Sarah Zerback: Deutschland ist ein reiches Land mit armen Kindern. Etwa zwei Millionen von gar 4,4 Millionen Kindern, wir wollen es nicht übertreiben, diese Statistik, ist schon schlimm genug. So hat es nämlich der Kinderschutzbund ausgerechnet, so viele Kinder leben hierzulande in Armut. Besonders oft, wenn sie bei Alleinerziehenden groß werden. Und weil es davon in Berlin so viele wie sonst nirgendwo in Deutschland gibt, findet dort heute eine Demo statt organisiert von Müttern und Vätern, die fordern, Kinderarmut in Deutschland wirksam zu bekämpfen, unter dem Motto #esreichtfüralle. Ein Termin, den auch Dietmar Bartsch wahrnimmt, der Fraktionschef der Linken hat vor anderthalb Jahren ein Netzwerk gegründet von Fachleuten und Politikern, die sich gegen Kinderarmut in Deutschland engagieren. Und er ist jetzt am Telefon, guten Morgen, Herr Bartsch!
Dietmar Bartsch: Guten Morgen, ich grüße Sie!
Zerback: Scheinbar reicht es ja eben nicht für alle, anders als das Motto heute. Zumindest kommt bei vielen Kindern nichts an. Wie kann das sein in Deutschland?
Bartsch: Na, Sie stellen die Frage, die ich eigentlich gar nicht beantworten kann, weil das kann in Deutschland nicht sein. Die Praxis ist leider eine andere, Sie haben die Zahlen genannt. Der Kinderschutzbund spricht sogar von 4,4 Millionen Kindern in Armut. Und ich finde, das ist einer der größten Skandale, die wir in unserem Land haben, und da muss mehr getan werden. Ich glaube, dass wir da sogar eine gesellschaftliche Mehrheit haben, die das so sieht. Und ich finde es total toll, dass alleinerziehende Frauen, Mütter, aber auch andere hier die Initiative ergriffen haben. Und ihr Ziel ist ja, demonstrieren wollen, bis dieses Thema nicht mehr da ist.
Bartsch: In Deutschland wird Kinderarmut nicht als Problem wahrgenommen
Zerback: Ja, interessant, dass Sie das ansprechen, weil eine Demo wie heute, die gibt es ja gar nicht so oft. Und das, obwohl eben so viele Kinder abgehängt sind und Sie sagen, da gibt es viele, die das natürlich schockiert. Warum löst das so selten Empörung aus, die Menschen dann auch auf die Straße treibt?
Bartsch: Ich glaube, die Empörung ist relativ groß, ich merke das ja nicht nur, wenn man im Bundestag dieses Thema anspricht. Ich glaube, dass, wo immer man darüber redet, ist das etwas, was Empörung hervorruft. Es ist nur ein Punkt, der in Deutschland Standard ist, man denkt nur, wenn man über Kinderarmut redet, nicht an unser Land. Da denkt man an Kinder, die weit weg sind, die in Armut leben, in Bangladesch, in einigen afrikanischen Ländern. Aber dass es in Deutschland gang und gebe ist, mit verheerenden Auswirkungen – also, dass Kinder, die in Armut groß werden eine Lebenserwartung haben, die fast zehn Jahre geringer ist, dass das ganz konkrete Auswirkungen auf Einzelne hat, wenn es um die Klassenfahrt geht, wenn es um Essen geht und vieles andere, das ist nicht im Bewusstsein. Und wir haben darüber gesprochen, das Netzwerk gegen Kinderarmut, viele andere Initiativen wollen darauf aufmerksam machen und Druck machen, dass hier etwas passiert. Und ich bin froh, dass das auch bei Ihnen heute früh ein Thema ist und dass wir mit vielen, vielen anderen uns engagieren, dass das nicht so bleiben darf.
"Wir müssen dafür sorgen, dass diese Leistungen bei den Kindern ankommen"
Zerback: Nun kann man ja nicht sagen, dass die Bundesregierung nichts für Kinder und Familien tut, da gibt der Staat ja jedes Jahr Milliarden aus, 200 Milliarden Euro für mehr als 150 verschiedene Leistungen. Noch mehr, muss man sagen, geht doch fast gar nicht.
