Ein mitreißender Erzählstil, enorme Fabulierkunst, ein fantasievoller Umgang mit Zeitgeschichte, psychologisch ernst zu nehmende Figurenzeichnung und eine spannende Dramaturgie - darin unterscheidet sich Jonathan Stroud nicht von den wenigen Großen im längst schon überstrapazierten Genre. Den feinen und gar nicht so kleinen Unterschied zu den bedeutenden Fantasyautoren der Gegenwart macht etwas anderes aus. Stroud hat nicht nur einen ausgeprägten Humor, er hat die Gabe, selbst die verrücktesten Geschöpfe mit einer ironischen Note zu versehen oder sie gar mit der Fähigkeit augenzwinkernder Selbstreflexion auszustatten. Das macht seine Geschichten auch für jene zu einem vergnüglichen Leseabenteuer, die sonst mit Fantasyliteratur wenig am Hut haben. Mehr noch als in den hoch differenzierten Welten der Bartimäus-Tetralogie werden im ersten Lockwood-Abenteuer besonders jüngere Leser ihre Freude haben. Geister, Monster und Werwölfe verfolgen den Autor schließlich seit Kindertagen.
"Ich war fünf oder sechs Jahre alt, als ich eines Nachts aus meinem Zimmer ging, nach links schaute und im Badezimmer einen Wolf entdeckte. Ich bekam einen Mordsschrecken, rannte die Treppe runter und wollte nicht mehr hoch. Als meine Eltern den Raum inspizierten, war da kein Wolf. Aber, ich hatte ihn gesehen!"
Jedenfalls brachten ihn die unheimlichen Begegnungen mit Wölfen und Werwölfen dazu, all seine Fantasieabenteuer niederzuschreiben, sobald er des Schreibens mächtig war.
"Meine Eltern entdeckten vor einiger Zeit auf dem Dachboden eine große Schachtel, in der all meine Geschichten und Bücher verstaut waren, die ich als kleiner Junge geschrieben habe."
In Strouds Fantasie scheinen die Geschöpfe der frühen Tage kräftig an ihrer Existenzsicherung gebastelt und sich in Parallelwelten eingenistet zu haben - Parallelwelten, die sich auf den ersten Blick gar nicht so sehr von der Wirklichkeit zu unterscheiden scheinen. Die Londoner Welt von Lockwood & Co - eine Jungdetektivagentur, die sich auf Geisteraustreibung spezialisiert hat - ist die neueste dieser Welten.
Der Ton macht das Buch lesenswert
"Zu den ersten Fällen, an denen ich bei Lockwood & Co. mitgearbeitet habe, möchte ich hier nicht viel sagen. Einerseits, weil die Opfer anonym bleiben sollen, andererseits, weil die Einzelheiten allzu grausig sind, aber vor allem, weil wir es tatsächlich fertiggebracht haben, diese Aufträge allesamt gründlich zu vermasseln."
Mit welcher Offenheit die gerade mal vierzehnjährige Lucy von ihrem außergewöhnlichen Berufsleben erzählt, das macht ihr so schnell keiner nach. Eigentlich müssten einem kritischen Leser die Haare zu Berge stehen, wenn er diese Göre reden hört: Das Graue Gespenst von Aldgate verfolgt. Eine Wesenheit namens "Knochenknirsch" nach einigen Todesfällen (!) unschädlich gemacht. Aber da ist er wieder, der Ton, der schon die Bartimäus-Geschichten so lesenswert gemacht hat: Als Leser ist man geneigt, die Sorgen von Jungdetektiven wie Lucy ernst zu nehmen, spürt aber gleichzeitig im Unterton der Erzählung - sofern man den Unterton hören will -, dass die jugendlichen Helden Grenzgänger zwischen der Wirklichkeit und der Welt der Illusionen sind. Das unterscheidet Strouds Geschichten von der absoluten Ernsthaftigkeit, mit der viele Fantasyautoren Gegenwelten, ohne Bezug zur Realwelt, aufbauen und sich inzwischen in einem Meer von Klischees verlieren.
"Als Fantasyautor bewege ich mich immer auf der Grenzlinie zwischen der Wirklichkeit und den Dingen, die nur in meinem Kopf herumspuken. Und ein Geist ist ein Kontaktvermittler zu dieser anderen Welt."
Die Geister toter Mitbürger machen Großbritannien zu schaffen
Strouds Glossar am Ende des Buches kommt so seriös daher, als wären Geistererscheinungen Verstorbener, womöglich Dahingemeuchelter, zweifelsohne Phänomene, die ins richtige Leben gehören, wie Geisternebel, Geistersieche, Geisterstarre, kriechende Grauen und - Gaben.
