Die Dimension ist erschreckend: Mehr als jede fünfte Kind in Deutschland lebt in armen Verhältnissen, das heißt in einem Haushalt, der auf Hartz IV angewiesen ist oder aber weniger als 60 Prozent des Durchschnittseinkommens zur Verfügung hat. Die Bertelsmann-Stiftung hat die Zahlen heute in ihrer neuen Studie veröffentlicht. Das Resümee der Analyse: Die Kinderarmut in Deutschland sei eine unbearbeitete Großbaustelle. Im bundesweiten Durchschnitt hat sich keine grundlegende Verbesserung eingestellt.
Welche Auswirkungen das auf die Bildung und damit die Teilhabe an der Gesellschaft für die bald drei Millionen betroffenen Kinder und Jugendlichen hat, haben wir mit Ulrich Schneider besprochen, dem Hauptgeschäftsführer des Paritätischen Gesamtverbandes.
"Diese Kinderarmut ist hausgemacht"
Thekla Jahn: Herr Schneider, als Sie die neuen Zahlen gesehen haben, was ist Ihnen da sofort durch den Kopf geschossen?
Ulrich Schneider: Na ja, im Grunde genommen: Und ewig grüßt das Murmeltier. Das sind Zahlen, die kennen wir aus dem Vorjahr und dem Vor-Vorjahr im Prinzip, das ist das Traurige. Das sind Zahlen, die wirklich Jahr für Jahr wiederholen. Und immer wieder hören wir dann die politischen Sonntagsreden, jetzt wird aber angepackt, jetzt wird etwas getan. Im nächsten Jahr kommt schon wieder die nächste Katastrophenmeldung wie jetzt von Bertelsmann.
Das Problem in Deutschland ist, dass diese Kinderarmut hausgemacht ist. Wir sind ein ungeheuer reiches Land, mit über 3 Billionen Euro Inlandsprodukt bräuchten wir Armut nicht dulden, wir könnten sie beseitigen, aber es passiert nichts.
"Geld nicht weiter mit der Gießkanne verteilen"
Jahn: Die Bertelsmann-Stiftung hat bei ihrer Untersuchung auch gezeigt, dass es regionale Unterschiede in Deutschland gibt, was die Kinderarmut angeht. In Bayern zum Beispiel gibt es aktuell eine Kinderarmut von 6,3 Prozent. In den fünf ostdeutschen Bundesländern liegt die durchschnittliche Kinderarmut bei 16,9 Prozent, im Saarland sogar bei 19,1 und in Berlin bei 27 Prozent. Und Bremen ist der traurige Spitzenreiter mit 31,6 Prozent. Was wird das für Deutschland bedeuten, diese regionalen Unterschiede?
Schneider: Deutschland ist mittlerweile regional tief gespalten. Das ist nicht mehr der reine Ost-West-Unterschied, sondern das sind auch Flecken in Westdeutschland, wo noch wesentlich mehr Kinderarmut herrscht als in Ostdeutschland. Problemregion Nummer eins ist mittlerweile ganz klar das Ruhrgebiet. Es kommt nicht aus seinen Problemen des Strukturwandels heraus, es hat die größte Zunahme an Armut insgesamt und auch einen ungeheuer hohen Armutsstand.
Wir werden, wenn wir Armut bekämpfen wollen, Geld nicht weiter mit der Gießkanne verteilen können, sondern müssen auch schauen, was da regional passiert. Wenn zum Beispiel ein Haufen Geld ausgegeben wird für digitale Infrastruktur an Schulen, dann kann das nicht sein, dass der größte Batzen irgendwo am Tegernsee landet und Gelsenkirchen kaum was hilft. Aber so sind im Moment die Verteilungswirkungen, das heißt, auch hier müssen wir neu denken. Wir brauchen regionale Ausgleiche, wenn wir Armut in der Fläche besiegen wollen.
