Jan Paul Schutten beginnt seine Geschichte der Evolution nicht mit dem Urknall und nicht mit dem Wunder Mensch. Sein erster Auftritt gilt dem Pantoffeltierchen.
"Bitte einen kurzen Applaus für das Pantoffeltierchen. Für wen? Das Pantoffeltierchen, ein Tier, das noch kleiner ist als der Punkt auf diesem i. Dieses kleine Pantoffeltierchen hat einen donnernden Applaus verdient, einfach, weil es lebt. Das ist eine größere Leistung als du denkst. Ich werde dir erzählen, warum."
Jan Paul Schutten: "Nur ein kleines Pantoffeltierchen ist so viel komplexer als ein Roboter - oder ein sehr komplizierter Roboter, und ein ganz einfaches Tierchen ist so viel mehr komplexiert."
Dabei kann das Pantoffeltierchen fast nichts, außer ein bisschen Brustschwimmen, Schmutzwasser trinken und wieder ausscheiden, sich teilen und vermehren. Aber – und das ist die Überraschung im ersten Kapitel – es kann etwas, was kein Superroboter jemals können wird: Das Pantoffeltierchen kann sterben. Und sterben kann nur, was lebt. Das klingt banal, ist aber genial umgesetzt.
"Warum lebt Jan Groß aus Dietz, aber seine Armbanduhr nicht? Sie existieren beide, und wenn man einen Felsblock von 16.000 Kilo auf sie wirft, funktionieren beide nicht mehr. Es muss also etwas geben, was Jan Groß aus Dietz lebendig macht und seine Uhr nicht."
Jan Groß aus Dietz spielt in dem Buch über die Evolution und über das Leben eine herausragende Rolle. Im niederländischen Original hat er sogar einen Platz im Titel erhalten: "Das Rätsel von allem was lebt und von den Stinkesocken von Jan Groß aus Diez"
Leider hat der Deutsche Verlag Jan Groß aus Dietz aus dem Titel genommen und stattdessen das gewichtige Wort "Evolution" nach vorne gestellt. Natürlich geht es in dem Buch um die Evolution. Es geht um den langen Weg vom winzigen Atom, vom Einzeller, vom Bakterium – bis hin zum Wunderwerk Mensch. Es geht um Charles Darwin und seine lange, mühselige Suche nach der Wahrheit über die Entwicklung der Arten. Es geht um den Kampf zwischen Kreationismus und Naturwissenschaft. Aber Jan Groß aus Dietz und seine Stinkesocken sind nicht nur Indiz für den Witz und die überraschenden Bilder, mit denen Autor und Illustratorin den schwierigsten wissenschaftlichen Fragen nähern. Sie stehen für zwei wichtige Erkenntnisse: Erstens: Das Leben ist ein Wunder.
"Du bist ein Wunder, das Pantoffeltierchen ist ein Wunder, und die Socken von Jan Groß aus Diez sind ein Wunder – na ja, nicht die Socken selbst, sondern die Bakterien, die darin leben. Denn alles, was lebt, ist ein Wunder. Denk mal nach: Kannst du aus etwas Totem etwas Lebendiges machen? Kannst du zum Beispiel eine lebendige Pflanze aus Legosteinen machen? Natürlich nicht. Atome sind genauso mausetot wie Legosteine und trotzdem wimmelt es schon seit Millionen von Jahren auf unserem Planeten von Leben, das aus diesen leblosen Atomen aufgebaut ist. Das ist doch ein Wunder?!"
Die zweite Erkenntnis, die Jan Groß aus Dietz in Wort und Bild verkörpert, ist diese: Die Evolution hat nicht dazu geführt, dass die Wesen, die jetzt leben, perfekt geworden wären.
"Viele Leute glauben, dass in Evolution alles besser wird, aber wenn man Jan Groß sieht, dann ist es ganz anders. Er hat einen riesen Bauch und er sieht nichts ohne eine Brille, so ich brauche ihn, zu erklären, dass nicht alles im Evolution immer besser wird."
Kunstvolle und witzige Bilder
Unter der Überschrift "Die Natur ist so schön, die muss sich ein Gott ausgedacht haben" listet der Autor ein paar besonders hässliche Auswüchse des irdischen Lebens auf. Zum Beispiel den Leberegel, der zunächst das Gehirn einer unschuldigen Ameise manipuliert und dann über sie in die Leber und ins Blut eines Schafes gelangt. Ameise und Schaf sterben, der Egel überlebt. Dem Kapitel über die grausamen oder einfach unnützen Seiten der Natur ist eine der preisgekrönten Illustrationen von Floor Rieder vorangestellt. Mit ihren überaus kunstvollen und teilweise sehr witzigen Bildern begleitet sie die Geschichten und erzählt sie weiter. Auf diesem Bild breitet Gott die Arme aus, setzt einen konzentrierten Blick auf und spricht: "Es werde – der Schluckauf!"
"Die Bilder sind sehr wichtig, und sie haben viele Informationen, das ich nicht schreiben kann und sie sind sehr witzig und humorvoll."
Schutten spricht das lesende Kind direkt an. Im laufenden Text, und auch in Kapitelüberschriften wie dieser:
"Wunder. Rätsel, Mysterien und Du"
Schutten: "Das ist ein Stilmittel, und ich nütze nicht nur "Du" aber auch "ich" und das hab ich niemals gemacht. So es ist ein sehr persönliches Buch. Wenn man über sich selbst liest ist es interessanter, es ist dicht bei, es ist persönlicher. Es gibt viele Mirakeln und Mysterien in unserem Körper und wenn man weiß, was alles passiert in unserem Körper, das ist so viel und so interessant - ja."
Das Kind wird auf diese Weise in das Zentrum der zu erzählenden Geschichte hineingenommen. Dadurch entsteht eine ständige Beziehung zwischen den unfassbar großen Ausdehnungen von Zeit und Raum oder den mikroskopisch kleinen Organismen - und dem eigenen Körper. Zwischendurch müssen die Leser sich auch durch biochemische Prozesse hindurcharbeiten, aber dabei helfen die leichte Sprache des Autors und die immer wieder überraschenden Illustrationen. An verschiedenen Stellen im Buch – besonders aber am Ende – macht der Autor noch ein großes und wichtiges Kapitel auf. Es ermutigt die Kinder, sich inmitten naturwissenschaftlicher Erkenntnisse auch die Frage nach Gott zu erlauben.
"Man kann durchaus zugleich an die Evolution und an Gott glauben. Wenn du dich mit der Frage herumschlägst, ob es Gott gibt, kannst du dich auf die Suche nach weiteren Informationen machen. Auf Seiten der Gläubigen und auf Seiten der Wissenschaftler. Vielleicht wird der Mensch durch die Evolution ja wirklich immer intelligenter. Und vielleicht ist unser Gehirn in der Zukunft endlich so weit entwickelt, dass es entdeckt, ob es einen Gott gibt oder nicht ..."
Mit diesem Ausblick auf eine ungewisse Zukunft endet das Buch über das Geheimnis des Lebens und die Stinkesocken von Jan Groß aus Diez. Das Buch beantwortet viele Fragen, lässt aber auch viele offen. Autor und Illustratorin wollen nicht möglichst viel Wissen vermitteln, sondern den Kindern die erstaunlichsten, die witzigsten, die skurrilsten Wunder der Schöpfung nahe bringen. Die Illustrationen machen das Buch zu einem Kunstwerk, und so gebührt – gleich nach dem Pantoffeltierchen – Jan Paul Schutten und Floor Rieder ein großer Applaus für ihr Buch "Evolution – oder Das Rätsel von allem, was lebt"