Weltweit verrichten nach Schätzung der Internationalen Arbeitsorganisation der UNO rund 160 Millionen Kinder und Jugendliche ausbeuterische Arbeit. In Deutschland gibt es strenge Gesetze gegen Kinderarbeit. Dennoch existiert eine Grauzone, in der sich viele arbeitende Kinder und Jugendliche sowie deren Eltern bewegen.
Inhalt
- Welche rechtlichen Regelungen gibt es in Deutschland zur Arbeit von Kindern?
- Warum ist der Begriff Kinderarbeit umstritten?
- In welchen Branchen und in welchem Umfang gibt es in Deutschland Kinderarbeit?
- Was bewerten Kinderrechtsorganisationen Kinderarbeit in Deutschland?
- Sollten die Kinder stärker in die Diskussion einbezogen werden?
Welche rechtlichen Regelungen gibt es in Deutschland zur Arbeit von Kindern?
Das deutsche Jugendarbeitsschutzgesetz erlaubt Kindern über 13 Jahren und vollzeitschulpflichtigen Jugendlichen unter 18 leichte Tätigkeiten und nicht mehr als zwei Stunden am Tag. In landwirtschaftlichen Familienbetrieben sind drei Stunden zwischen acht und 18 Uhr erlaubt. Die Arbeit, heißt es im Gesetz, soll ihrer Gesundheit und Entwicklung nicht schaden und mit dem Schulbesuch vereinbar sein.
„Wenn Kinder und Jugendliche ihren Eltern im Haushalt helfen oder in ihrer Freizeit ihr Taschengeld aufbessern, ist das nicht illegal und kann sich positiv auf die persönliche Entwicklung der Kinder auswirken“, heißt es auf der Internetseite des Bundesministerium für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung zur Kinderarbeit. Die Verordnung über den Kinderarbeitsschutz konkretisiert, welche Arbeiten erlaubt sind : „Zugelassen werden – mit Ausnahme des Austragens von Zeitungen, Zeitschriften, Anzeigenblättern und Werbeprospekten – nur Beschäftigungen im nichtgewerblichen Bereich.“
Warum ist der Begriff Kinderarbeit umstritten?
„Nicht jede von Kindern geleistete Arbeit gilt als – völkerrechtlich verbotene – Kinderarbeit“, schreibt das Bundeswirtschaftsministerium auf seiner Internetseite und betont die Arbeitsbereiche für Kinder, die in Deutschland nicht illegal sind, und dass Tätigkeiten dort sich förderlich auf die Entwicklung von Kindern und Jugendlichen auswirken können.
Die Kinderrechtsorganisation Terre des Hommes hat sich 2024 erstmals mit dem Thema Kinderarbeit in Deutschland beschäftigt und für eine erste kleine Studie mit jungen Menschen unterschiedlicher sozialer Herkunft an vier Orten diskutiert.
Den Begriff Kinderarbeit hätten die von ihr befragten Kinder und Jugendlichen alle abgelehnt, sagt Mitarbeiterin Antje Ruhmann. Auch für Manfred Liebel ist „Kinderarbeit“ ein unpassender Begriff. Er engagiert sich im gemeinnützigen Verein Pronats, der sich für die Stärkung der Rechte von arbeitenden Kindern und Jugendlichen einsetzt.
Der Ausdruck Kinderarbeit, betont Liebel, stamme noch aus der Zeit der frühen Industrialisierung, als Kinder in Textilfabriken und Bergwerken schuften mussten: „Dieser Begriff ist im Deutschen so negativ besetzt, dass er ein unbefangenes Denken und Sprechen darüber im Grunde genommen fast unmöglich macht. Und damit auch ein Dunkelfeld schafft. Wenn das Dunkelfeld nicht mehr wäre, dann wären Kinder auch selber sichtbarer als Personen, auch mit dem, was sie denken, machen und wünschen.“
In welchen Branchen gibt es in Deutschland Kinderarbeit?