"So kann ein Kind keinen Lebensmut entwickeln"
Jahn: Welche Auswirkungen hat die Kinderarmut auf die Bildung, auf die Bildungschancen, auf damit auch auf ein gelingendes Leben, ein gelingendes Arbeitsleben, eine gelingende Teilhabe an der Gesellschaft?
Schneider: Deutschland ist durch das Armutsproblem von Kindern weit weg von Chancengerechtigkeit geschweige denn Chancengleichheit. Das Problem ist, dass die Kinder, die in Armut aufwachsen müssen, wesentlich schlechtere Bildungsmöglichkeiten mitbringen. Die Bertelsmann-Studie hat das gerade wieder deutlich gemacht: Den Kindern fehlt zu Hause häufig ein schlichter Rückzugsraum, wo man mal seine Ruhe hat, wo man seine Hausaufgaben in Ruhe machen kann. Diesen Kindern fehlt häufig die technische Ausstattung, die heute verlangt wird an Schulen, gerade an Oberschulen, wenn wir da an PCs denken etc. Gerade in der Coronazeit, wo es um Homeoffice ging, hat sich gezeigt, arme Kinder waren aufgrund ihrer materiellen Armut der Familien völlig abgehängt. Da war dann eben nur der alte, schrottreife PC, an dem drei Kinder ihre Schulsachen machen sollten und vielleicht noch ein Elternteil Heimarbeit machen sollte. So etwas kann nicht gelingen.
Wenn dann noch hinzukommt, was wir häufig bei armen Familien haben, dass hier ein Migrationshintergrund ist und die Eltern nicht besonders gut deutsch sprechen, dann ist einfach Schicht, dann ist die Unterstützungsmöglichkeit der Familien nicht mehr gegeben. Und dann haben diese Kinder die ganz, ganz schlechten Chancen, rein technisch.
Aber es kommt noch ein psychologischer Punkt dazu: Kinder müssen motiviert sein, um sich zu bilden. Sie müssen wissen, dass es sich lohnt, sie müssen Spaß daran haben. Und eine wesentliche Voraussetzung dafür ist, dass die Kinder wissen, sie gehören dazu zu dieser Gesellschaft. Aber diese Erfahrung machen sie nicht, wenn sie materiell bedingt nie mithalten können, nicht zum Kindergeburtstag gehen können, nicht ins Kino mitgehen können und so weiter, wenn sie einfach merken, wir sind anders, wir gehören nicht dazu.
Und das Zweite, was schlimm ist für arme Kinder: Sie bekommen sehr schnell mit, dass ihre Familienmitglieder ganz schlechte Perspektiven haben, dass sie sich vielleicht abrackern und trotzdem auf keinen grünen Zweig kommen oder immer wieder arbeitslos werden. Und so kann ein Kind keinen Lebensmut entwickeln. Und Kinder ohne Lebensmut lassen sich nicht bilden.
"Es passiert eigentlich nichts"
Jahn: In der Coronakrise hat sich durch den Lockdown und die Situation in den Familien noch einmal die Situation für arme Kinder verschärft. Weshalb funktionieren die vielen finanziellen Unterstützungsmaßnahmen nicht, warum haben die keine Auswirkungen wie gewünscht? Es gibt das Kindergeld, es gibt Kinderfreibeträge, es gibt Kinderzuschläge, Kinderregelsätze, Pauschalen des Bildungs- und Teilhabepakets. Warum greifen die nicht?
Schneider: Weil jede einzelne Maßnahme für sich halbherzig ist. Das ist das Gleiche, als würde ich ein Auto bauen und mich nicht so richtig entscheiden können, was ich da investieren will, und dann verzichte ich auf ein Rad und habe dann ein Auto mit drei Rädern. So funktioniert im Moment Bekämpfung von Kinderarmut.
Es kann nicht funktionieren, wenn ich zum Beispiel Regelsätze kreiere – das ist das womit ein Kind über den Monat gebracht werden soll – von vielleicht 300 Euro, das haut einfach nicht hin. Das weiß jeder, der Kinder hat. Es kann nicht funktionieren, wenn ich Schulleistungen übernehmen will, also finanzielle Leistungen, und dann für das ganze Schuljahr gerade mal 150 Euro ansetze, obwohl jeder weiß, Schule ist viel, viel teurer – gerade mit Rechner und was man da alles braucht.