"Gaben - Die Fähigkeit, Geister zu sehen, zu hören oder auf andere Weise wahrzunehmen. Viele Kinder, wenn auch nicht alle, werden mit einem gewissen Ausmaß an übersinnlichen Gaben geboren. Diese Fähigkeit nimmt mit dem Älterwerden ab, kann in einigen Erwachsenen jedoch immer noch schlummern."
Wer als älterer Leser "übersinnlichen Gaben" als maßlos blühende Fantasie von Kindern im Zeitalter der Entdeckungen und Abenteuer begreift, kann dieses "Schlummern" der Gaben auch in sich entdecken. - Wer könnte es dann einem verstorbenen oder gar gemeuchelten Menschen verdenken, nach dem Tod über das verlorene Leben zu wehklagen? Solche Gedanken bringt Stroud - auch dank seiner kongenialen Übersetzer Katharina Orgaß und Gerald Jung - jungen wie älteren Lesern gleichermaßen nahe. Den Jüngeren eher mit abenteuerlichen Ereignissen, den Älteren mehr mit augenzwinkernder Betrachtung der Charaktere.
"Das perfekte Buch, das ich immer wieder zu schreiben versuche und es trotzdem nie so ganz gebacken kriege, ist ein Buch, das die jungen Leser in einem Atemzug durchlesen, weil sie diese Welt lieben und die Abenteuer, die sie dort miterleben können. Gleichzeitig haben an meinem perfekten Roman aber auch ältere Leser ihre Freude, weil sie die verschiedenen Ebenen der Ironie sehen, die die jungen noch nicht verstehen können."
Das Perfide, mit dem Jonathan Stroud nun in "Lockwood & Co" die Leser einfängt, ist eben jene selbstverständliche Art, wie er die junge Heldin von den Zuständen erzählen lässt. Seit Jahrzehnten wird Großbritannien von Erscheinungen der Geister toter Mitbürger heimgesucht.
Kinder, die von den Erwachsenen chronisch unterschätzt werden
"Das ist eine ganz normale Welt. Nur dass sich in ihr Geister wie eine Seuche ausbreiten. Mich interessiert, was das für Auswirkungen hat. Was passiert etwa, wenn Geister real und zum Problem werden? Was bedeutet das für die Gesellschaft? Wie reagieren die Menschen? Wie verkraften sie das? Irgendwie hat's mir richtig Spaß gemacht, diese Welt zu erfinden, die unserer so ähnlich ist. Mit eben diesem einen, großen Unterschied. Das fasziniert mich!"
Im Gewerbe der Geisteraustreibung wurstelt sich das Team mit dem überaus selbstbewussten Chef Anthony Lockwood, dem Nerd George und der sensiblen Lucy mehr schlecht als recht durch den Tag, oder besser: durch die Nacht. Macht und Einfluss haben die Großen im Geschäft, die von Erwachsenen geführt werden. Die jungen Agenten setzen sehr oft ihr Leben aufs Spiel, wenn sie mit Degen, Eisenketten, Eisenspänen, Plomben, Silbernetzen und Leuchtbomben bewaffnet den Geistern zu Leibe rücken.
Lucy, Anthony und George kriegen jedenfalls mächtigen Ärger, als sich hinter einer einfachen Geisteraustreibung der Fall eines mysteriösen, lang zurückliegenden Mordes auftut und plötzlich allerhöchste Kreise alarmiert sind. Von der Scotland Yard angegliederten Behörde zur Erforschung und Bekämpfung übersinnlicher Phänomene können sie dabei keine Unterstützung erwarten. - Der Leiter der Behörde:
"'Das ist eben die Konsequenz, wenn man seine Agentur nicht vorschriftsmäßig betreibt. Ohne Erwachsene! Ein Berater hätte sich darum gekümmert, dass die Sach- und Personenschäden möglichst gering bleiben. Aber Sie ...', er machte eine angewiderte Handbewegung. 'Sie sind bloß drei Kinder, die in einem Erwachsenenspiel mitmischen wollen!'"
Drei Kinder, die von den Erwachsenen chronisch unterschätzt werden - klar, dass die sympathischen Geisteraustreiber ständig in Fettnäpfchen treten, sich aber trotzdem nach spannender Berg- und Talfahrt der Wahrheit nähern. Kluge Leser haben vorsorglich ein Pentagramm aus Eisenspänen um den Lesesessel gestreut und folgen den Abenteuern mit steigender Pulsfrequenz. Nur in kurzen Verschnaufpausen fragen sie sich vielleicht, warum Fantasybücher immer so dick sein müssen.
"Oh, tut mir leid. Mein perfektes Buch hätte 200 Seiten. Immer wieder sage ich mir: Der nächste Roman wird kurz. Und immer wieder wird er länger. - Weil es die Verleger so wollen."
Jonathan Stroud: "Lockwood & Co - Die Seufzende Wendeltreppe" Aus dem Englischen von Katharina Orgaß und Gerald Jung, Cbj, München 2013, 416 Seiten, 18,99 Euro, ab zwölf Jahren