Laut Kinderarbeitsschutzverordnung dürfen Kinder und Jugendliche im Rahmen der bereits erwähnten gesetzlichen Bestimmungen in folgenden Bereichen arbeiten: beim Austragen von Zeitungen, Zeitschriften, Anzeigenblättern und Werbeprospekten, in privaten und landwirtschaftlichen Haushalten, in landwirtschaftlichen Betrieben, bei "Handreichungen beim Sport" sowie im Rahmen von "nichtgewerblichen Aktionen und Veranstaltungen der Kirchen, Religionsgemeinschaften, Verbände, Vereine und Parteien".
Das entspricht zum Teil den Bereichen, auf die Terre des Hommes im Rahmen seiner Studie gestoßen ist. Mitarbeiterin Antje Ruhmann ist dennoch überrascht „und auch erstaunt, wie viel diese Kinder tatsächlich neben der Schule machen. Das geht von der Landwirtschaft über die Gastronomie bis hin zu Mithilfe in mittelständischen Familienbetrieben, Betreuung von Geschwistern zu Hause, klassische Haushaltshilfe et cetera.“
Neben Landwirtschaft und Gastronomie arbeiten Kinder und Jugendliche häufig noch im Bereich der häuslichen Pflege mit. Das Bundesgesundheitsministerium hat 2018 eine Studie zu jenen Kindern und Jugendlichen veranlasst, die - von der Öffentlichkeit unbemerkt - zu Hause in die Pflege eingebunden sind. Fast eine halbe Million junge Menschen, so die Hochrechnung in der Studie, kümmert sich mit um ihre Angehörigen, die chronisch körperlich oder psychisch krank sind oder eine Behinderung haben. Eine Notlage, die auch Mithilfe im Haushalt erfordert.
Nach Ansicht von Kinderarbeitsexpertin Antje Ruhmann muss zunächst aber die Gefährdung von Kindern durch ein bislang wenig beachtetes, neueres Phänomen sichtbar werden: Eltern, die als Familieninfluencer ihr Geld verdienen. Sie stellen Fotos und Videos ihrer Kinder ins Netz – und damit deren Privatleben zur Schau, zum Beispiel beim Zähneputzen oder Gutenacht-Sagen.
Valide Zahlen in größerem Umfang zur Größenordnung von möglicher Kinderarbeit in Deutschland liegen offenbar nicht vor. Terre des Hommes fasst das Ergebnis seiner Untersuchung von 2024 so zusammen: „Eine Befragung von 37 arbeitenden Kindern und Jugendlichen aus diversen sozialen Schichten in Brandenburg, Niedersachsen und Nordrhein-Westfalen ergab 14 Tätigkeiten und Arbeitsbedingungen, die eindeutig gegen das Jugendarbeitsschutzgesetz verstoßen.“
Zu den Arbeiten, um die es ging, zählten etwa „Türstehen oder der Ausschank von Alkohol, zu lange Arbeitszeiten, Nachtarbeit oder der Umgang mit gefährlichen Werkzeugen wie etwa großen Landmaschinen.“ Und: „In vielen Fällen wurde dabei das Mindestalter von 13 Jahren unterschritten“, schreibt Terre des Hommes auf seiner Webseite zur Studie.
Wie bewerten Kinderrechtsorganisationen zur Kinderarbeit in Deutschland?
Zu den Ergebnissen der Terre-des-Hommes-Studie sagt Mitarbeiterin Antje Ruhman: „Das ist enorm viel und suggeriert eigentlich, dass auch die Arbeit neben der Schule in Deutschland ein deutlich stärkeres Phänomen ist, als man vermuten würde.“
Die Art der Verstöße, also in welchen Bereichen sie stattfinden und um welche Arbeitszeiten es geht, all das sei in der Öffentlichkeit ein blinder Fleck - ebenso wie illegale Formen wie Zwangsarbeit oder Kinderhandel zum Zwecke der Arbeitsausbeutung. Über solche Fälle berichtet das Bundeskriminalamt nur nach abgeschlossenen Ermittlungen.