Bartsch: Na ja, das teile ich ausdrücklich nicht. Wissen Sie, wir haben Dinge, wo wir Geld ausgeben. Schauen Sie, wenn Sie über das Zwei-Prozent-Ziel Aufrüstung der Nato, also zwei Prozent vom Bruttoinlandsprodukt, reden, wird nie über die Frage des Geldes geredet. Es gibt zwei verschiedene Punkte. Das eine ist, dass wirklich Leistungen ankommen. Wir haben ja jetzt die Diskussion gehabt, das sogenannte Starke-Familien-Gesetz, Titel sehr gut. Da hat die Bundesregierung sich das Ziel gestellt, dass die Leistungen, die es gibt, von mehr als 30 Prozent – das ist ja im Moment die Realität, 30 Prozent der angebotenen Leistungen werden nur wahrgenommen, das heißt 70 Prozent der Angebote nicht. Da haben wir ein gemeinsames Problem, wir müssen dafür sorgen, dass diese Leistungen bei den Kindern ankommen. Und das Zweite ist, es gibt viel zu viele, die das eben nicht erhalten. Also Gott sei Dank ist das Thema angekommen. Im vorletzten Koalitionsvertrag gab es das Wort Kinderarmut nicht. Jetzt gibt es das, jetzt gibt es ein Stück weit Engagement, das ist gut so, aber wir sind noch lange nicht am Ende dessen, was notwendig ist.
Bartsch: Wir brauchen eine Kindergrundsicherung
Zerback: Herr Bartsch, lassen Sie mich nur ganz kurz nachreichen, da habe ich gerade vielleicht eine Sekunde zu lang gezögert: Also natürlich wird in Deutschland ja auch darüber geredet und auch gestritten, woher das Geld für Rüstung kommen soll und für das Zwei-Prozent-Ziel, also es ist ja nicht so, als würde da keiner fragen, woher kommt das eigentlich. Aber lassen Sie mich zu dem wichtigen Punkt kommen: Es gibt ja jetzt eben das Starke-Familien-Gesetz. Das wurde verabschiedet, das tritt zum 1. Juli in Kraft. Davon verspricht sich ja die Bundesfamilienministerin von der SPD ja eine ganze Menge. Warum jetzt so ungeduldig und nicht erst mal abwarten, dass das erst mal wirkt.
Bartsch: Ja, wissen Sie, dass es das gibt, ist ein Ergebnis auch des Engagements auch derjenigen, die heute zur Demonstration aufrufen, Punkt eins. Das Zweite ist: Ja, ich sage überhaupt nicht, dass das schlecht ist, es werden einige auch positive Dinge mit diesem Gesetz entschieden, aber insgesamt ist es nicht ausreichend. Der Chef des Kinderschutzbundes, Heinz Hilger, spricht, wie ich finde zurecht, von einem Starke-Bürokratie-Gesetz. Ich wiederhole das: Wenn nur 30 Prozent in Anspruch genommen werden und die Bundesregierung sage und schreibe diese Zahl auf 35 Prozent erhöhen will, dann ist das natürlich ein Witz. Das muss doch in die Richtung 100 Prozent erhöht werden. Ja, es ist gut, dass einige Dinge entbürokratisiert werden, es ist gut, dass die Leistungen nach Sozialgesetzbuch, die es zum Beispiel bei der Einschulung gibt, von 100 auf 150 Euro erhöht werden, gar keine Frage. Aber insgesamt ist das zu wenig.
Deswegen: Ich und viele andere fordern eine Kindergrundsicherung. Das Geld muss endlich bei den Kindern ankommen, weil wir können doch nicht akzeptieren, dass bei uns die Chancen schon bei Kindern, die noch nicht mal zur Schule gehen, schon unterschiedlich sind. Jedes Kind in unserem Land muss die gleichen Chancen haben, seine Fähigkeiten und Fertigkeiten zu entwickeln, das kann nicht abhängig sein vom Geldbeutel von Eltern, Großeltern oder anderen.
"Wenn andere Leistungen wegfallen, ist das alles inanzierbar"
Zerback: Ja, den Satz lasse ich Sie gern noch sagen, Entschuldigung für die Unterbrechung. Ich wollte nur fragen, wie hoch denn diese Kindergrundsicherung sein soll. Die will ja inzwischen auch die SPD, die CDU ist da noch nicht überzeugt. Was für einen Betrag stellen Sie sich da vor, Herr Bartsch?
Bartsch: Wenn das die Sozialdemokraten, auch die Grünen, wenn das viele Initiativen wollen, dann ist das erst mal gut. Und ich will nicht als allererstes über den Betrag streiten. Dass das ein Aufwand ist, der auch in Milliardenhöhe ist, ist unbestritten, da gehen die Meinungen auseinander, da gibt es Größenordnungen, die jenseits der 500 Euro sind. Aber wenn andere Leistungen wegfallen, ist das alles, ich will das ausdrücklich sagen, finanzierbar. Ich bin über viele Jahre Haushaltspolitiker gewesen und ich weiß, wie wir relativ schnell Beträge entscheiden, die ausgegeben werden. Unsere Kinder in unserem Land, und zwar jedes Kind, muss uns so viel wert sein, das können wir finanzieren. Und ich will nicht zulassen, als Erstes über die Frage zu reden, ja, was kostet das alles.
