das auch so verbindlich gestaltet, dass sich im Prinzip alle testen lassen müssen und haben damit ein großes Sicherheitsnetz über die Schulen gewoben. Das ist natürlich eine Möglichkeit, die wir auch haben. Sei es mit Schnelltests – das ist eine Möglichkeit, die ja auch schon lange von der Politik in Aussicht gestellt ist - oder über gepoolte PCR-Testmethoden, auch das ist eine Alternative, die an vielen Stellen schon sehr erfolgreich praktiziert wird.
Stigler: Über diese verschiedenen Varianten wird ja schon länger diskutiert. Würden Sie sagen, dass da wirklich schon viel passiert ist, viel umgesetzt wurde?
Dötsch: Ja, punktuell sind schon viele gute Ansätze gemacht worden. Das Wesentliche ist jetzt, das Ganze wirklich in die Fläche zu bringen, also in der Fläche auch wirksam werden zu lassen, ähnlich wie es in Österreich geschehen ist.
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