Zudem würden viele Kinder, Eltern und auch das Schulpersonal die Bestimmungen des Jugendarbeitsschutzgesetzes gar nicht kennen, Verstöße nur selten gemeldet, sagt Ruhmann: „Gemeldet sind im Jahr knapp 60 Fälle. Wenn man die Zahlen betrachtet vor dem Hintergrund, dass wir rund 14 Millionen Kinder in Deutschland haben, kann man sich ausrechnen, dass die Dunkelziffer wahrscheinlich sehr hoch ist.“
Doch Kinder und Jugendliche, die in der Familie helfen, würden häufig auch Positives lernen, räumt Ruhmann ein. „Sie fühlen sich als tätiges Familienmitglied. Sie helfen, sie unterstützen ihre Eltern und vielleicht auch den Familienbetrieb. Sie lernen viele praktische Dinge, die auch für die Berufsvorbereitung hilfreich sein können.“
Antje Ruhmann ist überzeugt: Die Gesellschaft müsse über die verschiedenen Tätigkeiten von Kindern aufgeklärt und sensibilisiert werden. Mit Blick auf das Feld der Familieninfluencer fordert Terre des Hommes, dass das Jugendarbeitsschutzgesetz dringend reformiert werden müsse. Und auch das Deutsche Institut für Menschenrechte, das die Umsetzung der UN-Kinderrechtskonvention in Deutschland kritisch beobachtet, fordert, die gesetzliche Lücke national und international zu schließen.
Für eine kinderzentrierte Herangehensweise plädiert Manfred Liebel von Pronats. Die Meinungen und Ideen der Kinder selbst sollten – auch bei der notwendigen Reform des Jugendarbeitsschutzgesetzes - viel stärker berücksichtigt werden. Um für ihre Rechte einzutreten, müssten sie sich, wie in manchen südlichen Ländern längst geschehen, organisieren.
Wichtig seien zudem Beratungsstellen, wo sie ermutigt werden, sich im Konfliktfall zu wehren, betont der emeritierte Professor und Jugendsoziologe: „Man muss eine Form finden zu sagen: Im Prinzip sollte anerkannt werden, was Kinder tun. Das heißt, man muss auch positiv zur Arbeit von Kindern stehen und nicht sagen, das muss prinzipiell verboten werden. Dann muss man aber entsprechende Regelungen oder Einrichtungen schaffen.“
Welche Position nimmt die Bundesregierung zum Thema Kinderarbeit ein?
Eine Änderung des Jugendarbeitsschutzgesetzes hält das Bundesministerium für Arbeit und Soziales auf Nachfrage derzeit nicht für nötig. Mit Blick auf den Bereich Social Media sieht das Gesetz laut einer Sprecherin bereits Ausnahmen für die Mitwirkung von Kindern im Kultur- und Medienbereich vor.
Diese Regelungen vor allem zu Arbeitszeiten könnten doch „auch auf die Beschäftigung von Influencern im Kinder- und Jugendalter angewendet“ werden. „Inwieweit Kinder im Internet in Szene gesetzt werden, ist in erster Linie eine Entscheidung der Eltern. Sie tragen hier eine hohe Verantwortung. Inwieweit bei solchem Video- und Bildmaterial das Kindeswohl in Frage steht, ist insbesondere unter Jugendhilfegesichtspunkten zu beurteilen.“
Und damit laut BMAS Aufgabe der Jugendämter, also der Bundesländer und des Bundesministeriums für Familie, Senioren, Frauen und Jugend. Auf Nachfrage dort fühlt dieses Ministerium sich auch nicht zuständig.
(Isabel Fannrich-Lautenschläger, aha)