Jonas Ludvigsson ist seit mehr als 20 Jahren Kinderarzt in Schweden. Außerdem forscht er zu Infektionskrankheiten wie Grippe und Schweinegrippe bei Kindern. Oft wurde er in der Anfangszeit der Coronakrise gefragt, wie ansteckend Kinder seien. Als in anderen Ländern Schulen und Kindergärten geschlossen wurden, entschied er sich, diese Frage systematisch zu untersuchen. Er analysierte 47 Studien, die sich mit COVID-19 bei Kindern beschäftigt haben.
"Zusammengefasst zeigen die untersuchten Studien unter anderem, dass Kinder ansteckend sind und dass man bei ihnen Coronaviren nachweisen kann. Auch wenn sie keine Symptome zeigen. Aber die Studien zeigen auch, dass Kinder weniger Symptome haben und deshalb wahrscheinlich weniger ansteckend sind. Das kann daran liegen, dass Kinder vermutlich weniger Viren haben und seltener Husten und Schnupfen. Und das ist ja der Weg, auf dem das Virus übertragen wird."
Drosten-Studie: Schwedische Forscher kommen zu anderen Ergebnissen
Weitere Studien hätten zudem gezeigt, dass Kinder in den meisten Fällen nicht als erste erkranken, wenn sich COVID-19 in einer Familie ausbreitet. Bei der Grippe sei das anders, meint Ludvigsson.
Unter den Studien, die der Forscher untersucht hat, befand sich auch ein Artikel des Berliner Virologen Christian Drosten, der Ende April als Preprint, also als Vorab-Veröffentlichung erschienen ist. Gemeinsam mit seinem Team hatte Drosten die Virusmengen bei Kindern und Erwachsenen unterschiedlicher Altersgruppen untersucht. Nach ihrer statistischen Auswertung der Daten kamen die Forscher zu dem Ergebnis, dass Kinder genauso ansteckend seien, wie Erwachsene. Medien hatten über die Studie berichtet und damit eine Diskussion unter Journalisten und Forschern ausgelöst.
"Das ist eine wichtige Studie, aber ich ziehe ganz andere Rückschlüsse aus den Ergebnissen, als die Autoren. Wenn man sich die Daten und die Abbildungen anschaut, sieht man, dass es sehr wohl Unterschiede in der Viruslast von Erwachsenen und Kindern gibt. Die Forscher haben in ihrer statistischen Auswertung aber jeweils verschiedene Altersgruppen untereinander verglichen. Doch das naheliegendste wäre gewesen, alle Kinder mit allen Erwachsenen zu vergleichen. Und das haben die Forscher nicht getan."
Forschung aktuell hat Christian Drosten wiederholt, aber vergeblich, um einen Kommentar zu Ludvigssons Argumenten gebeten.
Ein weiterer Punkt, den Ludvigsson kritisiert: Drosten und sein Team hätten kranke Kinder untersucht. Doch Kinder mit deutlichen Symptomen würden von ihren Eltern nicht in die Schule geschickt.
"Diese Studie ist deshalb für die Frage, ob man Schulen und Kindergärten öffnen soll, nicht relevant. Sie zeigt die Viruslast von Kindern, die krank zuhause sind oder im Krankenhaus liegen. Deshalb verstehe ich überhaupt nicht, warum diese Studie als Argument dafür herangezogen wird, dass man in Deutschland die Schulen und Kindergärten nicht wieder öffnen sollte."
Schulen und Kindergärten kein Umschlagplatz für SARS-Coviren-2?
Erste Ergebnisse einer Studie aus Heidelberg weisen ebenfalls darauf hin, dass Kinder keine herausragende Rolle in der Ausbreitungsdynamik von COVID-19 spielen. Diese Studie ist noch nicht veröffentlicht.
Die Erfahrungen aus Schweden zeigten jedoch ebenfalls, dass Schulen und Kindergärten kein Umschlagplatz für Sars-Coviren-2 gewesen seien, meint Ludvigsson. Im Gegensatz zu vielen anderen Ländern waren hier während der Coronakrise Kindergärten und Schulen bis zur neunten Klasse geöffnet.
"Ich denke, dass Schulen und Kindergärten offen bleiben können. Natürlich besteht dann ein erhöhtes Risiko, dass sich Kinder untereinander anstecken. Aber wir wissen, dass sie fast nie schwer krank werden. Und sie stecken auch keine alten Menschen an, wenn sie in der Schule sind. Deswegen führen geöffnete Schulen nicht zu höheren Todeszahlen. In Schweden waren die Schulen während der Pandemie ja geöffnet und rechnet man Kitas mit, sind hier etwa 1,5 Millionen Kinder und Jugendliche in ihre Einrichtungen gegangen."
Dennoch habe es nach Angaben von "Folkhälsomyndigheten", der schwedischen Gesundheitsbehörde, nur sehr wenige Ausbrüche an schwedischen Schulen gegeben. Auch seien Lehrer in Schweden keine Berufsgruppe, die häufiger an COVID-19 erkrankten, als andere. Allerdings wird in Schweden im Vergleich zu anderen Ländern nur sehr wenig getestet. Daher ist es kaum möglich, Infektionswege nachzuvollziehen.
"Das stimmt absolut, Schüler werden nur selten getestet. Aber die Frage, ob Schüler Ausbrüche verursachen, die zu Infektionen mit milden Symptomen führen, finde ich irrelevant. Relevant ist die Frage, ob Schulen zu Ausbrüchen führen, bei denen Menschen schwer krank werden. Auch in Schweden gibt es momentan nur ein Thema: Die Menschen reden und diskutieren nur über COVID-19. Und wenn es solche Ausbrüche gegeben hätte, bei denen sich viele Schüler und Lehrer infiziert hätten und schwer krank geworden wären, wäre das die erste Nachricht gewesen."
Auch Jonas Ludvigsson ist für seine Metastudie kritisiert worden. Vor allem deutsche Journalisten hätten ihm vorgeworfen, dass ihm die Schicksale von Kindern egal seien, sagte er im Interview.