Ja, die Frage steht, die Frage ist völlig berechtigt, die ist lösbar angesichts der Situation, die wir aktuell haben. Wir haben jedes Jahr deutlich mehr Steuereinnahmen und deswegen muss die Kinderarmut eine höhere Priorität haben und deswegen ist es gut, dass heute demonstriert wird.
"Wir können uns nicht leisten, dass wir Kinder zurücklassen"
Zerback: Würden jetzt natürlich Haushaltspolitiker aus der Union, namentlich zum Beispiel Hans Michelbach, den hatten wir gestern hier bei uns zu einem anderen Thema im Interview, die würden Ihnen da widersprechen. Auch halt eben ein Haushaltspolitiker, der sagt, die Steuereinnahmen, die werden nämlich deutlich langsamer steigen als geplant, das ist ja in dieser Woche auch eine Nachricht. Und der sagt zum Beispiel, da müssen wir jetzt alles kürzen, was nicht mit Wachstum, Bildung, Sicherheit zu tun hat, und eben keine teuren Versprechen machen. Wie wollen Sie den überzeugen?
Bartsch: Den überzeuge ich damit, weil hier geht es um unsere Zukunft. Das hat mit Bildung und mit Wachstum zu tun, wir können uns nicht leisten, dass wir Kinder zurücklassen. Und ich will das auch wirklich noch mal gerne wiederholen und kann Ihnen ganz, ganz viele Beispiele sagen. Sie haben völlig zurecht darauf hingewiesen, die Steuereinnahmen steigen nicht mehr so schnell. Aber sie steigen weiter, wir werden auch im nächsten Jahr mehr haben, was zu verteilen ist. Das ist gut so, und da scheiden sich dann auch die Geister. Und ich sage ganz klar, wir brauchen nicht mehr zum Beispiel bei Rüstung, wir brauchen nicht mehr auf vielen Feldern, das ist leistbar. Und es ist gut, wenn auch andere sagen, unsere Kinder müssen uns mehr wert sein, wir wollen das und wir engagieren uns dort mehr.
Also, ich bin im Übrigen sogar ganz sicher, dass auch Herr Michelbach sagt, auch als Union wollen wir das nicht. Wir können gerne streiten, wie dann eine Kindergrundsicherung aussehen soll, aber wir müssen endlich dafür sorgen, dass wir dann eine große Steuerreform haben, die dazu führt, dass Alleinerziehende bei uns nicht diese Probleme haben. Das ist leistbar, das muss man politisch wollen, und dafür setze ich mich ein.
"Ich möchte, dass endlich die Frage der Superreichen und derjenigen Armut wieder thematisiert wird"
Zerback: Muss man politisch dann nicht aber auch wollen, mal die Sozialquote insgesamt auf den Prüfstand zu stellen? Also im Bundeshaushalt, da gibt es ja eine Sozialquote von 50 Prozent, die da an sozialen Leistungen rausgehen. 50 Prozent, das ist eine ganze Menge, dass man da vielleicht mal sagt, da muss man generell mal dran, und nicht immer nur draufsatteln, sondern gucken, was davon macht eigentlich Sinn und was auch nicht.
Bartsch: Das ist eine generelle Frage, ich bin gerne bereit darüber zu diskutieren. Wir haben leider eine Politik, die nachsorgend ist. Ich möchte, dass wir das genau nicht benötigen. Ich will, dass zum Beispiel, wenn wir diese Sozialleistungen nehmen, die Rente ist ein zentraler Punkt, ich möchte, dass wir Löhne haben, dass wir nicht in Größenordnungen dann bei der Rentenkasse bezuschussen müssen, auch das ist leistbar. Das ist allerdings eine noch andere Dimension. Also hier, glaube ich, ist die Frage, wie soll unser Sozialstaat aussehen, die zentrale.
Deswegen werbe ich für einen Sozialstaatsdialog, wo die Parteien, die dem Sozialstaatsgebot, was im Grundgesetz festgeschrieben ist, in besonderer Weise verpflichtet sind, dass die miteinander reden, wie können wir den Sozialstaat wiederherstellen. Denn wir haben, und das ist ja das Problem, wir haben auf der einen Seite immer mehr Vermögensmillionäre in unserem Land, sogar Milliardäre. Und deswegen, wir müssen dort etwas abholen, es kann nicht sein, dass leistungslos Milliardengewinne aus Aktienpaketen ausgeschüttet werden und auf der anderen Seite Kinder in Armut sind oder auch Rentner Flaschen sammeln – ich möchte nicht, dass Armut von Jungen gegen Alte ausgespielt wird. Ich möchte, dass endlich die Frage der Superreichen und derjenigen Armut wieder thematisiert wird, deshalb sehr gut, dass Frauen und Männer sich engagieren und das auf die Straße bringen.
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.
[*] Anmerkung der Redaktion: Bei diesem Bild im Text wurde eine fehlende Kennzeichnung als Symbolbild nachgetragen.