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Kinderarbeit
Auf Augenhöhe mit den Müllsammlern

Wenn es um Kinderarbeit geht, denken die meisten Menschen in Westeuropa an minderjährige Minenarbeiter oder Müllsammler. Armut sei aber nicht der einzige Grund, warum Kinder erwerbstätig werden, erklärt der Autor Georg Wimmer in seinem Buch "Kinderarbeit - ein Tabu. Mythen, Fakten, Perspektiven". Er plädiert für eine differenziertere Herangehensweise an dieses Thema.

Von Ralph Gerstenberg |
    Ein Junge verkauft Schmuck auf dem historischen Khan el Khalili-Markt in Kairo
    Ein Junge verkauft Schmuck auf dem historischen Khan el Khalili-Markt in Kairo (picture alliance / dpa / epa / afp / Marwan Naamani)
    Beim Thema Kinderarbeit sind die Meinungen in der Regel ungeteilt: Kinderarbeit sei Ausbeutung, sie raube den Kindern ihre Kindheit, schädige deren Gesundheit, geschehe in der Regel unter Zwang und sei ohne Wenn und Aber unter Strafe zu stellen. Bei der Erwähnung des Begriffs erscheinen vor dem geistigen Auge der meisten Menschen minderjährige Minenarbeiter und Teppichknüpfer, Kindersoldaten und Müllsammler. Kinderarbeit sei ein Tabu, erklärt Georg Wimmer in seinem gleichnamigen Buch, ein Tabu, das auch der Autor lange Zeit nicht hinterfragt hat.
    "Ich hatte dieselben Ansichten wie die Mehrheit der Menschen zur Kinderarbeit. Ist verboten, ist schlecht, wir verbieten, das passt. Ich bin dann im Zuge eines Auslandssemesters zufällig in Nicaragua in eine Versammlung der arbeitenden Kinder von Nicaragua geraten. Also die Kinder waren dort organisiert. Und ich war ziemlich von der Socke, muss ich ehrlich sagen. (...) Ich dachte, ich weiß viel. Und das Thema hat mich deshalb auch gar nicht interessiert journalistisch, wenn eh alles bekannt ist. Aber mit den Zugängen, dass ich da Kinder treffe, die stolz sind auf ihre Arbeit, die sagen: Ich will Rechte und keine Verbote. Die haben Respekt eingefordert. Das hat mich ziemlich umgehauen, und da hat dann die Recherche begonnen."
    Anreize für Kinder, von sich aus zu arbeiten
    Für sein Buch hat Georg Wimmer vor allem in lateinamerikanischen Ländern recherchiert, in denen Kinder und Jugendliche oft gar keine andere Wahl haben, als etwas dazu zu verdienen, weil die Familien vom mageren Einkommen der Eltern nicht überleben könnten. Vor allem zu Erntezeiten in der Landwirtschaft, wo besonders geringe Löhne gezahlt werden, arbeiten Kinder Seit‘ an Seit‘ mit ihren Eltern im Akkord. Doch Armut sei nicht der einzige Grund, warum Kinder erwerbstätig werden, führt Georg Wimmer aus, es gebe durchaus auch Anreize für Kinder, von sich aus zu arbeiten.
    "Auch Kinder in Lateinamerika oder in Afrika wollen mal ein tolles Hemd haben. Ein Junge will ein Mädchen am Wochenende auf ein Eis einladen können. Und die Eltern werden ihm das Geld nicht geben können. Und der Junge sagt dann: Okay, ich stell mich an die Kreuzung und wasche die Scheiben von den Autos. Das muss jetzt nicht die brutale Armut sein. Der Junge erweitert sich seinen Handlungsspielraum, indem er am Nachmittag zwei Stunden diese Tätigkeiten ausführt."
    Wirtschaftliche und politische Strukturen bleiben verborgen
    In der modernen westlichen Welt - so Wimmer - gelte die Kindheit als geschützter Raum, in dem man behutsam auf das Erwachsenenleben vorbereitet werde. Anderswo auf der Welt, vor allem in den Entwicklungsländern, existiert diese Trennung zwischen der Kinder- und der Erwachsenenwelt nicht. Während die Eltern dort oft in schlecht bezahlten Jobs viele Stunden am Tag schuften müssen, übernehmen die älteren Kinder ganz selbstverständlich reproduktive Tätigkeiten im Haushalt: Kochen, Wäsche waschen, Putzen, auf die kleineren Geschwister aufpassen. Diese Tätigkeiten tauchen in den gut gemeinten, für das Kindeswohl eintretenden Bestrebungen, beispielsweise der Internationalen Arbeitsorganisation ILO, nicht auf, wo man sich vor allem auf die industrielle Produktion konzentriert. Um den Begriff der Kinderarbeit dort zu kategorisieren, so Wimmer, werde oft der Zusatz "ausbeuterisch" verwendet.