Oder es kann beispielsweise überhaupt nicht funktionieren, wenn ich großspurig politisch Teilhabe für alle verspreche und den Kindern dann monatlich einen Gutschein von 15 Euro gebe für Klavierunterricht, für Sportunterricht, Vereinswesen und was sie alles davon bezahlen sollen. Das sind Nebelkerzen, das ist keine wirklich durchgreifende Politik. Und deswegen hat man immer den Eindruck, es wird wahnsinnig viel gemacht, aber passieren tut eigentlich nichts.
"Unterstützungssätze in Hartz IV erhöhen"
Jahn: Mit welchen Maßnahmen könnte man die Familien erreichen? Denn was Sie geschildert haben, ist ja nicht ein Problem der Kinder, sondern der Familien. Die Familien müssen zuerst erreicht werden, dann erreicht es auch die Kinder. Welche Maßnahmen könnten greifen?
Schneider: Erst mal müssen wir ganz schnell die Unterstützungssätze in Hartz IV so erhöhen, dass die Menschen angstfrei über den Monat kommen, das heißt diese 439 Euro für einen Erwachsenen, die jetzt diskutiert werden, greifen aus unserer Sicht gar nicht, das müssen über 600 Euro sein.
Das Zweite, was passieren muss, wir müssen den Eltern Chancen geben, wieder ihr Geld selber verdienen zu können. Wenn es der erste Arbeitsmarkt nicht richtet, müssen wir mehr öffentlich geförderte Beschäftigungen einrichten, damit alle Eltern die Chance haben, auch arbeiten zu gehen, wenn sie dieses wollen. Die meisten wollen das. Und wir müssen drittens wesentlich mehr tun für die Vereinbarkeit von Familie und Beruf.
"Wir brauchen immer mehr gut qualifizierte Menschen"
Jahn: Das sind Forderungen, die Sie nicht zum ersten Mal aufstellen. Warum geschieht denn in die Richtung nichts?
Schneider: Die Armen und auch die Kinder sind auf der Lobbyskala, so will ich es mal nennen, ganz unten. Das haben wir jetzt wieder beim Konjunkturprogramm gesehen, da werden 200 Milliarden verabschiedet und nicht ein Cent findet sich hier für Bezieher von Hartz IV. Manchmal habe ich wirklich den Eindruck, dass man wenig, im wahrsten Sinne des Wortes, übrig hat für arme Menschen, so traurig, wie das ist. Aber anders kann ich mir das langsam nicht mehr erklären.
Jahn: Aber der Effekt ist auf Dauer einer, der zu einer Art Erosion unserer Gesellschaft führt, wenn Kinder aktuell in Kinderarmut leben und dadurch auf Dauer in ihrem Leben nicht teilhaben können an der Gesellschaft, sind sie irgendwann ja auch nicht mehr Teil der Gesellschaft. Das führt zu einer Erosion.
Schneider: Ja, aber das ist ein relativ neuer Aspekt, der erst in den letzten Jahren so ist. Vorher hatten wir uns ja an Kinderarmut auch gewöhnt. Die armen Kinder waren die Kinder, die später auch mal die schlechte Ausbildung hatten und die man dann für Jobs brauchte, die kein anderer machen wollte. Diese Jobs nehmen aber jetzt technologisch bedingt ab. Wir brauchen immer mehr gut qualifizierte Menschen, das heißt damit bekommt ihre Aussage völlig starke Relevanz. Wir müssen jetzt was tun, das war in der Vergangenheit auch unter volkswirtschaftlichen Gesichtspunkten gar nicht so nötig. Im Moment ist es so, dass zwei Millionen Kinder, die bildungsmäßig, in Anführungszeichen, liegengelassen werden, ein Riesenproblem darstellen, was aber in den 60er- und 70er-Jahren noch nicht so der Punkt war.
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.