    "Wenn nun Kinderarbeit mit dem Prädikat 'ausbeuterisch' versehen wird, so erfährt der Begriff eine Erweiterung, ohne das vorliegende Phänomen präzise zu beschreiben. Zwar konzentriert sich der Blick noch stärker auf die Arbeitsbedingungen von Kindern, beleuchtet aber nicht die für Ausbeutung verantwortlichen gesellschaftlichen, wirtschaftlichen und politischen Strukturen, die sich dahinter verbergen. Wir sollten uns vielmehr fragen, warum diese Kinder überhaupt arbeiten oder warum ihre Eltern so wenig verdienen, dass sie ihre Kinder zur Arbeit schicken. Warum finden wir so viele arbeitende Kinder in Billiglohnländern? Wem nützt es, dass in diesen Ländern so niedrige Löhne gezahlt werden?"
    "Jeder wird natürlich sagen: Ökonomische Entwicklung wird die Armut reduzieren. Stimmt auch nur zum Teil, weil es ja letztendlich um Umverteilung geht. Das heißt ja nicht, dass bei den Armen da was ankommt. Was immer ganz essenziell ist, sind Bildungsangebote. Wir sagen immer: Kinder, geht in die Schule und alles wird gut. Wir haben aber keine Ahnung, was in diesen Schulen geboten wird. Das sind Schulen auf einem jämmerlichen Niveau. Schulen, wo Kinder gedemütigt werden, wo Kinder gelangweilt sind, wo sie Lerninhalte präsentiert bekommen, die mit ihrem Leben nichts zu tun haben. (...) Dann fragen sie sich natürlich, warum soll ich mir das so lange antun. Geh ich lieber arbeiten."
    Die Arbeit der Kinder wertschätzen
    In seinem Buch kritisiert Georg Wimmer auch die ILO, die sich als Vorkämpferin für ein Verbot von Kinderarbeit sieht und eine "geistige Führerschaft" beansprucht. Dabei operiert die Organisation mit Bildern von Versklavung und sexuellem Missbrauch, Bilder, die schlimmste Formen von Ausbeutung zeigen. Diese könne man jedoch nicht pauschalisieren, meint Georg Wimmer und setzt dagegen Beispiele von Kindern, die aus gutem Grund Geld verdienen, beispielsweise um sich ihre Ausbildung zu finanzieren. Vor allem blieben beim Kampf der ILO gegen Kinderarbeit die Erfahrungen und Ansichten derjenigen unberücksichtigt, für deren Wohl die Organisation eintreten will.
    "Ich muss ja, wenn ich jemandem helfen will, dem auch zunächst mal zuhören, was seine Probleme sind, welche Lösungsvorschläge der sieht, und nicht mit fertigem Rezept herkommen und dem sagen, wie ich ihm jetzt helfe. Das wird nicht funktionieren, zum einen weil’s der andere möglicherweise nicht versteht, und zum anderen weil ich als Helfer möglicherweise was übersehen habe. Und das ist im Fall der Kinderarbeit gegeben. Die Meinungen der Kinder spielen da im Wesentlichen keine Rolle."
    In seinem Buch "Kinderarbeit - ein Tabu" plädiert Georg Wimmer für einen differenzierten Umgang mit der Problematik. Natürlich sei er gegen jede Form von Ausbeutung und ein klarer Verfechter von Mindestlöhnen in der industriellen Produktion. Doch Rechte könnten Kinder nur dann einfordern, wenn das, was sie tun, nicht verboten sei. So bemüht sich Wimmer immer wieder darum, die Position der arbeitenden Kinder zu verstehen und zu berücksichtigen. Auch wenn sich sein Buch gegen die Tabuisierung von Kinderarbeit wendet, ist es kein Pamphlet geworden, sondern eine gut recherchierte, mit vielen Beispielen, Fakten und Hintergrundinformationen argumentierende Auseinandersetzung mit einem Phänomen, das für mindestens 100 Millionen Kinder weltweit Realität ist. Georg Wimmer begegnet ihnen auf den Märkten Bogotás oder den Müllkippen Managuas stets auf Augenhöhe und bringt ihnen das entgegen, was sie verdienen: Respekt.
    "Das ist bei arbeitenden Kindern immer ganz wichtig, sie wertzuschätzen, zu sagen: Hut ab davor, was du machst, was du leistest. Wir sehen in ihnen Opfer."
    Georg Wimmer: "Kinderarbeit - ein Tabu. Mythen, Fakten, Perspektiven", Mandelbaum Verlag, 280 Seiten, 19,90 Euro